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Sonntag, 1. August 2010

Carter Burwell (Teil 2) - Von Helden und Monstern

Je größer die Produktionen wurden, umso problematischer wurde manchmal die Arbeit für Carter Burwell. 1995 wurde er beispielsweise von Disney für „A Goofy Movie“ engagiert, und Burwell hoffte, etwas in der Tradition von Raymond Scott und Carl Stalling kreieren zu können, doch Disney war eher daran interessiert, den Cartoon-Figuren menschliche Züge zu verleihen und die Musik entsprechend warm und sentimental zu gestalten. Während das Filmstudio die Musik in traditionelle Richtungen bewegen wollte, fand Burwell diesen Ansatz völlig uninteressant, was zur Folge hatte, dass Don Davis ins Boot geholt wurde, um den Score zu überarbeiten. Zwar blieben dem Score einige von Carter Burwells Themen erhalten, doch überwiegend klang die Musik mehr nach Don Davis.
1997 folgten mit den Thrillern „Kiss The Girls“ und „The Jackal“ gleich zwei weitere Big-Budget-Produktionen, die für Carter Burwell unbefriedigend endeten.

Das Problem bei dem Remake von „The Jackal“, der vierten und letzten Zusammenarbeit zwischen Regisseur Michael Caton-Jones und dem Komponisten nach „Doc Hollywood“, „This Boy’s Life“ und „Rob Roy“, lag in dem mangelnden Tempo für einen Spionage-Thriller, das die Musik nicht adäquat wiederzugeben schien. Der Film wurde neu geschnitten, doch wollte dann die Musik nicht mehr recht passen. Schließlich wurde mit Danny Saber ein Musik-Produzent hinzugezogen, der Burwells Score „remixen“ sollte.
„Michael fragte mich netterweise, ob ich bei diesem Prozess dabei sein wollte, doch der eine Tag, den ich bei Dannys Sessions verbrachte, war zu deprimierend, um es zu wiederholen. Er overdubbte kraftvolle E-Gitarren-Saiten über David Torns interessantere Gitarren-Arbeit. Am Ende konnte ich nur Dannys Ergebnisse hören und ein paar Stücke auflisten, die, wie ich fand, schrecklich waren – in der Hoffnung, dass Michael sie nicht verwenden würde. Schließlich waren sie aber allesamt im Film. Ich zog in Betracht, meinen Namen aus dem Projekt zurückzuziehen, aber ich fand, dass letztlich genügend von meiner Musik übrig blieb, um es dabei zu belassen. Aber diese schmerzvolle Erfahrung bedeutete das Ende meiner anhaltenden Zusammenarbeit mit Michael Caton-Jones.“
Ähnlich enttäuschend verlief die Arbeit an Gary Fleders Thriller „Kiss The Girls“. Hier wurde gleich die komplette Musik von Carter Burwell durch die eines neuen Komponisten ersetzt. In diesem – und zum Glück für Carter Burwell bislang einzigen – Fall übernahm Mark Isham den Job.
„Während der Film irgendwo im amerikanischen Süden spielte, wollte ich die Location etwas geheimnisvoller wirken lassen. David Torn spielte sowohl elektrische als auch akustische Gitarre und Matt Darrieu Balkanflöte. Der Score ist ziemlich polyrhythmisch und obskur, was, wie ich fand, der Mystik der Geschichte half. Während der Regisseur Enthusiasmus für das empfand, was ich geschrieben hatte, war die erste Reaktion des Studios (Paramount) – wie man mir erzählte: ‚Wo sind wir denn? In Tibet? Transsylvanien?’ Also wurde Mark Isham damit beauftragt, einen neuen Score zu komponieren. Ich empfinde nichts als Respekt für Marks Arbeit, aber ich war noch nicht in der Lage, den fertigen Film zu sehen, also weiß ich nicht, was er geschrieben hat.“
Trotz dieser beiden Rückschläge lief es in der zweiten Hälfte der 90er für den umtriebigen Komponisten sehr gut. Für die Coen-Brüder standen die bei beiden grotesken Meisterwerke „Fargo“ (1996) und „The Big Lebowski“ (1998) auf dem Programm, außerdem die John-Grisham-Verfilmung „The Chamber“ (1996), die Agenten-Thriller „Assassin(s)“ und „Conspiracy Theory“ (beide 1997), die romantische Komödie „Picture Perfect“, Simon Wests Militär-Drama „The General’s Daughter“ (1999), Todd Haynes‘ Glam-Rock-Hommage „Velvet Goldmine“, Stephen Frears‘ Drama „The Hi-Lo Country“ und Bill Condons Portrait des Regisseurs James Whale, „Gods And Monsters“ (alle 1998).
Zu den interessantesten Arbeiten aus dieser Zeit zählt der Score zum Action-Thriller “The Corruptor” von Regisseur James Foley. Burwell engagierte dafür zwei Musiker aus Shanghai (Wang Guo-Wei, Chen Tao), einige Leute aus dem experimentellen Umfeld in New York (David Torn, Erik Friedlander, John Deak) sowie seine alten Freunde John Moses, Geoff Gordon und Gordon Gottlieb.
„Es gibt eine Menge Gewalt in den Film, und was in erster Linie den Score vorantreibt, ist die zwiespältige Beziehung zwischen Chow Yun-Fats und Mark Wahlbergs Charaktere“, gab der Komponist dazu zu Protokoll. „Die Kombination aus östlichen und westlichen Instrumenten ist keine große Innovation für ein Filmset in Chinatown. Dennoch habe ich versucht, eine Art versteckte Welt zu kreieren, in der keine Tradition dominiert oder wirklich überlebt.“
Einen weiteren coolen Score hat Carter Burwell im Jahre 2000 zum Horror-Film „Blair Witch 2: Book of Shadows“ komponiert, wobei er den überwiegend elektronischen Score mit einigen außergewöhnlichen Sounds kombinierte.
„Der Score bezieht sich auf die Wälder, in denen der Film spielt – die Wälder, in denen wir verloren gehen und es nie nach Hause schaffen. Ich begann mit einem Stück, das ich bereits aufgenommen hatte, ‚Rock Water Wind‘, wobei plätscherndes Wasser, trommelnde und kratzende Felsen sowie Samples von wehendem Wind verwendet wurden, um eine Reihe von Loops zu basteln. Ich entwickelte die Idee mit zwei Musikern weiter, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite, Gitarrist David Torn und Schlagzeuger Geoffrey Gordon. Die finale Soundpalette war eine Kombination aus natürlichen Sounds und elektrischen Geräuschen“, erklärt Burwell auf seiner Website zu der Arbeit an diesem Soundtrack.
