Radio ZuSa

Sonntag, 24. April 2011

Playlist # 57 vom 24.04.11 - IN THE NURSERY Special (1)

Die Sheffielder Zwillingsbrüder Klive und Nigel Humberstone zählen mit ihrer Band In The Nursery seit über 25 Jahren zu den musikalisch eigenständigsten Acts der Independent-Szene und haben sich mit ihren stimmungsvollen, atmosphärischen, zwischen Neoklassizismus, modernen Soundtrack-Klängen und organisch wirkenden Elektro-Arrangements mittlerweile auch einen respektablen Ruf als Komponisten von vor allem Stummfilm-Scores erspielt.
Nachdem die Zwillingsbrüder Klive und Nigel Humberstone bereits seit dem zarten Alter von 15 Jahren gemeinsam Musik gemacht hatten, wobei sie ihren frühen Enthusiasmus in Garagen und auf Schulfeten auslebten, zogen sie zum Studieren nach Sheffield und trafen dort mit Anthony Bennet zusammen, der sie in ihrem Bemühen unterstützte, ihre musikalischen Ambitionen stärker auszuformen.
1981 wurde In The Nursery mit der Idee gegründet, Musik mit dem Interesse für Psychologie, Kunst, Literatur und Film zu verbinden.
Das 83er Debüt-Mini-Album „When Cherished Dreams Come True“ bot noch ein unausgewogenes Konglomerat aus rauen Wave- und Punk-Rock-Klängen, wobei der Einsatz von Drums, Bass, Gitarre, Gesang und Military Drums noch sehr ungeschliffen und minimalistisch klang.
Doch schon auf der 1985 veröffentlichten EP „Temper“ haben In The Nursery den Großteil der akustischen Arrangements gegen elektronisches Instrumentarium eingetauscht, um vor allem filmmusikalische Stimmungen wie bei „Arm Me Audacity“, Industrial-Sounds und Streicherimitate zu erzeugen.
Es dauerte bis 1986, ehe ITN ihr Debütalbum "Twins" veröffentlichten, ein Album, das eine kuriose, aber erfrischende Mischung aus neoklassizistischen, Punk- und Rock-Elementen bot, krachige Bass- und Gitarrenriffs mit leisen Pianoklängen und vielschichtige Rhythmen mit facettenreichen Vocals verband. 
"Wenn ich zurückblicke, muss ich im Nachhinein zustimmen, dass da eine Menge an Einflüssen mitspielte. Wir haben ständig versucht, unsere Ideen zu einer originellen Ausdrucksform zu bringen", versucht Klive das eigenwillige Konglomerat an musikalischen Stilen zu erklären. "Kurz vor den Aufnahmen zu `Twins´ entschied sich Anthony, die Band zu verlassen und an seinen eigenen Ideen zu arbeiten, so dass wir erstmals die Möglichkeit hatten, die Freiheit zu genießen, als Brüder, als Zwillinge zusammenzuarbeiten. Ich erinnere mich, dass wir gerade die Hälfte der Songs geschrieben hatten, so dass viel von dem Album im Studio selbst entstanden ist. Die Unschuld und die Lust am Experimentieren ist auf dem Album dokumentiert."
Aber auch der für In The Nursery später so charakteristische Military-Percussion-Sound erfuhr hier bereits seine ersten markanten Ausprägungen.
"Wir haben die Military Snare Drums schon für unsere allerersten Aufnahmen benutzt", erzählt Klive. "Der anfängliche Reiz dabei wurde dadurch ausgelöst, dass eine in einem Second Hand-Laden zum Verkauf stand. Wir waren nie mit dem konventionellen Drum-Set-up zufrieden, also benutzten wir die stehende Snare Drums als Alternative. Ähnlich verhielt es sich mit den Pauken. Wir sahen den kraftvollen Effekt, den sie klassischer Musik verliehen, und wollten diesen mit unserer Musik verbinden, indem wir orchestrale Percussions in das Zentrum unserer Rhythmen stellten. Die klassischen Einflüsse hielten Einzug, als wir die Frustration bei dem Versuch verspürten, die Musik, die wir in unseren Köpfen hörten, allein mit Bass und Gitarre umzusetzen. Eines Tages legten wir uns ein Logan Streichermaschinenkeyboard zu - und die Möglichkeiten erschienen nun weitaus größer. Wir wurden ins digitale Sampling und die Möglichkeiten, authentische Sounds eines ganzen Orchesters mit dem Keyboard zu erzeugen, eingeführt, und die Aussichten waren grenzenlos!"
Das 87er Album "Stormhorse" präsentierte dann den voluminösen, überwiegend neoklassizistischen Orchestersound, den In The Nursery danach nur noch auszufeilen und zu akzentuieren brauchten, aber das Konzept, auf elektronischer Basis satte Streicherarrangements zu kreieren und sie mit dichten Percussionryhthmen zu verbinden, stand.
Mit der Sängerin Dolores Marguerite C. und dem Drummer Q. , zwei alten Freunden, vervollständigte sich nicht nur das Set-up, das über Jahre hinweg Bestand haben sollte, sondern wurde auch der Sound perfektioniert.
Nicht von ungefähr haben In The Nursery das Album als „original soundtrack to the film“ untertitelt, denn die oft rein instrumentalen Kompositionen waren mit den eindringlichen Harmonien und den gefühlvollen, mystisch-sinfonischen Arrangements aus satten Streichern, vielschichtigen Percussions und sanft wogenden Keyboard-Sequenzen von subtiler Imaginationskraft gezeichnet.
Obwohl In The Nursery mittlerweile gerade auf Grund ihrer Stummfilmneuvertonungen gerne in das Filmmusikgenre abgelegt werden, steht doch nach wie vor der rein atmosphärisch dichte und so assoziative Charakter ihrer Musik im Vordergrund.
„Der wichtigste Grund für uns, Musik zu machen, ist es nicht, Soundtrack-Scores zu schreiben“, wehrt sich auch Klive. „Ich denke, der Musikstil, der uns am meisten inspiriert, ist das Filmscore-Genre, weil es eine Vielzahl von Emotionen umfasst und perfekt ist, um Atmosphären auszudrücken, die von epischer Pracht bis zum traurigsten und romantischsten Moment reichen. Musik stellt für uns eine Sprache zur Beschreibung unserer Gefühle dar, um solche Momente festzuhalten, die uns Tag für Tag berühren.“
Mit dem Motto von "Stormhorse" - "Man has to believe in myths. Like wisdom, myths foretell the destiny of man." - wurde zudem deutlich, in welchen Rahmen ITN ihre musikalischen Ideen stellen. "Mythologie ist ein Mittel zur Kommunikation", meint Klive. "Geschichten werden über Jahre hinweg erzählt; sie erinnern uns auch an die Kraft, die wir alle besitzen: die Fähigkeit des Verstandes, sich Erinnerungen zurückzurufen. Einbildungskraft ist die größte menschliche Gabe, die wir besitzen, und Musik kann ein Kanal für diese Vorstellungen sein."
Mit dem 88er Album "Köda" legten ITN ein fast schon sinfonisches Konzeptalbum vor, wobei die Intensität, mit der die Band ihre Emotionen musikalisch umsetzte, ihr bald das Image von Neo-Romantikern einbrachte, obwohl Klive wenig mit dieser Etikettierung anfangen kann: "Der Ausdruck  'Neo-Romantiker' hat uns verblüfft, auch wenn  wir mit unserer Musik höhere Gefühlsebenen erreichen wollen. Sicher weist viel von unserem Material eine zeitlose Qualität auf, die die Erfahrungen und das Streben der frühen romantischen Poeten reflektiert. Aber der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die Gründe für uns, Musik zu machen, nicht für sich beanspruchen, eine gottähnliche Erfüllung zu leisten, sondern allein, die Seele zu erfreuen."
Mit ihren Folgealben "L´ Esprit" (1990) und "Sense" (1991) vervollkommnten In The Nursery ihren Weg zu feinfühligen klassischen Inhalten und Ausdrucksformen mit sorgfältig inszenierter atmosphärischer Dichte.
"Unsere Musik ist momentan wie ein Filmsoundtrack angelegt, deshalb klingt sie so klassisch. Denk nur an die vielen Filmmusiken mit Streichern. Wir wollten immer 'independent music' im eigentlichen Sinne machen und darin wollten wir klassische Elemente so gut wie möglich miteinbeziehen", meint Klive. "Ein Orchester kann  eine  Sinfonie von vielleicht über vierzig Minuten einspielen, wobei sie in drei oder vier Abschnitte eingeteilt wird. Diese Leidenschaft, diese emotionale Intensität wollten wir auch in unsere Musik übertragen.
Wir schreiben allerdings keine Sinfonien, sondern nur kurze Stücke."
Obwohl In The Nurserys Musik viel von einem Orchestersound hat, kommt die Band nicht ganz ohne Elektronik aus. Nigel erläutert, wie Technologie und originale Instrumente bei In The Nursery zusammenwirken: "Wir benutzen die Technologie, um exakt das auszudrücken, was wir empfinden. Natürlich würden wir lieber mit einem Orchester arbeiten, aber unsere finanziellen Mittel sind leider begrenzt. Mit Samples ist man keinerlei Beschränkungen unterworfen und es lässt sich live besser reproduzieren."
Ihr Album "Sense" wurde mit einem langen Untertitel versehen: "To cure the soul by means of the senses and the senses by means of the soul".
"Wir wollen damit ausdrücken, was mit einem passiert, wenn man Musik  macht und der Musik von anderen Leuten zuhört. Es ist ein plötzliches Gefühl von Freude, das einen dabei durchströmt. Um sich richtig wohlzufühlen, braucht man Eindrücke von außen, das, was man mit Fingern, Augen, Mund und Ohren aufnimmt. Bei uns steht das Hören von Musik natürlich im Vordergrund, aber darüber hinaus sind auch die Imaginationen gemeint, die damit einhergehen."
Nachdem In The Nursery mit ihren Studio-Alben ihre Qualitäten in dieser Hinsicht weitreichend unter Beweis gestellt hatten, bekamen sie 1993 tatsächlich den Auftrag, mit „An Ambush Of Ghosts“ den Soundtrack zu einem Film von Everett Lewis mit Stephen Dorff, Genevieve Bujold, Anne Heche und David Arquette in den Hauptrollen zu komponieren. Das Psycho-Drama, in dem ein Teenager versucht, die Ermordung seines Bruder durch seine Mutter, bei der er Zeuge gewesen ist, zu verarbeiten und weiterhin den Familiensegen zu wahren, unterlegten die beiden Zwillingsbrüder mit einem elegisch-melancholischen Score, der erstmals ausgiebig von der Oboe Gebrauch machte, die bis heute zu den beliebtesten Akustik-Instrumenten der Band zählt. Für In The Nursery ging mit diesem Soundtrack auf jeden Fall ein lang gehegter Traum in Erfüllung.