Ebenfalls im Jahre 2000 kam er wieder mit Regisseur Michael Almereyda zusammen, der ihn bereits 1986 für seinen Film „A Hero Of Our Time“ engagiert hatte. Nun stand eine moderne Version von Shakespeares Drama „Hamlet“ auf dem Programm, das bereits große Komponisten wie Berlioz, Tschaikowsky, Liszt und Schostakowitsch inspiriert hatte. Doch im Gegensatz zu diesen meist bombastischen Werken entschied sich Burwell ganz bewusst für eine sehr sparsame Instrumentierung und schwermütige, eindringliche Melodien.
Ganz anders sah die Arbeit an Brian Helgelands modernem Ritter-Abenteuer „A Knight’s Tale“ aus. Da dessen Skript auf der Annahme fußte, dass Ritterturniere vergleichbar mit modernem Stadionsport seien, sollten beide auch ihre Musik miteinander teilen. Deshalb wurden Stadion-Kracher wie Queens „We Will Rock You“ und „We Are The Champions“, Thin Lizzys „The Boys Are Back In Town“ oder „I Want To Take You Higher“ von Sly & The Family Stone gleich mit ins Skript eingebaut, während Burwells Job darin bestand, einige Brücken zwischen den musikalischen Zeitaltern zu bauen.
„Meine grundlegenden Themen mixten mittelalterliche Weisen mit poppigen Melodien, und die Instrumentation beinhaltete alles von Hurdy-Gurdy und altertümlichen Streichen bis zum sinfonischen Orchester und rauem Blechgeschrubber“, erklärt Carter Burwell. „Eine Szene ist ein formaler Tanz, die eine höfische Musik auf meinem Liebesthema basierend erforderte und dann in David Bowies Song ‚Golden Years‘ mündete. Das bedeutete mehrere Herausforderungen. Erstens musste der ganze Tanz choreografiert und in einem willkürlichen Tempo gefilmt werden, das in einer langsamen höfischen Geschwindigkeit begann und immer schneller wurde, bis Bowies Song einsetzte. Ich musste mich diesem Tempo und der Choreografie anpassen und auch einen nachvollziehbaren Weg vom formalen und beschränkten Tanz zu einem spaßigen 70’s Pop-Song finden. Wir haben Bowies Erlaubnis bekommen, einige Spuren von seinem Multitrack-Master zu ziehen, so dass ich diese in mein Arrangement mixen konnte, was mir dabei half, seinen Song einzuleiten, bevor er tatsächlich begann. Tony Visconti, der die originale Aufnahme des Songs produzierte, überwachte die Remix-Session, und auch Herr Bowie schaute herein, um zu hören, was wir in seinem Master gefunden haben.“
In den folgenden Jahren kam es mit der film-noir-Hommage „The Man That Wasn’t There“ (2001), der Mainstream-Komödie „Ein (un)möglicher Härtefall“ (2003) und dem Krimi-Klassiker-Remake „Ladykillers“ (2004) zu drei weiteren Zusammenarbeiten mit den Coen-Brüdern und nach „Being John Malkovich“ mit „Adaption“ (2002) zu einer zweiten Kollaboration mit Spike Jonze.
Ähnlich grotesk wie die Filme fielen dazu auch Burwells Scores aus, wobei die Musik zu „Being John Malkovich“ ungewöhnlich schwermütig ausfiel, aber auch voller wunderbarer romantischer Melodien steckte. Der Score zu „Adaption“ steckte dagegen wieder voller verrückter Sound-Experimente, für die der Komponist mittlerweile bekannt ist. Außerdem schrieb Carter Burwell die Musik zu Andrew Niccols Sci-fi-Hollywood-Satire „Simone“, schrieb neue Musik für den 1928 inszenierten Stummfilm „Lumiere et Ombre“ (2002), für das Theaterstück „Cara Lucia“ und die Dance-Performance „The Return of Lot’s Wife“ (beide 2003). Nach „Gods and Monsters“ engagierte Regisseur Bill Condon Carter Burwell auch für seinen nächsten Film „Kinsey“.
 Befasste sich „Gods and Monsters“ mit den letzten Jahren im Leben des „Frankenstein“-Regisseurs James Whale, ging es in Condons neuen Film um das Leben des Sexual-Forschers Alfred Kinsey. „Als ein Kind der 60er bin ich während einer ‚sexuellen Revolution‘ aufgewachsen, und ich wusste irgendwie, dass Alfred Kinsey der Vater dieser Revolution gewesen ist, aber sonst wusste ich nicht viel über ihn, bis ich Bill Condons Drehbuch las“, erinnert sich Burwell. „Ich war überrascht herauszufinden, dass Kinsey seine Arbeit in Indiana in den 40ern betrieb, im wirklichen Mittelamerika Mitte des 20. Jahrhunderts. Den Weg, den er von jener Mitte aus ans Ende einer neuen Grenze einschlug, war der Weg der Wissenschaft, der fanatischen Datensammlung, um genau zu sein. Dieser Prozess des Sammelns und die natürliche Welt zu katalogisieren, beginnend mit den Insekten und mit den Menschen endend, ließ ihn erkennen, dass Variation die ultimative Wahrheit ist.
Es war nicht offensichtlich, welche Art von Musik der Film benötigt. Die Figuren sind überwiegend Wissenschaftler, auch wenn der Film von Sex durchdrungen ist, wird die Hitze immer wieder von der kühlen Distanziertheit der Charaktere reduziert. Ich bekam das Gefühl, dass der interessanteste Aspekt des Films die sehr traditionelle Welt gewesen ist, aus der Kinsey und seine sehr nichttraditionelle Arbeit entsprang, also wurde der Score ziemlich ‚traditionell‘ im Ton und der Instrumentierung – mehr als in den meisten meiner Arbeiten. Ich habe auch versucht, Kinseys Einsamkeit und Andersartigkeit auszudrücken. Und vom Beginn des Films an habe ich nach einem Thema gesucht, das seine Liebe und das Studium der natürlichen Welt zum Ausdruck brachte, so dass man erkennen würde, dass seine spätere Arbeit mit der menschlichen Sexualität Teil desselben Interesses gewesen ist.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Score die Emotionen der Figuren spielt, aber in diesem Fall schien es wichtiger als gewöhnlich, nicht nur wegen Kinseys Probleme, sich selbst auszudrücken, sondern weil immer noch einige seine Arbeit als gefährlich, unverantwortlich und gar kriminell ansehen … Die meisten von uns sind sowohl Held als auch Monster – Kinsey ist etwas mehr von beidem. Wenn der Score irgendwie gelungen ist, dann erlaubt er dem Publikum, beide Aspekte dieses Mannes und seines Erbes zu erleben.“