„Ich denke, die größte Herausforderung und Spannung lag für uns darin, Musik zu komponieren, die mit realen Bildern funktionieren musste und nicht mit denen unserer Vorstellung“, meint Nigel. „Ich glaube, wir hatten wirklich Glück, mit ‚An Ambush Of Ghost‘ unseren ersten Filmscore komponieren zu dürfen – der Film ist ein intensives und tiefes psychologisches Drama, das viele Aspekte und Eigenheiten reflektiert, die in unserer Musik evident ist.
Als wir den Film gesehen hatten, war es offensichtlich, dass unsere Musik perfekt dazu passte, und wir mussten uns keine Sorgen machen, irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen. Der Regisseur hatte sehr präzise Ideen, wie der Film fotografiert werden sollte. Er wollte nur natürliches Licht verwenden und beschrieb Szenen, die, obwohl sie im modernen Los Angeles spielten, den malerischen Gebrauch von Licht und Schatten wie in den Werken Caravaggios herauf beschworen. Ein ähnlicher Stil wurde in den musikalischen Score eingebettet, indem die Gefühle von intensiver persönlicher Angst der Hauptdarsteller ausgedrückt wurden.“
"Für den Soundtrack arbeiteten wir größtenteils in der gleichen Weise, wie wir das sonst auch tun. Diesmal hatten wir nur den zusätzlichen Vorteil, mit einem bestimmten Bild zu arbeiten", erzählt Klive. "Die definitive Version des Films wurde uns auf Video zugeschickt, und wir mussten ihn auf die Musik in unserem Studio abstimmen. Vorher hatten wir Everett Lewis in Los Angeles besucht und besprachen mit ihm verschiedene Szenen durch, welche Stimmungen dazu benötigt wurden. Für uns war es ein frisches Herangehen, aber uns war der Umstand behilflich, dass Everett einen Film gemacht hatte, der quasi auf unseren Musikstil zugeschnitten war."
Den tanzbarsten Titel des Soundtracks, der neben neuem Material auch remixte Songs vom "Sense"- und "Duality"-Album enthielt, wurde als Maxi ausgekoppelt: "Hallucinations?" reflektiert schon thematisch den emotionalen Charakter des Films, musikalisch präsentieren sich ITN allerdings auf ungewohnt leichtfüßig-tanzbare Weise.
1994 erschien mit "Anatomy Of A Poet" ein musikalisch wie thematisch sehr in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk: "Das Konzept beruht auf der selbstzerstörerischen Natur von kreativen Künstlern. Mit dem Album versuchen wir die vielseitigen Aspekte von Künstlern, seien sie Poeten, Komponisten oder Schriftsteller, zu analysieren. Wir haben den Schriftsteller Colin Wilson zuhause in Cornwall besucht und ihn dabei aufgenommen, wie er einige seiner Lieblingspoesie rezitiert: Dowson, Yeats, Wilde und Byron. Die Rezitationen von romantischer Poesie sind besonders relevant für uns; sie verstärken eine Menge der Themen, die wir versuchen auszudrücken. Zum ersten Mal haben wir ein Konzept für unser Album formuliert und geplant."
Seitdem haben In The Nursery neben ihren immer öfter konzeptionell angelegten Werken wie „Anatomy of a Poet“, „Deco“ und „Lingua“ neue Filmmusiken gerade für expressionistische Stummfilmklassiker der 20er Jahre komponiert. Ihre erste Fingerübung war 1996 Robert Wienes „Das Cabinett des Dr. Caligari“.
Das Metro Cinema in Derby, einer ca. 50 km südlich von Sheffield liegenden Stadt, beauftragte Klive und Nigel, zu einer einmaligen Vorführung des 1919 inszenierten expressionistischen Stummfilmklassikers eine moderne Musik zu komponieren. Nicht nur die Geschichte über den bösen Rummelplatz-Magier Dr. Caligari, der den schlafwandelnden Cesare beauftragt, nachts Leute umzubringen, musste die beiden Musiker faszinieren, auch der Umstand, dass der Film erstmals die Möglichkeit des Mediums aufzeigte, entgegen des melodramatischen Realismus zu jener Zeit eine total subjektiv eingefärbte Welt zu kreieren. Die besondere Herausforderung musste für In The Nursery natürlich vor allem darin bestehen, einem Klassiker der Filmgeschichte, der vor allem das Horror- und Fantasy-Genre nachhaltig beeinflussen sollte und bislang sehr gut ohne musikalische Untermalung auskam, das adäquate musikalische Ambiente zu verleihen, das zwar auf seine Weise modern klingen sollte, aber nicht die dem Film eigene Faszination unterlaufen durfte.
„Zu ‚Caligari‘ wurde zu jener Zeit nie ein Score komponiert. Die Produzenten haben nur empfohlen, verschiedene Musikstücke dazu zu spielen, z.B. von Stravinsky und Schönberg. Wir haben uns mit dem Film und seiner Geschichte beschäftigt, und er war ziemlich revolutionär zu seiner Zeit, aber wir wollten uns nicht zu sehr in die musikalische Seite vertiefen, einfach weil wir ihm eine moderne Interpretation verleihen wollten, indem wir hypnotisches Summen und unterschwellige Sachen benutzten. Wir haben nicht viele orchestrale Sounds verwendet, stattdessen ist die Musik eher ambient und fast industrial, weil uns der Film diese Atmosphäre vermittelte“, erklärt Nigel. 
Tatsächlich ist der einstündige Soundtrack ein ungewöhnlich ruhiges ITN-Werk, selten rhythmisch, dafür gefühlvoll und sehr intensiv im schwebenden Ambiente von halluzinativen Synthi-Arrangements und expressiv-eindringlichen Sound-Collagen. Die beiden Musiker waren von ihrer Arbeit derart positiv überrascht, dass sie sich entschieden, den Soundtrack auch zu veröffentlichen und mit „Optical Music Series“ gleich eine Reihe auf ihrem Label zu gründen, die für die weiteren Filmprojekte von In The Nursery reserviert ist. Die Art und Weise, wie Klive und Nigel die Musik zum Film geschrieben haben, erklärt letzterer wie folgt:
„In Stummfilmen müssen die Emotionen und Intentionen durch das Handeln der Schauspieler transportiert werden. Das muss man in der Musik reflektieren. Wir mussten die Emotionen und den Handlungsablauf berücksichtigen, indem wir z.B. wiederkehrende Themen und Texturen verwendeten, die die Charaktere repräsentierten. Das wird auch in modernen Filmen gemacht, aber in Stummfilmen ist es offensichtlicher. Wir arbeiteten mit einer Video-Roh-Kopie, stellten uns einen Monitor in unser Studio und spielten zu den Szenen. Die aufgenommenen Stücke wurden dann zu einem zusammenhängenden Score zusammengesetzt. Mit einem Macintosh-Computer und Logic Audio Software wurde die Musik ‚fein abgestimmt‘.“
Dass sich der Score zu „The Cabinet of Doctor Caligari“ musikalisch an das ITN-Nebenprojekt Les Jumeaux anschließt, kommt dabei nicht von ungefähr.
„Wir haben mit der Arbeit an dem Score damit begonnen, dass wir einige Stücke von unserem Les-Jumeaux-Projekt verwendeten“, klärt Nigel auf. „Der Stil der Musik war eigentlich ideal dafür, benötigte nur einige Veränderungen und Neu-Arrangements. Überwiegend haben wir viele unterschwellige und hypnotische Sound-Texturen benutzt, wobei wir besonderen Gebrauch von der Modulation sowie wiederkehrenden Themen und Motiven machten. Die gesamte Atmosphäre des Films ist dunkel, aber mit traurigen Untertönen, die wir ebenso berücksichtigen mussten.“

Playlist:
1 In The Nursery - Arm Me Audacity (Counterpoint) - 03:40
2 In The Nursery - Portamento (Stormhorse) - 04:54
3 In The Nursery - Ascent (Köda) - 07:06
4 In The Nursery - L'Esprit (L'Esprit) - 03:46
5 In The Nursery - Seraphic (Scatter) - 04:26
6 In The Nursery - Blue Religion (Sense) - 04:23
7 In The Nursery - Corruption (Duality) - 04:58
8 In The Nursery - Hallucinations? (An Ambush Of Ghosts) - 03:11
9 In The Nursery - Paper Desert (An Anatomy Of A Poet) - 05:09
10 In The Nursery - Caprice (Deco) - 05:03
11 Les Jumeaux - Cuflo (Feathercut) - 05:09
12 In The Nursery - Crepuscule (Blind Sound) - 04:21

Playlist # 57 vom 24.04.11 - IN THE NURSERY Special (2)

Mit „Lingua“ präsentieren ITN 1998 ein außergewöhnliches Konzeptalbum, das einmal mehr von unwiderstehlichen Melodien und visuell anregenden Klang-Atmosphären geprägt ist. Doch obwohl die wundervoll leicht schwebenden Tracks überwiegend rein instrumentaler Natur sind, haben Klive und Nigel die Sprache in den thematischen Mittelpunkt des Werkes gestellt.