Carter Burwell (Teil 3) - Klänge von Einsamkeit und Verzweiflung

Tatsächlich gehört es zu Carter Burwells Stärken, einfühlsame Musik zu kreieren, die die innersten Gefühle und Sehnsüchte der dazugehörigen Figuren zum Ausdruck bringen, gerade wenn es um Einsamkeit, Verzweiflung und Trauer geht. Diese Merkmale treffen auch auf seine letzten Werke zu, die er für das Oscar-prämierte Coen-Meisterwerk „No Country For Old Men“ und Sidney Lumets ebenso meisterhaftes Familien-Thriller-Drama „Before The Devil Knows You Are Dead“.

Mit „No Country For Old Men“, der Verfilmung des preisgekrönten Romans von Cormac McCarthy, begaben sich Joel und Ethan Coen mal wieder in die weite Prärie des Cowboy-Daseins, wo ein geplatzter Drogendeal das Leben vieler Menschen für immer verändert bzw. ganz auslöscht.
„Der Film ist der ruhigste, an dem ich je gearbeitet habe. Oft ist nichts zu hören außer dem Wind und den Stiefeln auf Caliche-Böden oder bestrumpften Füßen auf Fußböden. Dann gibt es sporadische Shootouts mit einer ungewissen Anzahl an Schützen mit Gewehren und automatischen Waffen. Es war lange Zeit unklar, welche Art von Score möglicherweise den Film begleiten könnte, ohne diese raue Stille zu stören. Ich sprach mit den Coens darüber, entweder einen All-Percussion-Score oder eine Melange von anhaltenden Tönen zu verwenden, die mit den Sound Effects verschmelzen würden, die aus der Landschaft kommen. Wir entschieden uns für die Töne“, erzählt Carter Burwell auf seiner Website in den Notizen zum Film. „Der All-Percussion-Score klang wie Spaß, und ich freue mich darauf, so etwas eines Tages zu machen, aber es ist ein Klischee, dass Drums ‘Action’ im Film begleiten. Dieser Sound brachte den Film unverzüglich zurück ins familiäre Territorium. Die anhaltenden Töne hielten den Film unruhig. Skip Lievsay, der Sound Editor, und ich sprachen früh über diese Herangehensweise, und er schickte mir ein paar Beispiele von entwickelten Sound Effects, so wie ich ihm Beispiele von Klangkompositionen schickte, überwiegend Sinus- und Sägezahnwellen sowie singende Kugeln. Der Effekt ist, dass die Musik aus den Soundeffekten auf hoffentlich subtile Weise auf- und wieder hineintaucht.“
Tatsächliche Score-Musik ist eigentlich erst zu hören, wenn der Film vorbei ist – im Abspann. Aber hier scheint der Komponist dann halbwegs aus dem Vollen geschöpft zu haben. „Die End Titles des Films riefen eine interessante Frage hervor: Der ganze Film fand ohne Songs oder einen identifizierbaren Score statt, also was lässt sich in über fünf Minuten an End Titles spielen, das weder anmaßend selbstbewusst (wie Stille oder Wind) noch aufdringlich sein würde (wie ein Pop-Song)? Ich schrieb schließlich etwas, das nur akustische Instrumente im Score enthielt, aber eine Weile benötigen würde, um in Erscheinung zu treten. Die ersten Sounds sind Percussions, die als Sound Effects verkleidet wurden. Die nächsten Klänge sind anhaltende Töne, die in dem Rest des Scores enthalten sind. Nach nur zwei Minuten setzen wirklich vertraute Instrumente ein, Gitarre und Bass, die dann bis zum Ende mit den Percussions spielen. Hoffentlich wirkt dies irgendwie mit dem Rest des Films, zumindest für die paar Leute, die beim Abspann sitzen bleiben.“
Weitaus mehr ist Carter Burwells Musik in dem ebenso hochkarätigen Thriller-Drama „Before The Devil Knows You’re Dead“ von Altmeister Sidney Lumet zu hören, wobei er
diesmal die Aufgabe übertragen bekam, einen bereits vorhandenen Score (von Richard Rodney Bennett) zu ersetzen.
„Ich habe Sidney Lumet noch nie vorher getroffen, bis er mich kontaktierte, um einen Score zu seinem Film zu ersetzen. Sidney hatte aus irgendwelchen Gründen das Gefühl, dass der originale Score (den ich nicht gehört habe) nicht funktionierte und dass die Musik dem Publikum etwas mehr über die Figuren erzählen müsste. Ich habe diesen Ratschlag ernst genommen, weil Lumet im Gegensatz zu den meisten amerikanischen Regisseuren den Underscore nicht übermäßig verwendet. Tatsächlich ist in vielen seiner besten Filme, wie er mich erinnert hat, kein Score zu hören, wie in ‚Network‘ und ‚Dog Day Afternoon‘. In diesem Film ist das Familien-Melodram in einem Krimi-Drama eingewickelt“, blickt Burwell auf die Zusammenarbeit mit Lumet zurück.
„Ich habe es immer vorgezogen, einen Film eher zu untermalen statt zu überspielen, aber in diesem Fall meinte Sidney, dass wir nicht zurückhaltend sein sollten, was das ‚Melodrama‘ angeht, und so klingt der Score zunächst etwas übernervös – auch für mich. Das Thema, das den Film als ‚Krimi-Drama‘ eröffnet, spielt schließlich die Kriminalisierung der Familie. Ein anderes Thema spielt Andy (Philip Seymour Hoffmans Charakter), der in vieler Hinsicht die treibende Kraft hinter der Implosion seiner Familie darstellt, und so wollte ich, dass das Publikum mit ihm sympathisiert. Der Trip, den sie mit ihm unternehmen, wird umso schrecklicher sein, wenn man mit ihm fühlt. Und ein schrecklicher Trip ist das, worum es in dem Film geht.“
Nach diesen beiden schwermütigen und auch teilweise brutalen Filmen durfte Carter Burwell mit den Coen-Brüdern mal wieder so richtig viel Spaß haben. Schließlich schufen sie mit „Burn After Reading“ eine durchgeknallte Agenten-Parodie, die musikalisch viel mehr Tempo und Rhythmus zuließ als die meisterhaften Dramen, an denen Burwell kurz zuvor gearbeitet hatte.
‘Burn After Reading‘ gibt vor, ein Spionage-Thriller zu sein – auf jeden Fall glauben das die Figuren im Film – aber es ist auch eine Sex-Komödie der Irrtümer. Oder wenn man weniger großzügig ist, der Dummheit. Um diese Genres ins Gleichgewicht zu bringen, habe ich früh gedacht, dass es die Musik nicht leisten kann, zu viel darüber auszusagen, was genau vor sich geht. Tatsächlich war mein erster Gedanke, dass der Score überwiegend voller Percussions sein sollte, um einen emotionalen Kommentar zu vermeiden. Etwas überraschend erwies sich das als richtig. Die Anziehungskraft von Percussions war, dass es der generellen Dummheit einen Hauch von Ernsthaftigkeit, Anziehungskraft und Bombast entgegensetzt. Es kann wichtig erscheinen, ohne zu sagen, warum es wichtig ist. Bedeutsam ohne eine spezielle Bedeutung. Eine Inspiration war Jerry Goldsmiths mächtig-percussiver Score zu ‚Seven Days In May‘.
Eine besondere Herausforderung für Carter Burwell stellte sich sein Engagement in der Verfilmung der Bestseller-Verfilmung von Stephenie Meyers Vampir-Romanze „Twilight“ dar. Als er im April 2008 in Oregon mit der Regisseurin Catherine Hardwicke zusammentraf, erfuhr er, dass dem Film noch eine Szene hinzugefügt werden sollte, die zwar im Buch vorkam, aber ursprünglich nicht für den Film vorgesehen war, nämlich um die, in der Edward am Piano Bella ein Lied vorspielt.
„Meine Aufgabe als Komponist besteht darin, einen Film als Ganzes zwingend, dramatisch, emotional und cinematisch zu machen. Aber in diesem Fall drängte sich eine weitere außergewöhnliche Herausforderung auf, die durch die Fans des Buches hervorgerufen wurde. Die Piano-Szene wurde hinzugefügt, weil die Produktionsfirma Summit realisierte, dass die Fans Edward am Piano die Melodie spielen hören wollten, die als ‚Bella’s Lullaby‘ bezeichnet wurde, und jeder der Fans hatte seine eigene Idee dazu im Kopf. Da ich noch nicht angefangen hatte, etwas zu schreiben, existierte ein musikalisches Vakuum, in das andere Musik eingefügt wurde. Edward-Darsteller Rob Pattinson improvisierte etwas für den Dreh. Matthew Bellamy von Muse sandte seine Idee für ‚Bella’s Lullaby‘ ein. Und unzählige Leser und Musiker schickten ihre eigenen Ideen oder veröffentlichten sie im Internet. Nichts davon machte meinen Job einfacher“, resümiert der Komponist.
„Als ich schließlich anfing, im frühen Juli Musik für ‚Twilight‘ zu schreiben, zog ich mit meiner Familie und meinem Studio von New York nach Los Angeles, um enger mit Catherine und dem editorischen Team zusammenzuarbeiten, mit Nancy Richardson als Film Editor und Adam Smalley als Music Editor. Ich begann den Score mit Bella und Edward, speziell mit der Szene, als er sie in die Baumwipfel trägt. Ich wollte die Aufregung aber auch die Herausforderung dieser Liebe einfangen, die Grenzen von Zeit und Spezies überschreitet. Als der Film geschnitten wurde, folgte die Piano-Szene der Baumwipfel-Szene, und die ganze Montage wies nur sehr wenig Dialog auf, so dass es eine gute Leinwand darstellte, auf der Bella und Edwards Liebes-Thema gemalt werden konnte.“
Carter Burwell probierte daraufhin verschiedene Sachen aus – mit mäßigem Erfolg, wie er meint -, bis er eine Melodie aufgriff, die er vor Jahren für eine Frau geschrieben hatte, die ihm das Herz gebrochen hatte. Die Regisseurin fand das Thema aufregend und außergewöhnlich, worauf dieses ganz spezielle Liebes-Thema im Film als ‚Bella’s Lullaby‘ Verwendung fand. Allerdings gefiel einem der Verantwortlichen nicht der dissonante Anfang des Stücks. Die Teenager-Mädchen im Publikum würden etwas Süßeres, Simpleres wünschen. Burwell schrieb einige weitere Variationen. Am Ende konnte sich der Komponist so durchsetzen, dass das originale Love Theme als eröffnendes Piano-Thema zu hören ist, während Rob zum Ende hin die Variation spielt, die Summit schließlich abgesegnet hatte.
„Ich sollte erwähnen, dass Christine, die Frau, für die ich die Melodie vor Jahren geschrieben hatte, nun meine wunderbare Frau ist. In meinem Herzen wird das Thema immer unseres sein, aber es ist nun auch Eures (und Bella und Edwards ebenso).“
Im September wurde der Score in Londons Air Lyndhurst Studios eingespielt, wobei die beiden Stücke „Bella’s Lullaby“ und „Showdown in the Ballet Studio“ mit 24 Musikern eingespielt wurde, der Rest mit einem Kern aus vier Streichern, drei Woodwinds, Piano, Harfe, Bass, Gitarre und Percussion.

„Ich habe Musik mit Orchestern von über 80 Musikern aufgenommen, aber so ein kleines Ensemble ist viel herausfordernder für die Spieler. Sie spielen nicht dieselben Noten wie die Person neben sich, und jeder von ihnen kann sehr deutlich herausgehört werden. Es ist auch für den Orchestrator – in diesem Fall für mich selbst – aufregender, einen vollen, reichhaltigen Klang von zehn Instrumenten zu bekommen. Es ist erfüllender. Der Vocal-Part in der Mitte von ‚Who Are They?‘ wurde übrigens von Lizzie Pattinson gesungen, Robs Schwester, die eine wunderbare Sängerin-Songwriterin aus London ist.“
Zu den letzten Arbeiten von Carter Burwell zählen der neue Coen-Film „A Serious Man“, Spike Jonzes Verfilmung des Kinderbuch-Klassikers „Where The Wild Things Are“ und John Lee Hancocks Film „The Blind Side“. An dieser Stelle sei noch einmal auf die hervorragende Website des Komponisten verwiesen, auf der viele persönliche Anekdoten und Download-Samples zu finden sind.
Weitere Infos: www.carterburwell.com