„Während unserer Karriere haben wir verschiedene Sprachen innerhalb der Musik von ITN in früheren Aufnahmen benutzt, vor allem Französisch, aber auch Italienisch ('Epigraph'), Mandarin ('Shin Tiao' mit Les Jumeaux) und etwas Japanisch ('Blind Me') und Deutsch ('And Your Eyes')“, erklärt Nigel. „Es ist schwierig zu sagen, wann genau die Idee entstand, aber ich kann mich noch genau erinnern, dass ich über das Konzept kurz nach Beendigung des 'Deco'-Albums nachgedacht habe. Von dem Augenblick an begann die Bedeutung und der Ansatz für das Album 'Lingua' zu wachsen, indem einige Ideen eingefügt und andere ignoriert wurden. Aber es ist schwierig, seine Aktionen zu analysieren, weil wir immer instinktiv gehandelt haben und das taten, was wir für richtig hielten.
Ich nehme an, ein Aspekt, den ich herausstellen wollte, war die enorme Bedeutung der Sprache und ihre Wichtigkeit in unserer Entwicklung, sowohl als Menschen als auch als Individuen, egal aus welchem Teil der Welt. Dabei sollte deutlich werden, dass die universale und globale Sprache der Musik eine der größten Ausdrucks- und Kommunikationsformen ist.“
Wie immer haben In The Nursery ihrem Album ein Motto („language makes thought possible, for language is thought“) vorangestellt, das dem Hörer schon vor dem Eintauchen in das akustische Universum, das In The Nursery stets eindrucksvoll zu kreieren wissen, eine Ahnung von dem vermittelt, vor welchem geistigen Hintergrund die Musik entstanden ist. 
„Die Integration einer kurzen Phrase ist ein wenig zur Tradition bei In The Nursery geworden und reicht bis zur 84er Single 'Witness (to a scream)' zurück, wurde aber erst seit dem 87er Album 'Stormhorse' mit 'Man has to believe in myths. Like wisdom, myths foretell the destiny of man' eingesetzt“, erläutert Nigel.
„Als ich die Entscheidung verfolgte, ein Album zusammenzustellen, das sich um die Sprache dreht, begann ich eine Menge Bücher zu lesen und zu studieren, die die Geschichte, Entwicklung, Phonetik und Semantik der Sprache behandelten. Eine der interessantesten theoretischen Debatten dreht sich dabei um die Ursprünge der Sprache an sich und ihrer Fähigkeit, Gedanken zu kommunizieren.“
Nachdem das theoretische Gerüst manifestiert war, machte man sich an seine musikalische Untermauerung. Es ging dabei für In The Nursery nicht darum, die gewohnt instrumentalen Kompositionen zwanghaft mit Texten zu versehen, sondern die Sprache als Inspiration für die eigene Musik zu verwenden. Dabei bedienten sich Klive und Nigel verschiedener Ansätze. So komponierten sie beispielsweise die Musik für „I Ask for Grace“ und „The Living Tongue“, bevor sie dann Tapes integrierten, die sie von Freunden aus Mexico City erhalten haben. Für „The Living Tongue“ verarbeitete man Texte aus dem „Popul Vuh“, einem der ältesten Schriftdokumente. Auch für „Poema“ und „Mute Harmony“ schrieb man erst die Musik, hatte aber bereits die Texte im Hinterkopf und arbeitete sie mit Dolores Marguerite C. zusammen aus.
Dagegen dienten bei „Shonen No Hi“ und „Biello Dumlo“ die vorliegenden Texte als Basis für die musikalische Umsetzung. Im Falle von „Biello Dumlo“ bekamen ITN ein Tape von einem italienischen Radio-DJ, der in seiner Sendung die alte Friulan-Sprache lebendig hält und quasi als Dokument einen Text namens "Biello Dumlo Di Valor“ in dieser Sprache rezitierte. Ähnlich verhielt es sich bei „Shonen No Hi“, einem japanischen Gedicht von Haruo Satou, das die ebenfalls japanische Band Beata Beatrix vertont hatte. Deren Sänger Tomoyasu, selbst ein großer Fan von ITN, schickte dem Duo ein Tape mit den extrahierten Vocals, zu denen die Band die passende Musik komponierte.
„Als wir erst einmal festgesetzt hatten, welchen Stil die Musik haben würde, begannen wir, die Instrumentation hinzuzufügen und herabzusetzen, bis beides auf natürliche Weise ineinander überging“, erklärt Klive die Arbeitsweise bei diesem Stück. „Die Poesie der Stimme wird hoffentlich in dem lyrischen Gebrauch der Oboe-Refrains reflektiert.“
„Die Leute fragen uns oft, warum wir nicht öfter auf unseren Platten singen, wie wir es bei unseren früheren Aufnahmen gemacht haben, aber wir haben realisiert, dass wir keine Texter sind und unsere Stärke in der Musik liegt “, wirft Nigel ein. „Wir schreiben, produzieren, arrangieren und mischen nun schon all unsere Musik, da wollen wir unsere Fähigkeiten nicht überstrapazieren.“
Zufälligerweise sind es einmal mehr ausgerechnet zwei Instrumentals, die den nachhaltigsten Eindruck beim Hörer hinterlassen - zum einen das kraftvolle, dynamisch sich steigernde „Salient“, zum anderen „Profundus“, das nicht nur auf einem Zitat von D.H. Lawrence basiert („They say that the sea is cold, but the sea contains the warmest blood of all“), sondern zu dessen musikalischen Illustration etwas wie Walgesänge in die Musik integriert hat.
„Die Sounds mögen sich wie Samples von Walgesängen anhören, doch es wurden wirklich keine benutzt“, meint Nigel.
"Eigentlich waren es die analogen Sounds im Track, die uns auf die Idee mit der Wal-Verbindung brachten, und als wir die Flötenparts für das Album aufnahmen, baten wir den Flöten-Spieler, Wal-Sounds mit einer Auswahl von verschiedenen Flöten (Bass-, Konzert- und Alt-Flöte) zu improvisieren. Diese Sounds sind unsere Interpretation der mysteriösen ozeanischen Klangwelt.“
Neben diesen fast mystisch anmutenden Klängen besteht „Lingua“ aus überwiegend leicht melancholischen, doch erhaben wirkenden Kompositionen, die ein intensives Eintauchen in die Klangkosmen des kreativen Duos nur erleichtern. Dabei legen es In The Nursery nicht darauf an, traurige Musik zu kreieren. Ganz im Gegenteil.
„Wir setzen uns nie hin und wollen melancholische Musik schreiben, aber ich denke, um emotionale Musik zu kreieren, benötigt man herzfühlende Elemente“, erklärt Nigel. „Emotionen können Tränen hervorrufen, aber nicht immer Tränen der Traurigkeit, und ich denke, unsere Musik als traurig zu bezeichnen, wäre irreführend. Sie soll aufbauend und positiv sein - reflexiv, ja, aber auch auf realistische Weise optimistisch.“
Mit „Lingua“ ist den beiden Humberstone-Zwillingen jedenfalls eines dieser großen Würfe gelungen, die den Hörer sofort gefangen nehmen, ihn auf eine Reise entführen, deren Stationen durch In The Nursery nur vorgezeichnet sind. Letztlich sind es die Imaginationskräfte des Hörers, die der wunderbaren Reise Konturen verleihen, die aus skizzenhaften Tagträumen bildgewaltige Impressionen gedeihen lassen. Gerade dieser Fähigkeit haben es Klive und Nigel zu verdanken, dass ihre Musik immer öfter dort zum Einsatz kommt, wo sich visuelle Einbildungskraft und Musik ganz nahe sind, im Kino. Offensichtlich wurden die ohnehin schon stark ausgeprägten Fertigkeiten der beiden Musiker durch ihre Auftragsarbeiten für Stummfilmvertonungen noch weiter sensibilisiert. Jedenfalls präsentierten sich ITN mit „Lingua“ auf der Höhe ihrer Schaffenskraft.
„Durch unsere Arbeit an den 'Optical Music Score' in den letzten zwei Jahren haben wir viel über die Verknüpfung von Musik und Bildern gelernt“, meint Klive. „Unsere Arbeit zu 'Asphalt' hat uns viel darüber gelehrt, wie man die richtige musikalische Sequenz wählt, um die beste Intention jeder Szene zu vermitteln. Bei 'Lingua' waren wir in der Lage, so ziemlich auf die Art und Weise zu schreiben, wie wir immer Musik gemacht haben - nur mit unserer Imagination als Regel für den kompositorischen Stil. Allerdings hatten wir diesmal den Vorteil, diese exquisiten und einzigartigen Vocal-Beiträge zu besitzen, die wir unserer Sound-Sammlung hinzufügen konnten.“
Ein Jahr später widmeten sich In The Nursery wieder einem Stummfilm, dem 1929 vom russischen Regisseur Vertov inszenierten Film “Man With A Movie Camera”.
Im Gegensatz zu ihren regulären ITN-Werken, die oftmals von der bombastischen Wucht kraftvoller Percussion-Arrangements und neoklassizistischen Klängen leben, weist der 65minütige Score diesem russischen Filmklassiker eine geradezu fragile Intimität auf, die nur zum Teil auf dem Verzicht von vordergründigen Percussion-Rhythmen basiert. Es sind vor allem die wundervoll ausgearbeiteten Melodien, die mit sanft schwebenden Keyboard-Sphären-Klängen, warmen Flöten und unaufdringlichen Streichern arrangiert worden sind. Dabei drängte sich der russische Film zunächst nicht unbedingt auf, um die Nachfolge der beiden deutschen Filme, die In The Nursery mit neuer Musik untermalt haben, anzutreten.
“Um einen Nachfolger für unseren Score zum wiederentdeckten deutschen Stummfilm 'Asphalt' zu finden, standen uns verschiedene Optionen zur Verfügung, darunter 'Nosferatu', 'Metropolis' und 'Variete'. 'Variete' mit Emil Jannings in der Hauptrolle ist großartig, aber stilistisch 'Asphalt' zu sehr ähnlich, während 'Metropolis' schon so oft gescored wurde, dass wir es für weise hielten, etwas anderes zu nehmen - obwohl Giorgio Moroders Score ein exzellenter Grund wäre, frühere Versuche zu korrigieren”, erklärt Nigel. “Es wurde auch in Erwägung gezogen, nicht noch einen weiteren deutschen Film zu nehmen - auch wenn es aufgrund unserer bisherigen Entscheidungen offensichtlich ist, dass wir große Fans des deutschen Kinos sind -, weil wir das Spektrum der Optical Music Series erweitern wollten.
Nach verschiedenen Überlegungen wurden wir letztes Jahr vom Bradford Museum of Film, Photography and TV gefragt, ob wir nicht einen neuen Score für den 70. Geburtstag der Aufführung von 'Man With A Movie Camera' beim 5. Bradford Film Festival im März schreiben wollten.”
Obwohl In The Nursery mit “An Ambush Of Ghosts” auch schon einen modernen Tonfilm mit ihrer Musik versorgt haben und sie mit ihren Songs in den Kinotrailern zu “Interview With The Vampire”, “The Sweet Hereafter” und “The Rainmaker” zu hören sind, scheint ihnen der Stummfilm besonders zu liegen.
“Musik für Stummfilme zu komponieren, ist eine spezielle Disziplin und erfordert deshalb einen anderen Ansatz als Filme, die Erzählstrukturen, Stimmungen und Soundeffekte besitzen. Wir bevorzugen es, an Projekten zu arbeiten, bei denen wir das Gefühl haben, dass wir ihnen unseren Charakter aufdrücken können, statt Scores zu komponieren, die im Prinzip zu jedem oder tatsächlich zu niemandem passen.”
Was In The Nursery an dem Film “Man With A Movie Camera” vor allem faszinierte, war sein natürliches Tempo und sein Fluss.
'Man With A Movie Camera' ist eine kaleidoskopartige Städte-Symphonie, die das Bombardement der Sinne im Leben des 20. Jahrhunderts zelebriert”, erläutert Nigel.
“Es ist auch ein Experiment, visuelle Phänomene ohne Hilfe von Titeln, Szenarien oder Theater zu vermitteln. Vertov nahm mit der Unterstützung seines Kameramanns - und Bruders - die Moskauer Leute bei der Arbeit, Erholung und beim Spiel auf, und zwar über den Zeitraum von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Das Ergebnis ist eine kraftvolle Roller-Coaster-Reise durch das sowjetische Leben zu jener Zeit - und das mit Kameraeffekten, Tricks und Schnitten, die erstaunlich für jene Zeit gewesen sind. Wie auch immer, für mich besteht die Essenz des Films darin, die Veränderungen zu betonen, die Film und Kino beim Publikum bewirken, gerade den Zuschauer als Voyeur herauszustellen.”
In The Nursery haben sich bei der Komposition der Filmmusik nicht auf einzelne Charaktere konzentriert, sondern auf natürliche Veränderungen, auf das Erwachen der Stadt am Morgen, das Einschalten der Maschinen, das Ende des Arbeitstages. Dabei haben Klive und Nigel außergewöhnlich ruhige, sphärische Klänge mit gefühlvollen akustischen Akzenten komponiert.
“Wir arbeiten ja nie nur mit elektronischen Sounds, selbst unsere Streicher-Sounds sind immer Samples von richtigen Instrumenten, zusammen mit Blechbläsern und orchestralen Percussions. Aber in Ergänzung zu diesem Score haben wir auch andere Quellen wie die Balalaika, Maschinengeräusche und verschiedene Filmkameraarbeiten gesamplet. Die Flöte ist für uns immer ein sehr emotionales Instrument gewesen und wir sind froh, mit Henrik Linnemann einen ausgezeichneten Spieler hier zu haben, den wir als Session-Musiker eingeladen haben. Sein Spiel ist so intuitiv und expressiv, dass wir von früh an wussten, dass wir ihn bei diesem Projekt dabeihaben wollten. Einige Teile wurden schon von uns geschrieben, aber viele wurden vollkommen improvisiert.”
Mit ihrem neuen Werk 2001 veröffentlichten Album „Engel“ betraten Klive, Nigel, Military Drummer Q und die nur einmal auftretende Sängerin Dolores etwas anderes Terrain.
‘Engel‘ ist ein Multi-Media-Projekt in dem Sinne, dass es einige miteinander zusammen hängende Veröffentlichungen gibt – eine Buch-Trilogie, Regelwerke für Rollenspiele, Comic-Bände, Poster und andere Merchandising-Sachen. Unser Album soll das ganze Projekt bedienen“, erläutert Klive die neue Inspirationsquelle.
© by Feder & Schwert
„Es geht natürlich vor allem um Engel. Die Spiele-Entwickler haben eine komplexe Fantasy-Welt in einer post-apokalyptischen Zukunft entworfen. Wir wurden vom deutschen Verlagshaus Feder & Schwert kontaktiert, die unsere Musik kannten. 'Engel' soll den Anwendern die Möglichkeit geben, Bilder, Musik und Texte zu einer neuen Vorstellungswelt zu vereinen. Für uns war dieses ganze Projekt sehr inspirierend – wir haben viele neue Tracks geschrieben.“
Man merkt dem vor Spielfreude, fetten Arrangements und gefühlvollen Atmosphären platzenden Werk hörbar an, dass ITN viel Spaß an dem Projekt hatten. Lag das eher an dem inspirierenden Hintergrund oder an der Möglichkeit, sich nicht mehr ganz so eng an visuelle Vorgaben halten zu müssen?
„Songs für ‚Engel‘ zu komponieren war insofern anders, als wir trotz der Inspiration durch Background und Story die Freiheit besaßen, die Stücke ohne visuelle Beschränkungen entwickeln zu können“, beantwortet Nigel meine Frage. „Die Songs sind wirklich neue ITN-Tracks, die auf der zentralen Idee und dem Konzept von ‚Engel‘ basieren, was dem Projekt Kontinuität und einen zentralen Fokussierpunkt gab.“
Neben den kraftvollen, vielschichtig mit Oboen und anderen Bläsern, Chören, Percussions, Synthesizern und Streicherklängen arrangierten Neu-Kompositionen fallen älteren ITN-Fans natürlich die neuen Versionen der klassischen Hits „Blue Religion“ und „To The Faithful“ auf.
„Eigentlich kamen die Spieleverleger mit dem Vorschlug zu uns, einige ältere Tracks auf das Album zu nehmen, und wir dachten, es sei eine hervorragende Möglichkeit, 'Blue Religion' - zu dem Nigel jetzt eine Live-Bass-Gitarre hinzufügte – und ‚To The Faithful‘ - mit neuen Vocals – zu überarbeiten“, meint Klive. „Für uns war es eine Chance, die Songs zu aktualisieren. ‚New Religion‘ - so der neue Titel – ist immer noch eine großer Live-Favorit, den wir jedes Mal spielen – für uns und für das Publikum.“
Bei In The Nursery darf man in dieser Hinsicht zwar nicht mehr überrascht sein, aber erfreut ist man doch wieder einmal, mit welchem Ideenreichtum, instrumentaler Fülle und emotionaler Wärme Klive und Nigel das neue Album arrangiert haben.
Was auf der einen Seite bei „New Religion“, „Engel – To The Faithful“ oder „Beutereiter“ machtvoll rhythmisch klingt, kommt bei Songs wie „Angelorum“ oder „Pandoramicum“ melancholisch und sanft und gefühlvoll rüber.
„Die Wahl der Instrumentation war durch unsere Interpretation der Sounds diktiert, die das Ambiente, die Charaktere, Szenarien und Einstellungen von ‚Engel‘ portraitieren mussten. Chorale Stimmen wurden ebenso ausgiebig eingesetzt wie Oboen. Aber darüber hinaus mögen wir beide den Sound einer guten French-Horn-Section – sie komplettiert natürlich die Streicher-Arrangements.“
Nach ihrem Soundtrack zum Fantasy-Rollenspiel „Engel“ von 2001 und dem 2002 veröffentlichten Remix-Album „Cause + Effect“ präsentierten In The Nursery mit „Praxis“ nach drei Jahren endlich wieder ein reguläres Studio-Album.
‘Engel‘ war ein spezielles Projekt, das konzipiert worden ist, um in die Erzählung des Rollenspiels ‚Engel‘ integriert zu werden und ihre Wirkung zu verstärken. Auch wenn es bestimmte Merkmale in der Art gibt, wie sich unsere Musik in den letzten paar Jahren entwickelt hat, sind die letzten beiden Alben sehr unterschiedlich“, meint Nigel. „‘Praxis‘ ist ein neues Studio-Album, das verstärkt auf Gesang basiert.“
Es ist dabei schon bemerkenswert, mit welcher Kontinuität die beiden Zwillingsbrüder fast im Jahrestakt eine Veröffentlichung auf die andere präsentieren, ohne qualitative Einbußen hinnehmen zu müssen. Offensichtlich scheint es für die Kreativität der Band von enormem Vorteil zu sein, dass man immer mal die Spielebenen wechseln kann, von der Filmmusik zum Rollenspiel-Soundtrack zu ganz eigenen Ideen und zurück zu funktionaler Musik.
„Es ist nie einfach, Musik zu machen. Ich denke, wir arbeiten gleichermaßen gut mit bildbezogenen Projekten wie mit unseren eigenen Studioalben. Aber wie du vermutest, ist es sehr erfrischend und hilfreich, zwischen verschiedenen Projekten hin- und herzuwechseln“, stimmt Nigel meiner Überlegung zu. „Das hilft uns, konzentriert, inspiriert und interessiert zu bleiben. Um ehrlich zu sein, ich denke, dass die Unterschiedlichkeit unserer Arbeiten in verschiedenen Gefilden uns überhaupt erst ermöglicht hat, in den letzten zwanzig Jahren so kontinuierlich kreativ gewesen zu sein.“
Mit diesem Album verhält es sich eigentlich wie mit allen Veröffentlichungen von In The Nursery. Man bekommt die vertrauten Elemente wie wuchtige Percussions, ausgefeilte Elektronik-Arrangements, sanfte Streicherklänge und intime Oboen- und Flöten zu hören, doch der Cocktail fällt jedes Mal anders aus, mal energischer, mal entspannter, mal mit mehr Vocal-Einsätzen, dann wieder mit weniger.
Der instrumentale Opener und Titeltrack von „Praxis“ bietet die schon obligatorischen schweren Percussion-Beats, düstere Elektronik-Soundscapes, Stakkato-mäßige und warme Streicher, Military Drums und verführerische Oboen-Harmonien. Doch schon mit dem nächsten Track, dem von Dolores gesungenen „Vocopolis“ ändert sich die Szenerie mit ganz ruhigen Piano-Tönen, die dann aber auch von mächtigen Bläsern und pulsierenden elektronischen Grooves dynamischer gestaltet wird. In The Nursery haben mit vielen Arten von Beats und mit ebenso vielen Stimmungen und Gesangs-Einsätzen auf „Praxis“ gearbeitet.
„Auf dem Album geht es darum, wie man eine kreative Identität definiert, wie man sich selbst durch die Arbeit, die man macht, zum Ausdruck bringt. Es ist auch ein Lernprozess, bei dem man Perioden von intensiver Action und Produktivität erlebt, die von Zeiten der Reflexion und Betrachtung gefolgt werden“, erläutert Nigel die stilistische wie atmosphärische Vielfalt des Albums. „In vielerlei Hinsicht spiegelt dieser Prozess unsere Arbeitsweise im Studio wider, und daraus entwickelten wir schließlich das Konzept.“
Ähnlich wie bei „Lingua“ haben In The Nursery mit vielen Vocals gearbeitet. Dolores verlieh nicht nur „Vocopolis“, sondern auch „Memento“, „Amer“ und „Argent“ ihre eindringliche Stimme. Bei „Concept“ und „Ethics Of Belief“, deren Rhythmik jeweils bemerkenswert elektronisch ausfällt, greifen Klive und Nigel sogar selbst zum Mikrophon. „Eigentlich wollten wir es einfach nur noch mal wieder ausprobieren“, meint Nigel lapidar. „Ich habe auf unserer Version von ‚Love Will Tear Us Apart‘ gesungen und es sehr genossen, also war es nur eine logische Weiterentwicklung.“
Mit Katz Kiely taucht beim balladesken „Outburn“ schließlich eine ganz neue Stimme auf, die dem melancholischen Track die nötige emotionale Tiefe verleiht.
„Katz ist eine gute Freundin von uns und wir wollten schon immer mal mit ihr zusammenarbeiten. Sie verfügt über eine erstaunliche Stimme mit unglaublicher Kraft und Kontrolle. Nachdem wir entschieden hatten, welchen Track sie singen sollte, schrieben Klive und ich ein paar Gesangsideen auf, quasi eine Auswahl an Phrasen und Worten. Katz kam dann ins Studio und nahm den Song in zwei Takes auf, ohne vorher der Track gehört zu haben. Das geschah also sehr plötzlich und spontan.“
Überhaupt schien die Produktion von „Praxis“ eher ein Ergebnis von Zufällen gewesen zu sein. Selbst der verstärkte Vocal-Einsatz war nicht wirklich vorher geplant.
„Da wir so sehr mit der Komposition der Musik beschäftigt sind, fällt es uns immer schwer, Gesangs-Melodien zu schreiben – was ein Grund dafür sein mag, warum wir seit so langer Zeit nicht mehr auf unseren Alben gesungen haben“, meint Nigel. „Aber irgendwie schien es diesmal wieder an der Zeit zu sein. Es gibt eigentlich keinen bestimmten Grund, warum es jetzt wieder mehr Vocals auf dem Album gibt. Es passierte einfach, die Musik schien es zu brauchen. Wir haben ein ziemlich gutes Gespür dafür, wenn ein Track fertig ist.“
„Alle Songs auf ‚Praxis‘ haben ihr Leben als Instrumentals begonnen“, ergänzt Klive. „Das ist die Art und Weise, in der wir arbeiten. Es gibt ganz verschiedene Ausdrucksformen in den Songs des Albums, aber es gibt auch eine Einfachheit in ihrer Präsentation. Das bedeutet nicht, dass wir nicht Stunden damit verbringen, die Komposition zu verfeinern. Wir haben letztlich Soundscapes kreiert, die den Raum für den Gebrauch von Vocals hatten und sie rechtfertigten.“
Nachdem In The Nursery „The Cabinet Of Dr Caligari“ (1919) und „Asphalt“ (1929) sowie den russischen Film „Man With A Movie Camera“ (1929) und die britische Arbeit von Maurice Elvey, „Hindle Wakes“ (1927), vertont haben, bewegten sie sich mit ihrem 2004er Album in den fernen Osten, als sie sich nämlich des japanischen, 1927 von Teinosuke Kinugasa inszenierten Films „A Page Of Madness“ angenommen haben.
„Als wir für unseren fünften Optical Music Score recherchierten, haben wir viel über ‚A Page Of Madness‘ gelesen und viel davon gehört, und als expressionistischer japanischer Avantgarde-Film ist er sicherlich einzigartig, vor allem, wenn man bedenkt, dass er 1927 gemacht wurde“, erklärt Nigel die ungewöhnliche Wahl. „Als wir den Film gesehen haben, war es offensichtlich, dass dies ein Film ist, mit dem wir arbeiten müssen – die Bilder und der Stil waren einfach so inspirierend. Es war einfach auch interessant, an einem Film von einem anderen Kontinent zu arbeiten.“
Der Film handelt von einem pensionierten Seemann, der einen Job als Hausmeister in einer Irrenanstalt annimmt, um dort nach seiner verrückten Frau zu schauen, die versucht hatte, ihr Kind zu ertränken.
“Aber die Synopsis des Plots kann nicht die Kraft des Films erklären, der bahnbrechende Schnitttechniken verwendet, die auch heute noch bemerkenswert sind“, merkt Nigel dazu an.
Bemerkenswert an der Musik dabei ist, dass In The Nursery entsprechend der Herkunft des Films natürlich japanische Instrumente in ihrer ruhigen, synthetischen Musik eingearbeitet und so ihrem umfangreichen Oeuvre eine neue Farbpalette hinzugefügt haben.
„Wie bei den früheren Optical Music Scores haben wir den Film gesehen und bestimmte Punkte für die Musiksequenzen gesetzt. Dann haben wir eine Sammlung oder eine Palette von Sounds zusammengetragen, mit der wir die Musik geschrieben haben. Es ist oft hilfreich, wenn wir uns selbst auf ein spezifisches Soundspektrum limitieren, aber die Typen von Sounds, Samples und Stimmungen sind gewöhnlich durch den Film diktiert. Für ‚A Page Of Madness‘ haben wir Samples von traditionellen japanischen Instrumenten benutzt wie das Koto und die ausdrucksvolle Shakuhachi-Flöte. Wir haben diese Sounds editiert und übereinander gelegt, um ihnen eine eigene Identität innerhalb der Kompositionen zu verleihen, und kombinierten sie mit anderen elektronischen und perkussiven Elementen. Gewisse Sounds funktionierten ganz offensichtlich nicht mit der Atmosphäre, die wir für den Film zu kreieren versuchten, zum Beispiel sinfonische Streicher. Stattdessen verwendeten wir eine sehr dünn klingende Solo-Streicher-Harmonie“, erläutert Nigel den musikalischen Prozess.