Filmographie:
1984 – Lensman (Animation), Regie: Kazuyuki Hirokawa/Yoshiaki Kawajiri
1985 – Blood Simple, Regie: Joel und Ethan Coen
1986 – Psycho III, Regie: Anthony Perkins
1986 – A Hero Of Our Time, Regie: Michael Almereyda
1987 – Raising Arizona, Regie: Joel und Ethan Coen
1990 – Miller’s Crossing, Regie: Joel und Ethan Coen
1991 – Barton Fink, Regie: Joel und Ethan Coen
1991 – Doc Hollywood, Regie: Michael Caton-Jones
1992 – Storyville, Regie: Mark Frost
1992 – Waterland, Regie: Stephen Gyllenhaal
1993 – This Boy’s Life, Regie: Michael Caton-Jones
1993 – And The Band Played On, Regie: Roger Spottiswoode
1993 – Kalifornia, Regie: Dominic Sena
1994 – Airheads, Regie: Michael Lehmann
1994 – It Could Happen To You, Regie: Andrew Bergman
1994 – The Hudsucker Proxy, Regie: Joel und Ethan Coen
1994 – Mother (Theater), Regie: John Edward McGrath
1995 – A Goofy Movie, Regie: Kevin Lima
1995 – Rob Roy, Regie: Michael Caton-Jones
1996 – Junky (Audiobook), gelesen von William S. Burroughs
1996 – Fear, Regie: James Foley
1996 – Joe’s Apartment, Regie: John Payson
1996 – The Celluloid Closet, Regie: Rob Epstein
1996 – The Chamber, Regie: James Foley
1996 – Fargo, Regie: Joel und Ethan Coen
1997 – Kiss The Girls (rejected), Regie: Gary Fleder
1997 – The Locusts, Regie: John Patrick Kelley
1997 – Assassin(s), Regie: Mathieu Kassovitz
1997 – Picture Perfect, Regie: Glenn Gordon Caron
1997 – Conspiracy Theory, Regie: Richard Donner
1997 – The Jackal, Regie: Michael Caton-Jones
1998 – The Big Lebowski, Regie: Joel Coen
1998 – The Spanish Prisoner, Regie: David Mamet
1998 – Velvet Goldmine, Regie: Todd Hayens
1998 – Gods & Monsters, Regie: Bill Condon
1998 – The Hi-Lo-Country, Regie: Stephen Frears
1999 – The General’s Daughter, Regie: Simon West
1999 – The Corruptor, Regie: James Foley
1999 – Mystery, Alaska, Regie: Jay Roach
1999 – Three Kings, Regie: David O. Russell
1999 – Being John Malkovich, Regie: Spike Jonze
2000 – What Planet Are You From?, Regie: Mike Nichols
2000 – Blair Witch 2: Book of Shadows, Regie: Joe Berlinger
2000 – Hamlet, Regie: Michael Almereyda
2000 – Before Night Falls, Regie: Julian Schnabel
2001 – A Knight’s Tale, Regie: Brian Helgeland
2001 – The Man That Wasn’t There, Regie: Joel und Ethan Coen
2002 - Lumiere et Ombre, Regie: Alfred Sandy (1928)
2002 – Simone, Regie: Andrew Niccol
2002 – The Rookie, Regie: John Lee Hancock
2002 – Adaption, Regie: Spike Jonze
2003 – The Return Of Lot’s Wife (Dance), Regie: Sara Pearson und Patrik Widrig
2003 – Cara Lucia (Theatre), Regie: Sharon Fogarty
2003 – Intolerable Cruelty, Regie: Joel und Ethan Coen
2004 – The Ladykillers, Regie: Joel und Ethan Coen
2004 – The Alamo, Regie: John Lee Hancock
2004 – Kinsey, Regie: Bill Condon
2005 – Theater Of The New Year (Theatre: "Sawbones," Regie: Joel und Ethan Coen,
"Hope Leaves the Theater," Regie: Charlie Kaufman, "Anomalisa," Regie: Francis Fregoli)
2006 – Fur: An Imaginary Portrait of Diane Arbus, Regie: Steven Shainberg
2006 – The Hoax, Regie: Lasse Hallström
2006 – Moving Gracefully Toward The Exit, Regie: Patrice Regnier
2007 – No Country For Old Men, Regie: Joel und Ethan Coen
2007 – Before The Devil Knows You Are Dead, Regie: Sidney Lumet
2008 – In Bruges, Regie: Martin McDonagh
2008 – Burn After Reading, Regie: Joel und Ethan Coen
2008 – Twilight, Regie: Catherine Hardwicke
2009 – A Serious Man, Regie: Joel und Ethan Coen
2009 – Where The Wild Things Are, Regie: Spike Jonze
2009 – The Blind Side, Regie: John Lee Hancock
2010 - The Kids Are All Right, Regie: Lisa Cholodenko
2010 – Howl, Regie: Rob Epstein und Jeffrey Freidman

Playlist # 38 vom 01.08.10 - CARTER BURWELL

1 Carter Burwell - Chain Gang (Blood Simple) - 04:47
2 Carter Burwell - Overture (Conspiracy Theory) - 04:21
3 Carter Burwell - Exercise In Darkness (The General's Daughter) - 04:28
4 Carter Burwell - Jackal Followed & Parking Garage (The Jackal) - 06:25
5 Carter Burwell - The Corruptor (The Corruptor) - 02:57
6 Carter Burwell - Adaption -Fatboy Slim Remix (Adaption) - 04:50
7 Carter Burwell - When The World Was Wet (Storyville) - 04:00
8 Carter Burwell - The Trial Of Ed Crane (The Man That Wasn't There) - 03:48
9 Carter Burwell - We Love You So (Where The Wild Things Are) - 04:40
10 Carter Burwell - Showdown In The Ballet Studio (Twilight) - 04:50
11 Carter Burwell - A Serious Man (A Serious Man) - 02:48
12 Carter Burwell - Blood Trail Edit (No Country For Old Men) - 03:55
13 Carter Burwell - Rock Water Wind (Blair Witch 2: Book Of Shadows) - 07:06

Sonntag, 18. Juli 2010

Playlist # 37 vom 18.07.10 - JOHN POWELL

Spätestens mit seinen fulminanten Action-Scores zu den drei bislang inszenierten „Bourne“-Filmen hat sich John Powell in die erste Liga der Hollywood-Komponisten gespielt. Und seine Arbeiten für Filme wie „Jumper“, „Mr & Mrs Smith“, „D-Tox“, „The Italian Job“, „Green Zone“ und „Hancock“ haben immer wieder Powells Virtuosität im Action-Genre unter Beweis gestellt. Schließlich feierte er 1997 mit dem Score zu John Woos Psycho-Thriller „Face/Off“ auch einen imponierenden Einstand in Hollywood.

Seine musikalische Laufbahn begann er im Alter von 13 Jahren im Spannungsfeld zwischen Rock’n’Roll und Jazz, bevor er 1986 seine klassische Musikausbildung am Londoner Trinity College of Music begann. Zu jener Zeit trat er der Performance-Art-Gruppe Media Arts bei, wo er mit seinem langjährigen Partner Gavin Greenaway Musik und Klänge für konzeptionelle Aufführungen komponierte. Ab 1988 fing Powell an, bei der ebenfalls in London ansässigen Firma Air-Edel Music für Werbung und TV-Produktionen zu komponieren, wo er mit seinen Kollegen Hans Zimmer („White Fang“) und Patrick Doyle („Into The West“) zusammenarbeitete. 1995 gründete Powell mit Greenaway die Firma Independently Thinking Music (ITM), wo sie mehr als 100 britische und französische Werbeclips und Independent-Filme vertonten. Zwei Jahre später zog es John Powell in die USA, wo er gleich für Steven Spielbergs Fernsehserie „High Incident“ angeheuert wurde. Mittlerweile ist John Powell als extrem vielseitiger Komponist bekannt. Neben den erwähnten Action-Thrillern sind es vor allem Trickfilme wie „Antz“, „Ice Age 2 + 3“, „Chicken Run“, „Shrek“, „Robots“, „Bolt“, „Horton hört ein Hu!“ und (Liebes-)Komödien wie „Gigli“, „Evolution“, „Rat Race“, „Auf die stürmische Art“, „Be Cool“ und aktuell der Tom-Cruise-Film „Knight And Day“, die John Powells Filmographie und seine musikalische Vielseitigkeit auszeichnen.

Filmographie
1994: Les Escarpins sauvages
1996: High Incident (TV-Serie)
1997: Im Körper des Feindes (Face/Off)
1998: Die menschliche Bombe
1998: With Friends Like These
1998: Antz
1999: Endurance
1999: Auf die stürmische Art (Forces of Nature)
1999: Der Chill Faktor (Chill Factor)
2000: Der Weg nach El Dorado (The Road to El Dorado)
2000: Chicken Run – Hennen rennen (Chicken Run)
2001: Just Visiting – Mit Vollgas in die Zukunft (Just Visiting)
2001: Shrek (mit Harry Gregson-Williams)
2001: Evolution
2001: Rat Race – Der nackte Wahnsinn (Rat Race)
2001: Ich bin Sam (I Am Sam)
2002: D-Tox – Im Auge der Angst (D-Tox - Eye – See You)
2002: Die Bourne Identität (The Bourne Identity)
2002: Drumline
2002: Pluto Nash – Im Kampf gegen die Mondmafia (The Adventures of Pluto Nash)
2002: Ein Chef zum Verlieben (Two Weeks Notice)
2003: Stealing Sinatra
2003: Agent Cody Banks
2003: Ein ungleiches Paar (The In-Laws)
2003: The Italian Job – Jagd auf Millionen (The Italian Job)
2003: Liebe mit Risiko – Gigli (Gigli)
2003: Paycheck – Die Abrechnung (Paycheck)
2004: Die Bourne Verschwörung (The Bourne Supremacy)
2004: Alfie
2004: Mr. 3000
2005: Miss Undercover 2 (Miss Congeniality 2)
2005: Robots
2005: Be Cool
2005: Mr. & Mrs. Smith
2006: Ice Age 2: Jetzt taut's (Ice Age: The Meltdown)
2006: X-Men: Der letzte Widerstand (X-Men: The Last Stand)
2006: Flug 93 (United 93)
2006: Happy Feet
2007: Das Bourne Ultimatum (The Bourne Ultimatum)
2007: P.S. Ich liebe Dich (P.S. I Love You)
2008: Jumper
2008: Horton hört ein Hu! (Horton Hears a Who!)
2008: Kung Fu Panda (zusammen mit Hans Zimmer)
2008: Stop-Loss
2008: Hancock
2008: Bolt – Ein Hund für alle Fälle
2009: Ice Age 3: Die Dinosaurier sind los
2010: Green Zone
2010: Drachenzähmen leicht gemacht (How to Train Your Dragon)
2010: Knight And Day
2010: Fair Game

Playlist
1 John Powell - Ready For The Big Ride (Face/Off) - 03:53
2 John Powell - On Bridge Number 9 (The Bourne Identity) - 03:41
3 John Powell - To The Roof (The Bourne Supremacy) - 05:32
4 John Powell - Golden (The Italian Job) - 04:05
5 John Powell - Foggy Balance (Ice Age: The Meltdown) - 03:53
6 John Powell - Horton Suite (Horton Hears A Who!) - 06:52
7 John Powell - Starbucks & Hospital (I Am Sam) - 05:04
8 John Powell - Kitchen Waltz (P.S. I Love You) - 04:56
9 John Powell - Goodbye (Gigli) - 04:23
10 John Powell - Chaos/Email (Green Zone) - 04:17
11 John Powell - Trouble On I-93 (Knight And Day) - 04:06

Sonntag, 4. Juli 2010

Playlist # 36 vom 04.07.10 - SIMON FISHER TURNER

Simon Fisher Turner wohnt nicht in Hollywood und zählt auch nicht zu den größten Filmkomponisten seiner Zeit, aber er wird all denen ein fester Begriff sein, die die außergewöhnlichen Filme von Derek Jarman kennen. Er hat den Traum-Allegorien und melancholisch-wütenden Filmessays des am 19. Februar 1994 Jahres an AIDS verstorbenen Kultregisseurs stets das entsprechende musikalische Sujet verliehen.