„Viele der Szenen spielen sich im oder um die Irrenanstalt herum ab, also musste die Musik die Klaustrophobie des Eingesperrtseins einfangen. Einige der schwierigsten Szenen, zu denen die Musik geschrieben werden musste, waren jene, die die häufigen Sprünge in die Realität und aus ihr heraus beschreiben. Manchmal sind diese Bilder sehr zwiespältig, so dass man fast einen Traum innerhalb eines Traums zu sehen glaubt.“
Vom British Film Institute wurden In The Nursery beauftragt, die Musik zu einer Sammlung von Filmen aus der Jahrhundertwende zu komponieren.
Mit „Electric Edwardians“ erschien 2005 bereits sechste Album im Rahmen ihrer „Optical Music Series“.
In The Nursery produzierten unter Mithilfe von Studiomusikern eine Reihe von sehr intim klingenden Soundtracks zu Kurzfilmen, die das Leben im England zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Straße, in den Straßenbahnen, in den Häfen, auf den Bahnhöfen und auf der Arbeit zeigen. 833 Filme liegen in dieser Form in der „Mitchell & Kenyon Collection“ vor, 35 davon sind vom British Film Institute restauriert und bereits auf DVD veröffentlicht worden und erfolgreich als TV-Serie auf BBC gelaufen.
Mit sehr warmen akustischen Klängen von verschiedenen Flöten, Klarinetten, Oboe und Cello entstanden sehr eindringliche Kompositionen, die wunderbar auch ohne visuellen Background funktionieren.
„Die Filme sind jeweils nur zwischen zwei und drei Minuten lang. Die über 800 Filme wurden für ‚Showmänner‘ gedreht, die Arbeiter dabei beobachten, wie sie die Fabriken und Arbeitsplätze verlassen, Familien in der Freizeit, geschäftiges Treiben auf den Straßen“, beschreibt Klive den Charakter der Filme. „Das wurde nicht gemacht, um den Alltag der Leute zu dokumentieren, die im Nordengland der Edward-Ära lebten, sondern aus reiner Profitgier. Die ‚Showmänner‘ bewarben die Filme, zeigten sie in Hallen und Theatern und verlangten Geld von den Leuten, damit sie sich selbst auf der ‚großen Leinwand‘ sehen konnten. Kino gab es in den 1910er-Jahren noch nicht.“
Mit dem British Film Institute verbindet In The Nursery eine lange Beziehung, und so wurde die Band vom BFI vor zwei Jahren angefragt, ob sie die Sammlung von Filmen mit Musik untermalen würden. Aus einem geplanten zwei- bis sechsjährigen Engagement wurde ein Unterfangen, das bis heute andauert.
„Was einzigartig an diesen Filmen ist, ist die Tatsache, dass es kaum bewegte Bilder von normalen Leuten - keinen Schauspielern – aus dieser Zeit gibt. Wir alle haben Bilder und Drucke gesehen, aber diese Menschen atmen und leben zu sehen ist etwas ganz spezielles. Als Dokument unserer Geschichte sind sie unbezahlbar, eine wertvolle Erinnerung“, meint Nigel. „Die Edward-Ära war eine Zeit großen ökonomischen und sozialen Wandels, teilweise durch die Elektrifizierung begründet. Der Erste Weltkrieg lag nur um die Ecke, und man muss sich schmerzlich daran erinnern, dass die Mehrheit der Leute, die man auf der Leinwand sieht, innerhalb weniger Jahre in den Krieg ziehen musste.“
Insofern überraschen die melancholischen Züge des Albums kaum. Erstaunlich ist eher, dass In The Nursery nach all den Jahren ihrer mehr als produktiven Tätigkeit einmal mehr ihren musikalischen Ausdruck erweitert haben.
„Mit diesem Projekt haben wir eine Art musikalischen ‚Leitfaden‘ initiiert, dass wir festgelegt haben, mit welchen Instrumenten wir die Stücke einspielen. Wir haben eine ‚Palette an Sounds‘ auch in früheren Optical Music Scores verwendet, aber diesmal war es klarer, dass bestimmte Instrumente und Sounds besonders gut passen und eine Menge anderer auf keinen Fall Verwendung finden würden“, erläutert Klive die Herangehensweise an „Electric Edwardians“. „Wir wollten eine emotionale Verbindung mit den hunderten Gesichtern schaffen, die wie Geister auf diesen bemerkenswerten Filmen wandeln“, ergänzt Nigel. „Wir waren uns aber auch bewusst, die Musik nicht allzu melancholisch werden zu lassen, sondern vielmehr das Vibrieren auf den Straßen damals zu reflektieren.“
„In den Filmen liegt eine gewisse schmerzliche Traurigkeit. Weil sich die Bilder bewegen, ist die emotionale Bindung weit stärker als bei Fotografien aus derselben Periode“, versucht Klive das besondere Element bei den Filmen nochmals herauszuarbeiten. „Und weil sich die Leute in ihrem alltäglichen Leben bewegen und nicht als Schauspieler in einem Stück oder Film agieren, ist mein Mitgefühl viel stärker ausgeprägt als normal. Ich bin mir mehr bewusst, dass diese Gesichter existiert, ihr Leben gelebt, gearbeitet und geliebt haben und gestorben sind.“
Im Jahre 2007 feierten In The Nursery ihr 25-jähriges Jubiläum mit einem neuen Album namens „Era“.
„ ‚Era‘ entwickelte sich aus dem Arbeitstitel ‚Material & Form‘ und war von Anfang dazu bestimmt, sich mit dem Konzept der Architektur auseinanderzusetzen. Die Beziehung zwischen Architektur und Musik ist schon immer etwas gewesen, das ich erforschen wollte“, erklärt Nigel das Album-Konzept.
„ Wir wollten ‚Era‘ wie ein klassisches ITN-Album klingen lassen, mit all den Markenzeichen-Elementen - schrille Orchester/Percussion-Kompositionen, aber auch liebliche und warme Momente schierer Schönheit“, ergänzt Klive. „Wir waren uns bewusst, Material zu schreiben, das sowohl live dargeboten werden könnte als auch Tracks zu komponieren, die mehr emotional und zurückhaltend ausfallen. Das ursprüngliche Konzept des Albums bestand darin, Musik zu kreieren, die direkt von Architektur beeinflusst ist. Musik und Architektur sind durch den Geist der Kreativität, den menschlichen Geist und eine persönliche kreative Entwicklung miteinander verbunden. Also erforschten wir dieses Thema mit verschiedenen architektonischen Gebäuden im Kopf, machten Bilder von Tempeln und Altären, als wir im August 2005 Japan besuchten. Wir schauten uns Statuen und Monumente an, besannen uns unserer Besuche in Mexiko und der wundervollen alten und neuen Architektur, die wir dort sahen.“
© by Daniela Vorndran www.black-cat-net.de
Neben der langjährig vertrauten Dolores gab es mit Sarah Jay Hawley eine neue Stimme zu vernehmen. Aber sie ist bei weitem keine Unbekannte in der Szene.
„Sarahs Name ist in Unterhaltungen gefallen, dann traf ich sie einige Male und wir diskutierten die Möglichkeit, ob sie ins Studio kommen möchte, um einige Tracks auszuprobieren. Ich habe ihre Arbeit mit Massive Attack gehört, zusammen mit einigen ihrer neuen Tracks, und war sehr beeindruckt“, blickt Nigel zurück. „Mit ihr zu arbeiten war ein wirklich simpler und produktiver Prozess. Sie kam herein, ohne die Tracks gehört zu haben, und dann präsentierten wir ihr Worte, Phrasen, Teile der Lyrics und Themen, während sie die Songs anhörte. Daraufhin schrieb sie weitere Lyrics, arbeitete Melodien aus, und alles, was wir tun mussten, war die Ergebnisse aufzunehmen.“
Nach diesem Studioalbum folgte 2008 ein weiterer Stummfilm-Soundtrack, diesmal zu Carl Theodore Dreyers fast dokumentarisch anmutenden Film „The Passion of Joan of Arc“ aus dem Jahre 1928, der jahrzehntelang verschollen war und erst 1981 wieder aufgetaucht ist. In The Nursery reflektierten mit ihrem Score die dramatischen Hoch- und Tiefpunkte, vor allem die eindringlichen Close-ups der Hauptdarstellerin Rene Falconetti und die fieberhaften Szenen rund um Joans Todeskampf.
Nach der im vergangenen Jahr veröffentlichten Compilation „Aubade“, die die frühe Schaffensphase der Band aus den Jahren 1983 bis 1985 repräsentierte, erscheint nun mit „Blind Sound“ ein neues Studioalbum, mit dem die Sheffielder Zwillinge nicht nur ihren 50. Geburtstag, sondern auch ihr 30-jähriges Bandjubiläum feiern, nachdem sie im Juni 1981 ihr Live-Debüt am Sheffielder Art College gegeben haben.
„Ich bin wirklich stolz darauf, dass wir uns treu in dem geblieben sind, woran wir glauben. Musik zu machen ist immer auf fundamentale Weise etwas gewesen, das wir mit Freude getan haben, und der Schaffensprozess geschieht allein zu unserem Vergnügen und Befriedigung. Die Tatsache, dass andere an dieser Kreation teilhaben können, ist ein zusätzlicher Bonus“, fasst Klive die Essenz der vergangenen 30 Jahre Bandgeschichte zusammen. „Ich bin jetzt genauso aufgeregt, die erste Box der ‚Blind Sound‘-CDs zu öffnen, frisch vom Presswerk, wie damals im Jahr 1983, als wir per Hand die Covers zu unserer Debüt-Mini-LP ‚When Cherished Dreams Come True‘ fertigten. Das ist etwas, worauf ich auf einem künstlerischen Level immens stolz bin“.
Mit ihrem neuen Album fassen In The Nursery quasi die Qualitäten zusammen, die sich die Band über die Jahrzehnte angeeignet und perfektioniert hat.
‘Blind Sound‘ hat sehr viel damit zu tun, zurück zur Essenz dessen zu gehen, was uns angetrieben hat, Musik zu machen. Natürlich haben wir in all den Jahren viel darüber gelernt, wie man einen Song komponiert und fertigt. Aber ich denke, wir haben uns bewusst dazu entschieden, uns zu versichern, dass das Übergewicht der Technologie in der heutigen Musikproduktion nicht das kontrolliert, was wir kreieren wollen“, betont Klive. „Manchmal können Computer die künstlerische Herrschaft über das Komponieren übernehmen und leblose Musik ohne Seele kreieren. Wenn man sich nicht der technologischen Macht bewusst ist, kann sie die einfachsten Ideen verzehren. Wir wussten, dass wir ein Album machen wollten, das man live aufführen kann, das frisch klingt und all die verschiedenen Elemente unseres charakteristischen Sounds vereint, und ich glaube, mit ‚Blind Sound‘ haben wir das auch erreicht.“
„Anders als Alben wie ‚Anatomy of a Poet‘ und ‚Deco‘ gibt es allerdings kein ausgeprägtes Konzept hinter ‚Blind Sound‘. Nichtsdestotrotz ist die Sammlung der Tracks miteinander verbunden und erforscht als Ganzes unsere künstlerischen Erfahrungen und Auffassung von der Musik“, ergänzt Nigel.
© by Gay J Brown
Bereits der „Blind Sound“-Opener „Artisans of Civilisation“ weist mit kraftvollem Sound und akustischen Finessen den Weg. Zum Gelingen des sehr organisch klingenden Albums haben einige Gastmusiker wie Liz Hanks (Cello), Graham McEleamey (Harfe), Rob Skeet (Klarinetten) und Matt Howden (Violine, Treatment) beigetragen.
„Es war großartig, mit Matt Howden von Sieben zusammenzuarbeiten. Wir sind schon seit einiger Zeit gute Freunde gewesen und haben bei einigen Optical Music Events zusammengespielt. Wir haben ihn eingeladen, eines Abends mal ins Studio zu kommen und zu einigen Tracks die Violine beizusteuern. Wir gaben ihm dann einen Freibrief, dass er, wo immer er mochte, etwas zu den Tracks spielen konnte. Das ist eine witzige Art zu arbeiten. So machten wir es auch mit Liz Hanks und Rob Skeet. Sie alle sind Musiker/Freunde, die in Sheffield leben und mit denen wir über die Jahre gearbeitet haben und deren Fähigkeiten wir sehr schätzen“, erläutert Klive.
„Um ehrlich zu sein, hat es sich nicht so angefühlt, als hätten wir mit mehr zusätzlichen Musikern als sonst gearbeitet, vielleicht einer oder zwei, aber vielleicht lag es an der Art, wie wir sie eingesetzt haben und die Tracks um ihren Input herum aufgebaut haben, dass sich das ganze Projekt so lebendig anfühlte“, fügt Nigel hinzu.
Auch nach 30 Jahren werden In The Nursery nicht müde, ihre ganz eigene künstlerische Vision immer wieder neu zu verwirklichen, demnächst auch wieder für einen Stummfilm-Soundtrack.
„Eine Idee für einen zukünftigen Score ist, einen Stummfilm-Projekt zu finden, bei dem wir Live-Drumming mit unserer üblichen Keyboard- und Controller-Präsentation verbinden können. Wir haben schon einen Titel im Kopf, aber leider können wir dazu noch nichts erzählen“, gibt sich Nigel zum Abschluss des Interviews kryptisch. Aber zu gegebener Zeit gibt es an dieser Stelle dazu mehr zu berichten.

Diskographie:

1983: When Cherished Dreams Come True (EP)
1986: Twins
1987: Stormhorse
1988: Köda
1989: Counterpoint (Compilation)
1989: Prelude (Compilation)
1990: L'Esprit
1991: Sense
1992: Duality
1993: An Ambush of Ghosts (Soundtrack)
1994: Anatomy of a Poet
1995: Scatter (Compilation)
1996: Praha 1 (Live)
1996: Deco
1996: Feathercut (Les Jumeaux)
1996: The Cabinet of Dr. Caligari (Soundtrack)
1997: Composite (Compilation)
1997: Asphalt (Soundtrack)
1997: Cobalt (Les Jumeaux)
1998: Lingua
1999: Man With a Movie Camera (Soundtrack)
2000: Groundloop
2000: Exhibit (Compilation)
2001: Hindle Wakes (Soundtrack)
2001: Engel (Game-Soundtrack)
2002: Cause + Effect (Remix-Album)
2003: Praxis
2003: A Page of Madness (Soundtrack)
2005: Electric Edwardians (Soundtrack)
2006: ERA
2008: The Passion of Joan of Arc (Soundtrack)
2010: Aubade (Compilation)
2011: Blind Sound

Playlist:
1 In The Nursery - Coloured Silence (Blind Sound) - 03:03
2 In The Nursery - Police Station (The Cabinet of Doctor Caligari) - 05:58
3 In The Nursery - Bergen's (Asphalt) - 04:49
4 Les Jumeaux - Strange (Cobalt) - 06:06
5 In The Nursery - Salient (Lingua) - 06:25
6 In The Nursery - Paralysed Time (Man With A Movie Camera) - 04:28
7 In The Nursery - Displaced (Groundloop) - 04:43
8 In The Nursery - Hindle Theme 1 (Hindle Wakes) - 03:59
9 In The Nursery - Pandoramicum (Engel) - 04:24
10 In The Nursery - Futurebuild (Era) - 06:05
11 In The Nursery - Resonate (Blind Sound) - 03:58
12 In The Nursery - I Have Lied (The Passion Of Joan Arc) - 05:41

Sonntag, 10. April 2011

Playlist # 56 vom 10.04.11 (1) - CLIFF MARTINEZ Special

Cliff Martinez zählt zu den nicht wenigen Komponisten in Hollywood, deren musikalischer Hintergrund nicht unbedingt prädestiniert für eine Karriere in der Traumfabrik gewesen ist. Aber wie manche schicksalhafte Begegnungen es oft nach sich ziehen, gehört der am 5. Februar 1954 in der New Yorker Bronx geborene und in Ohio aufgewachsene Musiker mittlerweile zu den interessanteren Stimmen im Filmmusikzirkus.