Sein musikalischer Werdegang ist dabei ebenso obskur wie seine surrealistisch anmutende, äußerst feinsinnig inszenierte Musik. Turner studierte am Betteshanger in Kent Piano, Violine, Gitarre, Klarinette und Gesang, arbeitete bei Plattenfirmen wie UK Records, Cherry Red, London Records (USA), war Mitglied von Portsmouth Symphonia, war als Musiker in verschiedenen Galerien tätig, gründete das Label Papier Mache, produzierte zwei Alben von Deux Filles, spielte Gitarre und Bass bei The The (1981/82) und begann 1978 seine langjährige Zusammenarbeit mit Derek Jarman.
"Ich wurde ihm zu einem Zeitpunkt vorgestellt, als ich kein Geld und keinen Job hatte. Er fragte mich, ob ich ihm beim Umzug helfen, ob ich fahren könnte, und ich sagte, ja natürlich. Er hatte gerade 'Jubilee' abgedreht, und ich begann in der Produktionsfirma als künstlerischer Berater zu arbeiten", erinnert sich Simon.
"Danach machte er 'The Tempest', wobei ich wieder in der Produktion tätig war. Aber während der Dreharbeiten zu 'The Tempest' hatten wir am Drehort musikalische Abende, wo ich Piano und Gitarre spielte, ein Tänzer namens Orlando tanzte und H. Williams, der Prospero spielte, seine Gedichte vorlas. Es waren fast kleine Shows, und wir hatten eine Menge Spaß dabei.
Für 'Caravaggio' war ich überraschenderweise als Schauspieler integriert, aber nur in einer Nebenrolle. Während der Dreharbeiten wurde man darauf aufmerksam, dass wir den Film machten, und Komponisten schickten Tapes, um den Job für die Musik von 'Caravaggio' zu bekommen. Derek meinte, ich sollte sie mir alle anhören, und nachdem ich das getan hatte, trafen wir auch einige Leute, aber wir konnten uns für niemanden, der die Musik machen sollte, so richtig entscheiden. Als Derek eines Tages aus Italien zurückkam, fragte er mich, ob ich die Musik machen wollte. Ich nahm begeistert an. Ich wusste nichts über Filmmusik, ich hatte keine Idee, wie ich sie aufnehmen sollte, es war eine völlig neue Welt für mich. Aber es ermöglichte mir auf einmal, mit klassischen Musikern zu arbeiten, alte Instrumente zu benutzen. Ich denke, die Musik zu 'Caravaggio' war die Musik, die ich als Kind hörte, eine simulierte religiöse Musik, die ich ohne Synthesizer, nur mit Instrumenten einspielen wollte.
Heutzutage arbeite ich mit einer Verbindung aus Musikern, die richtige Instrumente wie Cello und Trompete spielen, und Tapes, Samples, Piano, Gitarre."
Simons ausgiebigen, oft siebzigminütigen Scores zu Filmen wie "The Last Of England", "Edward II", "The Garden" und schließlich "Blue" (alle bei Mute erschienen) zählen zu den außergewöhnlichsten Filmmusiken überhaupt, brechen sie doch mit fast allen Konventionen des Genres, und der Enthusiasmus, der dabei in der vielschichtigen Musik zum Ausdruck kommt, resultiert fraglos auch aus der Begeisterung, die Simon seinem Freund entgegenbrachte.
"Die Qualität von Dereks Filmen ist unvorstellbar weit, sie verfügen über eine besondere künstlerische Konzeption von Bildern. Derek war ursprünglich ein Maler und ein Dichter, bevor er eine Super 8-Kamera in die Hand bekam, aber er hatte eine unbeschreibliche Tiefe in den Visionen und der Ehrlichkeit. Er benutzte fast die ganze emotionale Breite. Ich mag nicht alle seine Filme. Ich denke, er brachte zu sehr seine Sexualität mit ein, aber als Regisseur kann er das tun. Dadurch verärgerte er aber auch Teile des Publikums, weil er wegen seiner Sexualität stets sagen wollte: Ich bin homosexuell; ich glaube, dies ist richtig, das ist falsch. Seine Filme waren politisch, außergewöhnlich. Derek hat immer mit einem Kollektiv von Freunden zusammengearbeitet und ließ den Dingen freien Lauf. Es machte immer Spaß, einen Film zu machen, obwohl er sehr ernsthaft war. Spaß war stets dabei, weil die Arbeit um Derek herum passierte, und Derek trieb uns alle an. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich ihn vermisse. Wir müssen den Geist seiner Arbeit weiterführen, den Enthusiasmus über das Leben."
Als Jarman seinen letzten Film "Blue" realisierte, war er, bedingt durch seine AIDS-Infektion, erblindet und hatte seinen Tod bereits vor Augen. Der Film stellte, da er nur blau war und allein von der Poesie Jarmans und der Musik lebte, auch für Simon eine besondere Herausforderung dar.
"Ich musste den Worten lauschen, die Musik entstand aus den Gedichten, mit denen ich mich sehr vertraut fühlte. Alles, was wir für 'Blue' versuchten, war, allein die Worte zu illustrieren. Das war meine Hauptaufgabe. Wir waren sehr glücklich darüber, mit einem Mann namens Markus Dravius aus Frankfurt zusammenzuarbeiten, der ein Mitarbeiter von Brian Eno ist. Er nahm die Sachen ganz toll auf. Wir hielten uns einen Monat bei Brian auf und entspannten uns einfach. Wir frühstückten und hörten nur den Worten zu und überlegten, welche Musik dazu passen würde. Derek kam immer mal ins Studio, um zu sagen, was ihm gefiel und was nicht. Aber ich wusste von diesem Projekt schon seit Jahren und machte in Italien einige 'Blue'-Konzerte, um das Interesse an dem Film zu wecken.
Die Konzerte waren völlig anders als der Film, aber sie gaben uns eine Idee davon, wie die Musik sein sollte. Danach war es eine Sache des Telefonierens, Freunde zu fragen, ob sie Gefallen an dem Projekt finden würden."
Und so nahmen neben Simon Turner, der die übrigen Musikbeiträge zu einer furiosen Collage zusammensetzte, u.a. Miranda Sex Garden, Coil, Momus, Vini Reilly und Brian Eno teil, die auf ihre Weise einem besonderen Freund huldigten.
Abgesehen von seinen Soloaktivitäten schrieb Simon aber auch für andere Regisseure die Filmmusik, meist für englische Produktionen, von denen Andi Engles "Melancholia" bei Silva Screen auf CD veröffentlicht wurde. Mittlerweile arbeitet er auch mal in Hollywood oder Australien, wobei er stets versucht, einen Kompromiss zwischen den Wünschen des Regisseurs und seinen eigenen Ideen zu finden.
"Mein Job als Soundtrackkomponist ist, das zu tun, was der Regisseur möchte, aber ich mache auch immer das, was ich möchte. Ich bin mir gegenüber in musikalischer Hinsicht nie unglaubwürdig geworden, weil ich von Filmemachern vermutlich gerade wegen meiner Ideen engagiert werde. Aber das ist eine Sache von Kommunikation und Vertrauen. Es wird viel Zeit mit Reden und Nachdenken verbracht. Ich neige dazu, in Filme involviert zu werden, während sie gedreht werden. Die meiste Filmmusik wird komponiert, wenn der Film fertig gestellt ist. Ich habe gerade einen Film gemacht, der in sechs Monaten entstanden ist. Meine Arbeit, den Soundtrack aufzunehmen, dauerte zwei Wochen, aber ich war jeden Tag am Set, wo ich Tape-Recorder, Sampler und Zugang zu allem hatte, was mit dem Film zusammenhing. Das ermöglicht mir einen viel besseren Einblick in den Film, wenn ich ihn vom ersten Tag an verfolge.
Die Leute fragen natürlich, wer ich bin, was ich mit einem Tape-Recorder mache, aber ich habe das immer sehr gemocht, stets am Drehort zu sein. Ich habe in erster Linie dem Regisseur und mir selbst zu gefallen, und ich bin nur dem Regisseur gegenüber verpflichtet, nicht der Produktionsfirma."
Nach dem Tod von Derek Jarman fällt es Simon allerdings schwer, sich für die Filme anderer Leute zu begeistern.
"Ich kam zufällig zur Filmmusik, und zwar durch Derek Jarman. Ich wollte nie ein Komponist werden, schon gar nicht für Filmmusik. Momentan möchte ich tatsächlich viel weniger Musik machen, weil es mir nach dem Tod von Derek und seinem außergewöhnlichen Film 'Blue' schwer fällt, Interesse an Filmen anderer Leute zu finden, obwohl ich gerade ständig an Filmmusik arbeite. Das ist ein ziemliches Problem, da muss ich für mich selbst sorgfältig auswählen. Ich möchte jetzt extreme Bilder haben, aber es gibt heutzutage nicht viele Filmemacher wie Derek einer war."
Tatsächlich ist Simon Fisher Turner in den vergangenen Jahren recht wenig filmmusikalisch tätig gewesen, für das schwarz-weiße Vampir-Drama „Nadja“ beispielsweise. Am liebsten betätigt sich der unkonventionelle Komponist auf den Gebieten experimenteller Musik. Sein 2002 veröffentlichtes Album „Swift“ war beispielsweise wie ein Mosaik konstruiert, bei dem Improvisationen von einem Musiker-Team mit anderen Klangquellen zusammengefügt wurden.
Für das 2004er Nachfolgealbum „Lana Lara Lata“ arbeitete Fisher Turner mit dem französischen Klangkünstler Rainier Lericolais und dem italienischen Electronica-Duo T um‘ zusammen.
'Lana' ist eine Art von Geistermusik. Es ist durch eine Vielzahl von Köpfen und Räumen auf eine Weise gegangen, die ich sehr interessant finde“, erklärt Turner und beschreibt damit einen kreativen Prozess, bei dem das ursprüngliche Material am Ende der musikalischen Verarbeitung nur noch rudimentär vorhanden gewesen ist. Auf dem Album ist der Komponist auch als Sänger zu vernehmen, wenn auch meist elektronisch verfremdet.
„Ob man nun versteht, was ich sage, oder nicht, spielt keine Rolle. Aber was ich sage, ist wahr für mich. Ich liebe es einfach, Songs auf den Punkt zu bringen. Ich liebe es zu singen. Das tue ich, seit ich als Achtjähriger in einem Kirchenchor gesungen habe.“
Wie schon bei „Swift“ ist auch „Lana“ mit einer DVD - „Lara“ - ausgestattet, zu denen Sebastian Sharples die Visuals beigesteuert hat, und mit „Lata“ gibt es zudem auch ein von Paul Farrington kreiertes Klangspielzeug, mit dem der Hörer verschiedene Auszüge aus dem Album manipulieren kann. „Es ist eines der schönsten Dinge, die ich je gesehen habe“, meint Fisher Turner. „Es ist einfach wild. Ich liebe es!”
Doch trotz der ausgefallenen Ideen, die das Schaffen von Simon Fisher Turner prägen, würde er gern auch mal ein Album mit konventionellen Songs produzieren.
„Ich würde es lieben, ein Album mit Songs zu machen, aber ich bräuchte einen Songschreiber-Partner.“ Wir sind gespannt, welche Überraschungen uns da noch ins Haus stehen …