© by Robert Mann
Momentan ist Martinez mit seinem elektronisch-groovenden Score zur Verfilmung des Michael-Connelly-Bestsellers „Der Mandant“ nicht nur im Kino zu erleben, sondern auch auf dem bei Lakeshore Records veröffentlichten Soundtrack ("The Lincoln Lawyer") zu hören.
Seine musikalische Karriere nahm 1976 ihren Anfang, als Martinez nach Kalifornien zog und den Höhepunkt der Punk-Bewegung aktiv miterlebte, indem er für die Weirdos, Lydia Lunch und Jim Thirlwell (Foetus) ebenso die Trommelstöcke schwang wie bei Dixies und den Red Hot Chili Peppers. Während er auf deren ersten beiden Alben mitwirkte, verbrachte er viel Zeit im Studio, um ausgiebig mit einer Sampling Drum Machine zu üben – einem Gerät, das nach Martinez‘ Verständnis das Potenzial einer ganzen Band in einer Box vereint.
Teilweise ist es seiner Nachforschung in den Vorteilen der Musiktechnologie zu verdanken, dass er das Leben eines Rock-Drummers für eine Karriere in der Filmmusik aufgab. Mit einer Tape-Collage von aggressiv-merkwürdigen Geräuschen, die einige seiner Freunde kreierten und die Martinez mit einem MIDI Percussion Controller bearbeitete, erhielt der Musiker die Möglichkeit, eine Episode von Paul Reubens TV-Serie „Pee-Wee’s Playhouse“ zu vertonen, was wiederum die Aufmerksamkeit von Steven Soderbergh fesselte. Er engagierte Martinez für den Soundtrack zu seinem 89er Debütfilm „Sex, Lügen und Video“, der eine neue Ära des Independent-Kinos einleitete.
„Steven mag generell keine Melodien zum Mitsingen. Er mag Wiederholung, klangliche Signaturen, die mit seinen Figuren verknüpft sind. Es kann eine Herausforderung sein, das hinzubekommen“, beschreibt Martinez die Zusammenarbeit mit Steven Soderbergh in Variety. Für das Episoden-Drama „Traffic“ schuf er gerade für die Szenen in Mexico auffallende Musik.
„Mexico verfügt über eine stärkere klangliche Identität als andere Orte in dem Film. Es ist vage exotisch, vage ethnisch. Und es gibt ein stärkeres rhythmisches Gespür. Steven gab den mexikanischen Szenen einen sehr auffallenden Look, was für mich der am meisten stilisierte Teil des Films war. Meine Musik verlieh den Szenen mehr Atmosphäre als Dramatik oder Emotion. Steven ermutigt sein Publikum nicht, indem er es füttert, sondern er lässt es seine eigenen Lösungen entwickeln. Zum Beispiel möchte er keine romantische Musik für romantische Szenen. Er möchte nicht, dass die Musik die emotionalen Aspekte eines Films auf traditionelle Weise erklärt.“
Und so entwickelte sich auch die Arbeit an dem Score zu „Traffic“ etwas unkonventioneller. Soderbergh wollte einen atmosphärischen Score und stattete den Film mit einem Temp Score von Brian Eno aus. Martinez war mit dieser Konstellation anfangs nicht sehr glücklich, aber sobald David Torn mit seiner Gitarre ein paar nützliche Texturen lieferte, war der Komponist begeistert. „Er produzierte einige erstaunliche Hintergründe, die irgendwo in der grauen Zone zwischen Musik und Sound Design lagen“, berichtete Martinez im Interview mit Film Score Monthly. „Jeff Rona trug auch etwas dazu bei, und ich denke, das Ergebnis war sehr erfolgreich. Die Musik klingt einfach, gab Steven aber das, was er als auffallende Abwesenheit der üblichen Komponenten von Musik beschreibt – Rhythmus, Harmonie und Melodie.“
Martinez hat etliche von Soderberghs Filmen musikalisch versorgt und dabei oft unkonventionelle Klänge kreiert, so das hämmernde Dulcimer bei „Kafka“, das verstörende Piano bei „The Limey“, die Symbiose aus Steel Drums und Ambient-Strukturen im Weltraum-Abenteuer „Solaris“, dessen Soundtrack gerade von La-La Land erneut veröffentlicht worden ist.
„Ich habe keine Ahnung, warum sich die Leute den Soundtrack noch immer anhören. Wahrscheinlich ist ‚Solaris‘ für mich das, was ‚Proud Mary‘ für John Fogerty ist. Es hört nicht auf, an unerwarteten Stellen wie Volkswagen- und Schuh-Werbespots aufzutauchen. Es war auf jeden Fall ein künstlerisches Wasserzeichen. Ich habe ein paar kleinere Orchester-Scores zuvor gemacht, aber ‚Solaris‘ war mein erster gigantischer Orchester-Score für ein Major Studio, 20th Century Fox. Ich weiß, dass er einer meiner besten Bemühungen ist, und ich frage mich noch immer, warum. Ich will damit nicht sagen, dass der Film problematisch war … jeder Film besitzt seine Herausforderungen, und ich denke, die Kunst des Musikschreibens, gerade für den Film, ist eine Art des Problemlösens“, erläutert Martinez im Interview mit Daniel Schweiger auf filmmusicmag.com. „‘Solaris‘ hatte viele Grundlagen abzudecken, Gott, Existenz, das Unendliche, Liebe, Tod, George Clooney etc. Viele Filme lassen nicht viel ungesagt, zu dem der Komponist einen Kommentar abgeben kann, und ich nehme an, dass ‚Solaris‘ einer der seltenen Filme gewesen ist, der der Musik recht viel Spielraum überließ.“
Kürzlich hat Cliff Martinez sogar zu zwei französischen Filmen die Musik beigesteuert, zu „Espion(s)“ und „À l’origine“.
„Beide Filme waren erstklassige Erfahrungen für mich, ohne dass ich nach Frankreich, französisch sprechen oder auch nur die Regisseure (Nicolas Saada und Xavier Giannoli) sprechen musste, als ich die Scores produzierte! Jedoch haben beide meinen Luftraum via Skype (in der Regel um 1 Uhr morgens) jede einzelne Nacht betreten, und es waren die intensivsten kreativen Zusammenarbeiten, die ich je mit Filmemachern hatte“, bekannte Cliff Martinez ebd.
„Beide waren sehr fordernd, artikulierend, einfallsreich und knapp in ihrer Kommunikation über Musik und es war mehr als eindrucksvoll, dass English ihre zweite Sprache gewesen ist. Ich kann natürlich nach meinen Erfahrungen mit diesen beiden Filmen kein generelles Urteil über das französische Kino fällen, aber beide Regisseure hatten einen enormen Respekt, großes Wissen und Verstehen der Hollywood-Tradition, aber sie verfügen auch über eine eigene Tradition, auf die sie sehr stolz sind und die ebenso einzigartig und tief ist wie alles, was wir hier haben.“
Mit seinem neuen Score zum Justiz-Thriller „Der Mandant“ vereint Martinez seine besten Fertigkeiten, verbindet ausgefeilte elektronische Arrangements mit ausgefallenen Percussion-Rhythmen.
„Meine Verwendung von Percussions hat sich lange vor ‚Lincoln Lawyer‘ herausgebildet, aber ich versuche stets, meinen Sound für jeden Film zu entwickeln und anzupassen. Die Verfeinerung zu meinem Ansatz für ‚Lincoln Lawyer‘ fiel vielleicht nicht so subtil aus, dass es mich in Aufregung versetzt hätte, aber ich begann die Metallophones wie die Steel Drums erstmals zu einem Stück aufeinanderzuschichten und zu kombinieren. Bei ‚Narc‘ begann ich eine Idee zu erforschen, bei der ich ‚rhythmi-tizing‘ Ambient-Texturen kreierte. Für ‚Lincoln Lawyer‘ fing ich damit an, Percussion-Performances zu triggern und die rhythmischen und tonalen Eigenschaften dieser Ambient-Texturen zu formen.“
Die Filmmusik zu „Der Mandant“ dokumentiert einmal mehr, dass Cliff Martinez zu den eigenwilligsten Komponisten in Hollywood zählt. Er wird sicher nicht für die großen Blockbuster engagiert, aber mit seinen zumeist sehr zurückhaltend eingesetzten, ruhigen Ambient-Scores leistet er wichtige Beiträge zu den dazugehörigen Filmen und seiner persönlichen Karriere.
„Natürlich will ich auch im Geschäft überleben, also versuche ich stets, mich anzupassen und normal zu sein. Ich denke, diese Einstellung und die musikalische Identität gehen Hand in Hand. Ich verfügte über ein Set an musikalischen Einflüssen, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich habe Entscheidungen darüber getroffen, was ich für großartig und was ich für abscheulich hielt. Aber wenn du einmal den Fuß in die Tür bekommen hast, wirst du als Filmkomponist auch darüber definiert, mit welchen Leuten und an welchen Projekten du arbeitest. Bei meinen ersten Filmen war ich glücklich genug, mit Steven Soderbergh zu arbeiten, der ebenfalls eine eigensinnige Einstellung und Identität besitzt. Deshalb habe ich ihm viele meiner Scoring-Instinkte zu verdanken. Aber ich arbeite auch weiterhin an traditionellen Sachen. Ich versuche nur, mir hier einige Freunde zu machen.“