Diskographie:
1973 – Simon Turner
1985 - The Bone of Desire
1986 - Caravaggio Original Soundtrack
1987 - The Last of England Original Soundtrack
1989 - Melancholia Soundtrack
1991 - Edward II Original Soundtrack
1991 - The Garden Original Soundtrack
1992 - I've Heard the Ammonite Murmur
1992 – Sex Appeal (Simon Turner vs. The King of Luxembourg)
1993 – Revox
1993 – The Many Moods of Simon Turner
1994 - Blue: A Film by Derek Jarman
1995 - Live Blue Roma (The Archaeology of Sound)
1995 - Nadja
1996 - Shwarma
1996 - Loaded Original Soundtrack
1999 - Still, Moving, Light
1999 - Oh Venus
1999 - Eyes Open
2000 - Travelcard
2002 - Riviera Faithful
2002 – Swift
2005 – Lara Lana Lata
2008 – Lifesounds
2009 – Music from Films You Should Have Seen

Playlist 
1 Simon Fisher Turner - The End Credits (Edward II) - 06:40
2 Simon Fisher Turner - Autumn Leaf (The Last Of England) - 03:27
3 Simon Fisher Turner - I Love You More Than My Eyes (Caravaggio) - 06:48
4 Simon Fisher Turner - Pure Blue (Live Blue Roma) - 04:26
5 Simon Fisher Turner - Series Of Cars (Lana) - 09:08
6 Simon Fisher Turner - Strung Out (Shwarma) - 07:34
7 Simon Fisher Turner - Virgin On The Rock/Stick Up/Warm (Melancholia) - 03:37
8 Simon Fisher Turner - Love, Death, Avoid It (Nadja) - 03:44
9 Simon Fisher Turner - Moist (Revox) - 09:48

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