Diskographie:
1989: Sex, Lügen und Video (Sex, Lies, and Videotape)
1990: Hart auf Sendung (Pump up the Volume)
1991: Kafka
1992: Eine verhexte Affäre (Black Magic, TV)
1993: König der Murmelspieler (King of the Hill)
1995: Die Kehrseite der Medaille (Underneath)
1996: Gray's Anatomy
1996: Schizopolis
1998: Bad Girl – Mord ist keine Lösung (Wicked)
1999: The Limey
2000: Traffic – Macht des Kartells
2002: Narc
2002: Solaris
2003: Wonderland
2004: Sehnsüchtig (Wicker Park)
2005: Havoc
2006: First Snow
2008: Vice
2008: Stiletto
2009: Espion(s)
2009: Severe Clear
2009: À l’origine
2011: Der Mandant (The Lincoln Lawyer)
2011: Drive
2011: Contagion

Playlist:
1 Cliff Martinez - Track Him (The Lincoln Lawyer) - 03:05
2 Cliff Martinez - I'm Gonna Drawl (Sex, Lies, and Videotape) - 04:37
3 Cliff Martinez - The Green Head (The Underneath) - 02:55
4 Cliff Martinez - Mister and Mrs. Cliff (King Of The Hill) - 02:55
5 Cliff Martinez - Ajar (Wonderland) - 02:23
6 Cliff Martinez - The Intersection (Havoc) - 03:49
7 Cliff Martinez - Main Title (Wicked) - 02:59
8 Cliff Martinez - Eddie's Dead (Kafka) - 03:26
9 Cliff Martinez - La Cagaste (Traffic) - 02:56
10 Cliff Martinez - Girl In The Closet (Narc) - 03:28
11 Cliff Martinez - Don't Blow It (Solaris) - 03:35
12 Cliff Martinez - Canary Wharf (Espion(s)) - 03:27
13 Cliff Martinez - Lie Down & Die (First Snow) - 04:41
14 Cliff Martinez - Il Est Déjà Loin (A L'Origine) - 04:38
15 Cliff Martinez - How Does Reggie Tell It? (The Lincoln Lawyer) - 04:49

Soundtrack Adventures with CLIFF MARTINEZ by Dirk Hoffmann on Mixcloud

Playlist # 56 vom 10.04.11 (2) - SPAGHETTI WESTERN Special

Der Western ist so alt wie das Kino selbst und lebendig erzählte amerikanische Geschichte. In seiner Blütezeit zwischen 1910 und 1960 spielten die Western in der Zeit nach der Gründung der USA im Jahre 1776, meist in der Phase zwischen 1865 und 1890, als die Natur erobert, Siedlungen und Städte gebaut und Krieg gegen die Urbevölkerung, die Indianer, geführt wurden.

Doch mit der traumatischen Katastrophe des Vietnam-Kriegs neigte sich das nach wie vor bedeutendste Filmgenre seinem Ende zu. Als alle Geschichten erzählt zu sein schienen, lebte der Western allerdings in Europa und vor allem in Italien Anfang der 60er Jahre neu auf. Auch wenn hier schon vorher Western produziert wurden, legte schließlich Sergio Leone 1964 mit „Für eine Handvoll Dollar“ den Grundstein für den Erfolg des sogenannten Italo- bzw. „Spaghetti“-Western.
„Erst dieser Film ermöglichte und bestärkte eine Generation von Filmemachern, ihre Visionen von einem neuartigen Filmstil und einen erneuerten Western umzusetzen. Sie hatten den Mut, die klassischen Konventionen des Hollywood-Kinos hinter sich zu lassen und den größtenteils verklärenden und in erster Linie einseitig glorifizierenden, amerikanischen Filmen, ein künstlerisches, eigenständiges Subgenre entgegenzusetzen.
Somit stellte ‚Für eine Handvoll Dollar‘ den Anfang einer Reihe von Meisterwerken audio-visueller Kompositionskunst dar, zu dessen besten Vertretern u.a. ‚Zwei Glorreiche Halunken‘, ‚Navajo Joe‘, ‚Die Rechnung wird mit Blei bezahlt‘, ‚Blindman‘, ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ und ‚Adios Sabata‘ zählen, um nur einige der beeindruckendsten Werke zu nennen. Diese Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie die visuelle Erzählkunst, mittels außergewöhnlicher Bildkomposition und Kamera-Arbeit, wieder in den Mittelpunkt des Films rückten“, beschreibt Felix Hess auf seiner Website Italowestern.net die Anfänge des Genres. „Denkt man heute an Westernfilme, fallen fast jedem die typischen Szenen eines Duells ein: Leinwand-füllende Extreme-Close-ups von den eiskalten Augen der Protagonisten, deren stechende Blicke bedrohlicher erscheinen als ihre Colts, Over-Shoulder-Shots der Kontrahenten, Close-ups der sich langsam bewegenden Finger der Revolver-Hand über dem Halfter und eine dramatische, unvergessliche Musik.
Doch all diese Elemente stammen aus dem Italowestern und nicht aus dem Urgenre des amerikanischen Films, wie viele fälschlicherweise annehmen.“
Im Gegensatz zu den meist moralisierenden amerikanischen Western ging es bei den oft exzessiv gewalttätigen Italo-Western nicht mehr um soziale Konflikte, Kultivierung der Natur und Auseinandersetzung zwischen Indianern und Siedlern. In Sergio Leones wegweisender „Dollar“-Trilogie („Für eine Handvoll Dollar“ – 1964, „Für ein paar Dollar mehr“ – 1965, „Zwei glorreiche Halunken“ – 1966) geht es wie in vielen anderen Werken des Spaghetti-Westerns ums schnöde Geld oder Rache. Vor allem mit seinem Meisterwerk „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) hat Sergio Leone gründlich mit den amerikanischen Western-Mythen aufgeräumt. Das beginnt mit der Besetzung der Hauptrolle mit Henry Fonda, der entgegen seinen amerikanischen Rollen als Bösewicht agiert, und dem frühzeitigen Ableben der amerikanischen Nebendarsteller – und geht weiter über die Handlung, die deutlich machen soll, auf welch schmutzige Weise die Zivilisation des Wilden Westens erfolgt ist.

Unmittelbar mit dem Erfolg des Films ist die berühmte Filmmusik von Ennio Morricone verbunden, der sich die Mühe machte, für jede Hauptfigur eine eigene Melodie zu komponieren. Mit diesem Soundtrack wurde Ennio Morricone nicht nur weltberühmt, sein Name war – sehr zu seinem Leidwesen – für immer mit dem Spaghetti-Western verknüpft, obwohl er gerade mal weniger als ein Zehntel seiner über vierhundert Filmmusiken für dieses Genre komponierte.
Ohnehin hat die Filmmusik im Italo-Western neue Wege eingeschlagen. Was Ennio Morricone mit seinen Werken für Leones „Dollar“-Trilogie eingeführt hat, sollte bald zum Erkennungsmerkmal von Soundtracks zu Spaghetti-Western werden. Im Gegensatz zu den oft pompösen Orchester-Arrangements amerikanischer Produktionen wurde hier das filmmusikalische Spektrum um experimentelle Arrangements und ungewöhnliche Instrumente wie E-Gitarre, Mundharmonika, Blockflöte, Peitschenschläge und menschliche Geräusche wie Pfeifen, ungewöhnliche Stimmen und Schreie ergänzt. Ennio Morricone schuf darüber hinaus – teilweise unter dem Pseudonym Leo Nichols - bemerkenswerte Filmmusiken für „Eine Pistole für Ringo“ (1965), „An seinen Stiefeln klebte Blut“ („Navajo Joe“, 1966), „Die Rechnung wird mit Blei bezahlt“ ("Da uomo a uomo", 1967), „Von Angesicht zu Angesicht“ ("Faccia a faccia", 1967), „Die gefürchteten Zwei“ ("Il mercenario", 1968), „Todesmelodie“ ("Giù la testa", 1971) und „Mein Name ist Nobody“ ("Il mio nome è Nessuno", 1973).
Zu den weiteren bekannten italienischen Komponisten, denen man immer wieder auch auf Spaghetti-Western-Compilations findet, zählen Ennio Morricones langjähriger Mitarbeiter Bruno Nicolai („100.000 Dollar für Ringo“ – 1965, „Sartana kommt“ – 1970), Luis Bacalov („Django“ und „Töte Amigo!“ – 1966, „Zwei Särge auf Bestellung“ – 1967), Carlo Savina („Django kennt kein Erbarmen“ – 1966, „Der Tod reitet mit“ – 1967, „Fünf blutige Stricke“ – 1968) und Riz Ortolani („Der Tod ritt dienstags“ – 1967, „An den Galgen, Bastardo“ - 1968).

Playlist: 
1 Ennio Morricone - L'Uomo Dell' Armonica (C'era Una Volta Il West - Spiel mir das Lied vom Tod) - 03:30
2 Ennio Morricone - Titoli (Per Un Pugno Di Dollari - Für eine Handvoll Dollar) - 02:58
3 Ennio Morricone - L'Estasi Dell' Oro (The Good, The Bad And The Ugly - Zwei glorreiche Halunken) - 03:25
4 Ennio Morricone - Main Titles (Una Pistola Per Ringo - Eine Pistole für Ringo) - 02:19
5 Bruno Nicolai - Ringo Come To Fight (100.000 Dollari Per Ringo - 100.000 Dollar für Ringo) - 02:30
6 Riz Ortolani - I Giorni Dell'Ira #3 (I Giorni Dell'Ira - Der Tod ritt dienstags) - 03:06
7 Luis Bacalov - Django (Django) - 02:54
8 Luis Bacalov - Titoli (Sugar Colt) - 02:25
9 Ennio Morricone - Main Title (Navajo Joe) - 02:48
10 Ennio Morricone - Mucchio Selvaggio (Il Mio Nome E' Nessumo - Mein Name ist Nobody) - 02:38
11 Ennio Morricone - Il Pinguino (Vamos A Matar, Companeros - Lasst uns töten, Campoaneros) - 02:59
12 Ennio Morricone - A Gringo Like Me (Gunfight At Red Sands) - 02:23
13 Luis Bacalov - Memories (Gold Of The Proud Ones) - 04:02
14 Ennio Morricone - From Man To Man (Death Rides A Horse) - 03:19
15 Luis Bacalov - Suite (A Man Called King) - 04:50
16 Ennio Morricone - I Figli Morti (Giu' La Testa - Todesmelodie) - 06:08
17 Ennio Morricone - Finale (C'era Una Volta Il West - Spiel mir das Lied vom Tod) - 04:08 

Soundtrack Adventures with SPAGHETTI WESTERNS at Radio ZuSa by Dirk Hoffmann on Mixcloud

  © Blogger template Brooklyn by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP