Radio ZuSa

Montag, 25. Mai 2015

Playlist #164 vom 31.05.2015 - NEUHEITEN 2015 (2) Special

Im ersten Neuheiten-Special dieses Jahres Ende März brachte ich die Hoffnung auf ein sehens- und hörenswertes Filmjahr 2015 zum Ausdruck, nachdem die diesjährige Oscar-Verleihung auf ein tolles Kinojahr 2014 zurückblicken ließ. Tatsächlich scheint sich die Hoffnung auch in filmmusikalischer Hinsicht zu erfüllen. Nicht mal zehn Wochen nach dem letzten Neuheiten-Special hat sich wieder so viel interessantes Material angesammelt, dass sich damit gute zwei Stunden „Soundtrack Adventures“ auf Radio ZuSa füllen lassen.
Neben vertrauten Namen wie Hans Zimmer, Carig Armstrong, Harry Gregson-Williams und Mark Isham lassen auch neue Namen wie Darren Fung, Johnny Jewel und Trevor Yuile aufhorchen.

Den Auftakt bestreitet eine gemeinsame Arbeit von Martin Phipps und Hans Zimmer. Während allein der Name von Hans Zimmer dafür sorgen wird, dass dem Soundtrack die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwird, ist der englisch-schwedische Komponist Martin Phipps vor allem für britische Literaturverfilmungen von Jane Austens „Verführung“ und „Sinn und Sinnlichkeit“ wie für die Fernsehserie „Wallander“ bekannt. Für Simon Curtis‘ Historiendrama „Die Frau in Gold“ schufen Phipps und Zimmer einen sehr einfühlsam-eindringlichen Score, der an die stärksten Elemente von Zimmers „Interstellar“-Score erinnert.
Nicht ganz so gekonnt ist Daniel Espinosas („Safe House“, „Easy Money“) Adaption von Tom Rob Smiths Bestseller „Kind 44“ ausgefallen, der die düstere Atmosphäre der stalinistischen Nachkriegsära in der Sowjetunion durch einen ebenso bedrohlichen Score seines schwedischen Landsmanns Jon Ekstrand untermalen ließ. Ruhig geht es auch mit den Auszügen aus den nachfolgenden Scores von Cyrille Aufort („Un Homme Idéal“), Peter Gregson („A Little Chaos“), Harry Escott („The Face Of An Angel“), Johnny Jewel („Lost River“) und Atticus Ross („Blackhat“). Das eingespielte Duo Nick Cave und Warren Ellis hat zu David Oelhoffens Kolonialdrama „Den Menschen so fern“ einen sehr fragilen Akustik-Score komponiert, während Paul Cantelon zu Richard Laxtons viktorianischen Biopic „Effie Gray“ vor allem das Piano und einige Streicher ins Zentrum seiner Musik stellte.
Dass für Fernsehserien außergewöhnliche Musik komponiert werden kann, haben nicht nur Angelo Badalamenti („Twin Peaks“), Mark Snow („Akte X“) oder Michael Giacchino („Lost“) bewiesen, auch die jüngsten Produktionen machen Lust auf die dazugehörigen Soundtracks, wie Trevor Yuile mit seiner lebendigen Musik zur Science-Fiction-Thriller-Serie „Orphan Black“, die TV-Serien-versierten Trevor Morris („Die Borgias“, „Die Tudors“, „Die Firma“) zur Wikinger-Serie „Vikings“ und Bear McCreary ("Battlestar Galactica", "Eureka", "The Walking Dead")  sowie Neil Davidge zur britischen Krimiserie „Spotless“ beweisen.
Abgerundet wird das heutige Neuheiten-Special mit den exotisch angehauchten Dokumentarfilm-Arbeiten von Darren Fung zu „The Great Human Odyssey“, Jeff Beals „The Dovekeepers“ und Harry Gregson-Williams‘ „Disneynature: Monkey Kingdom“.
Wirklich schöne Klänge gibt es schließlich im Bereich des romantischen Dramas von Dario Marianelli zu Paul Haggis‘ „Dritte Person“ mit Liam Neeson und Mila Kunis in den Hauptrollen, von Rob Simonsen zu „Für immer Adaline“, von Craig Armstrong zu Thomas Vinterbergs "Am grünen Rand der Welt" und von Mark Isham zur neuen Nicholas-Sparks-Adaption „Kein Ort ohne Dich“ zu hören.
Playlist:
01. Martin Phipps & Hans Zimmer - Maria Altman (Woman In Gold) - 03:09
02. Jon Ekstrand - There Is A Witness (Child 44) - 05:51
03. Cyrille Aufort - Epilogue (Un Homme Idéal) - 02:36
04. Peter Gregson - The Music Comes From The Heavens (A Little Chaos) - 03:24
05. Harry Escott - Fragments (The Face Of An Angel) - 05:07
06. Atticus Ross - Movements (Blackhat) - 06:16
07. Johnny Jewel - Fossil Fuels (Lost River) - 04:32
08. Nick Cave & Warren Ellis - Dust Storm (Loin Des Hommes) - 05:04
09. Paul Cantelon - Prologue (Effie Gray) - 03:15
10. Trevor Yuile - Endless Forms Most Beautiful (Orphan Black) - 07:18
11. Trevor Morris - Rollo's Trial (Vikings - Season Two) - 03:32
12. Neil Davidge - Birthday Video (Spotless) - 03:40
13. Neil Davidge - Leaving Williams Behind (Monsters: Dark Continent) - 04:21
14. Bear McCreary - The Losing Side Of History (Outlander - The Series Vol. I) - 04:52 
15. Dario Marianelli - No One Ever Called Me That (Third Person) - 07:50
16. Christophe Beck - Five Miles Away (Good Kill) - 02:47
17. Darren Fung - The Wise, The Evolved (The Great Human Odyssey) - 05:00
18. Jeff Beal - Life In Jerusalem (The Dovekeepers) - 07:37
19. Marc Streitenfeld - Home Free (Poltergeist) - 02:03
20. Harry Gregson-Williams - Journey Home (Disneynature: Monkey Kingdom) - 03:05
21. Rob Simonsen - Hospital Confessions (The Age Of Adaline) - 05:16
22. Mark Isham - In The Saddle (The Longest Ride) - 02:57
23. Craig Armstrong - Opening (Far From The Madding Crowd) - 04:40
24. Benjamin Wallfisch - Desert Dancer (Desert Dancer) - 09:26

Soundtrack Adventures #164 with new scores from Zimmer, Armstrong, Isham @ Radio ZuSa 2015-05-31 by Dirk Hoffmann on Mixcloud

Sonntag, 10. Mai 2015

Playlist #163 vom 17.05.2015 - SEAN PENN Special

Sean Penn zählt nicht nur zu einem der bekanntesten Vertreter des Method Acting, mit seiner akribischen Vorbereitung auf seine Rollen ist er zu einem der prominentesten Darsteller in Hollywood avanciert und hat sich längst auch als Regisseur einen Namen gemacht. Nachdem er in den vergangenen Jahren eher in kleineren Rollen zu sehen war, kehrt er nun in „The Gunman“ mit einer sehr physisch präsenten Hauptrolle auf die Leinwand zurück.
Als Sohn von Regisseur Leo Penn und Schauspielerin Eileen Ryan war der Weg von Sean Penn ins Filmgeschäft bereits vorgezeichnet. Ebenso wie sein jüngerer, am 24.01.2006 verstorbene Bruder Chris zog es Sean Penn zur Schauspielerei, während sein älterer Bruder Michael Musiker wurde. Schon in seiner Jugend drehte Sean Penn mit seinem Bruder Chris und den Freunden Charlie Sheen, Emilio Estevez und Rob Lowe zahlreiche Super-8-Kurzfilme, ehe er nach der High School Schauspielunterricht nahm und nebenbei am Group Repertory Theatre in Los Angeles als Laufbursche und Assistent arbeitete.
Kaum hatte er sein Schauspiel-Debüt am Broadway in dem Stück „Heartland“ absolviert, wurde Hollywood auf den talentierten Darsteller aufmerksam. In seinem Kinodebüt „Die Kadetten von Bunker Hill“ (1981) stand er neben Tom Cruise vor der Kamera. Es folgten die Highschool-Komödie „Ich glaub‘, ich steh im Wald“ und Dennis Hoppers sozialkritischer Copthriller „Colors – Farben der Gewalt“, bevor er mit Filmen wie „Carlito’s Way“ und „Dead Man Walking“ den Durchbruch schaffte und seine ersten Golden-Globe- bzw. Oscar-Nominierungen erhielt.
Weitere Academy-Awards-Nominierungen brachten ihm seine Darstellungen in Woody Allens Komödie „Sweet and Lowdown“ und Nick Cassavetes‘ Behinderten-Drama „Ich bin Sam“ ein.
1991 feierte Penn mit „Indian Runner“ sein Regiedebüt. Der Film erzählt die Geschichte des ordnungsliebenden, gesetzestreuen Kleinstadt-Sheriffs Joe Roberts (David Morse), der schwer damit zu kämpfen hat, einen Kriminellen in Notwehr erschossen zu haben. Sein aus Vietnam zurückgekehrter Bruder Frank (Viggo Mortensen) gerät dagegen immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt und kehrt nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis seiner Heimatstadt den Rücken. Erst nach dem Selbstmord seines Vaters wird er von Joe und dessen Frau Maria im Elternhaus aufgenommen, doch dann bricht Franks jähzorniges Temperament durch.
Obwohl stark mit David Morse, Patricia Arquette, Viggo Mortensen und Dennis Hopper besetzt, konnte das ruhig erzählte Drama Publikum und Kritik nicht gänzlich überzeugen.
Penn zeigt ein in Hollywood wenig porträtiertes Amerika fernab aller Bilderbuchvorstädte. So erinnert ,Indian Runner' an das englische Arbeiterkino der Sechziger Jahre und etabliert einen tristen Handlungsort, den der American Dream nie erreicht hat. Die stärksten Momente des Films setzen sich damit auseinander, doch insgesamt weiß der Film zu wenig mit seinem Sujet anzufangen, bleibt ein bisschen schwammig und läuft zu sehr am Zuschauer vorbei“, meint filmsucht.org.
1995 folgte mit „Crossing Guard – Es geschah auf offener Straße“ Sean Penns zweite Regiearbeit, in der Jack Nicholson als rachsüchtiger Säufer Freddy Gale überzeugt, der nach dem Unfalltod seiner Tochter darauf wartet, dass der verantwortliche Fahrer John Booth (David Morse) aus dem Gefängnis entlassen wird. Als es endlich so weit ist, bringt es Freddy aber nicht über sich, Booth zu töten, und lässt sich auf einen merkwürdigen Deal ein, den Booth ihm vorschlägt.
Sean Penns Inszenierung ist nicht immer fulminant. Die schnitttechnische Gegenüberstellung von Stripclub und Trauergeschichten - recht offensichtlicher Symbolismus für den Verfall der Moral - ist etwas dick aufgetragen, doch der Film kratzt immer dann an Brillanz, wenn Jack Nicholson und David Morse agieren. Beide liefern unglaublich intensive Darstellungen ab, die derart mitreißend sind, dass man einerseits dem einen, andererseits dem anderen ein Happy End wünscht. Und dennoch weiß man, dass es für keinen eines geben kann. Das Finale ist grandios, erweist John Booth seinem Verfolger Freddy doch das vielleicht größte Geschenk, das er ihm machen könnte: Er führt ihn an einen Ort, an dem er endlich trauern kann“, heißt es bei movieman.de.
Mit Jack Nicholson arbeitete Sean Penn auch bei seinem dritten Film zusammen. Nach „Crossing Guard“ waren beide auf der Suche nach dem passenden Projekt und stießen auf Friedrich Dürrenmatts Krimi-Drama „Das Versprechen“ aus dem Jahre 1958, das bereits mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe erfolgreich verfilmt wurde. Penn verlegte die Geschichte in die USA und besetzte Nicholson in der Rolle des kurz vor der Pensionierung stehenden Detectives Jerry Black, der den Fall eines sexuell missbrauchten und bestialisch ermordeten Mädchens aufzuklären hat. Er verspricht der Mutter des ermordeten Mädchens, den Täter zu fassen, doch als der vermeintliche Mörder verhaftet wird, ist Jerry nach wie vor davon überzeugt, dass der wahre Täter sich noch irgendwo da draußen herumtreibt und bereits sein nächstes Opfer sucht. Black plant eine riskante Falle und bringt damit das Leben eines weiteren Mädchens in Gefahr.
„Das Beste an diesem ungewöhnlichen, in vieler Hinsicht aus dem Rahmen fallenden Film sind aber die atemberaubenden, alptraumhaften Bilder, die Penn gelingen. Oft ganz nah auch an den toten Dingen, manchmal ganz aus der Distanz: Etwa wie Nicholson durch hunderte von Truthähnen schreitet, wie er dort im riesigen Stall die Todesnachricht überbringt – gefilmt in der Totale. Oder später, wie er im Wald wartet, voller Gewißheit: Irgendwo draußen ist er. Der Mörder. Dem Zuschauer wird die letzte Sicherheit vorenthalten. Aber der Raum, erfahren wir hier, Schicksal und Reichtum Amerikas, ist auch Bedrohung. Und die Welt ist eine Hölle“, urteilt Rüdiger Suchsland in seiner Rezension auf artechock.de.
Davor war Penn in starken Hauptrollen zu sehen, so in Oliver Stones "U-Turn", David Finchers "The Game" (beide 1997) und in Terrence Malicks Kriegsdrama "Der schmale Grat" (1998).
Nachdem Penn den amerikanischen Part zum Episodenfilm „11‘09“01 – September 11“ beigesteuert hatte, adaptierte er 2007 das biografische Drama „Into The Wild“ von Jon Krakauer. Es erzählt die wahre Geschichte des erfolgreichen Hochschulabsolventen Christopher McCandless (Emile Hirsch), der im Sommer 1990 seine Ersparnisse der Wohlfahrt spendet, sich von seinen gut situierten Eltern (William Hurt und Marcia Gay Harden) lossagt und durch die Vereinigten Staaten reist, auf der Suche nach sich selbst, wobei er die unterschiedlichsten Gebiete und Menschen kennenlernt.
„Regisseur Penn inszeniert seine epische Geschichte mit feinem Händchen und entfacht einen wahren poetischen Rausch an atemberaubenden Bildertableaus, die mit bewegenden Folksongs von Pearl-Jam-Frontmann Eddie Vedder unterlegt sind – eindeutig die größte Stärke und Motors des Films, der mit 140 Minuten eine beachtliche Länge aufweist. ‚Into The Wild‘ ist pure Poesie“, findet Carsten Baumgardt auf filmstarts.de.
Danach überzeugte Sean Penn als Hauptdarsteller in Gus Van Sants Drama „Milk“ (2008). Nach seinem ersten Oscar für seine Leistung in Clint Eastwoods Drama „Mystic River“ (2004) erhielt er für seine Hauptrolle des homosexuellen Harvey Milk seinen zweiten Academy Award. Es folgten so unterschiedliche Filme wie Doug Limans Thriller-Drama „Fair Game“ (2010), Terrence Malicks spirituelles Epos „The Tree of Life“ (2011) und Paolo Sorrentinos unkonventionelles Road Movie „Cheyenne – This Must Be the Place“, in dem Penn einen alternden Rock-Star spielt, der das Lebenswerk seines Vaters beenden und den vergreisten Schänder finden will, der seinem Vater in Ausschwitz das Leben zur Hölle gemacht hatte.
Zuletzt war Penn 2013 mit kleineren Rollen in „Gangster Squad“ und „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ zu sehen. Nun kehrt er als ehemaliger Special-Forces-Angehöriger Jim Terrier in Pierre Morels Action-Thriller „The Gunman“ auf die Leinwand zurück. Nachdem Terrier mit seiner Elite-Einheit 2006 in der Demokratischen Republik Kongo ein tödliches Attentat auf den einheimischen Bergbauminister verübt hatte, beendete Terrier seinen Dienst und muss acht Jahre später feststellen, dass jemand systematisch Jagd auf die Mitglieder seiner früheren Truppe macht.
Der an sich öffentlichkeitsscheue Penn zog in den 1980er Jahren extra von Los Angeles nach San Francisco, damit seine zwei Kinder fernab vom Hollywood-Trubel aufwachsen konnten, doch die Heirat mit Pop-Star Madonna bescherte ihm ab 1985 wieder verstärktes Medieninteresse. Er blieb aus Protest gegen die Filmindustrie sogar jahrelang den Oscar-Verleihungen fern, bis er sich 2004 von Regisseur Clint Eastwood erweichen ließ und bei seiner vierten Nominierung erstmals den Feierlichkeiten beiwohnte und gleich seinen ersten Academy Award in Empfang nehmen durfte. Nachdem die Ehe mit Madonna, die ihrem Mann das Album „True Blue“ widmete, 1989 wieder geschieden wurde, war er von 1996 bis 2010 mit der Schauspielerin Robin Wright verheiratet, mit der er zwei Kinder hat. Seit Januar 2014 ist er mit der südafrikanischen Schauspielerin Charlize Theron liiert.

Filmographie:
1974: Unsere kleine Farm (Little House on the Prairie, Fernsehserie, Folge "Eine Glocke für Walnut Grove")
1979: Barnaby Jones (Fernsehserie)
1981: Hellingers Gesetz (Hellinger’s Law, Fernsehfilm)
1981: Randys Tod (The Killing of Randy Webster, Fernsehfilm)
1981: Die Kadetten von Bunker Hill (Taps)
1982: Ich glaub’, ich steh’ im Wald (Fast Times at Ridgemont High)
1983: Summerspell (Biografie)
1983: Bad Boys – Klein und gefährlich (Bad Boys)
1984: Crackers – Durch die Mauer führt der Weg / Fünf Gauner machen Bruch (Crackers)
1984: Die Zeit verrinnt, die Navy ruft (Racing with the Moon)
1985: Der Falke und der Schneemann (The Falcon and the Snowman)
1986: Auf kurze Distanz (At Close Range)
1986: Shanghai Surprise
1988: Cool Blue
1988: Colors – Farben der Gewalt (Colors)
1988: Ein Richter für Berlin (Judgment in Berlin)
1989: Die Verdammten des Krieges (Casualties of War)
1989: Wir sind keine Engel (We’re No Angels)
1990: Im Vorhof der Hölle (State of Grace)
1991: Indian Runner (The Indian Runner) (Regie)
1992: Cruise Control (Kurzfilm)
1993: Carlito’s Way
1995: Crossing Guard – Es geschah auf offener Straße (The Crossing Guard) (Regie)
1995: Dead Man Walking – Sein letzter Gang (Dead Man Walking)
1997: Mißbrauchte Liebe (Loved)
1997: Alles aus Liebe (She’s So Lovely)
1997: U-Turn – Kein Weg zurück (U-Turn)
1997: The Game – Das Geschenk seines Lebens (The Game)
1997: Ellen (Fernsehserie)
1997: Hugo Pool / Pool Girl
1998: Hurlyburly
1998: Der schmale Grat (The Thin Red Line)
1999: Being John Malkovich
1999: Sweet and Lowdown
2000: Die Villa (Up at the Villa)
2000: Bevor es Nacht wird (Before Night Falls)
2000: Das Gewicht des Wassers (The Weight of Water)
2000: The Beaver Trilogy (Dokumentarfilm)
2001: Friends (Fernsehserie, 2 Folgen)
2001: Das Versprechen (The Pledge) (Regie)
2001: Ich bin Sam (I am Sam)
2002: 11'09"01 – September 11 (Episode – Teil USA) (Regie)
2003: It’s All About Love
2003: Pauly Shore is Dead
2003: Mystic River
2003: 21 Gramm (21 Grams)
2004: Viva la Bam (Fernsehserie, Folge 3x03)
2004: Attentat auf Richard Nixon (The Assassination of Richard Nixon)
2004: Two and a Half Men (Fernsehserie, Folge 2x01)
2005: Die Dolmetscherin (The Interpreter)
2006: Das Spiel der Macht (All The King’s Men)
2007: Persepolis (Stimme)
2007: Into the Wild (Regie)
2008: Inside Hollywood (What Just Happened?)
2008: Milk
2010: Fair Game – Nichts ist gefährlicher als die Wahrheit (Fair Game)
2011: The Tree of Life
2011: Cheyenne – This Must Be the Place (This Must Be the Place)
2013: Gangster Squad
2013: Das erstaunliche Leben des Walter Mitty (The Secret Life of Walter Mitty)
2015: The Gunman
Playlist:
01. Theodore Shapiro - Eyjafjallajökull (The Secret Life of Walter Mitty) - 04:00
02. Bill Conti - Reunion (Bad Boys) - 03:00
03. Pat Metheny Group - Chris (The Falcon and the Snowman) - 03:16
04. Ennio Morricone - Hell's Kitchen (State of Grace) - 03:08
05. Ennio Morricone - Old Family Souvenirs (U-Turn) - 03:53
06. Jack Nitzsche - My Brother Frank (Indian Runner) - 04:25
07. Patrick Doyle - Carlito and Gail (Carlito's Way) - 04:05
08. Zbigniew Preisner - First Night Together (It's All About Love) - 03:45
09. Alexandre Desplat - Light and Darkness (The Tree Of Life) - 08:17
10. John Powell - Titles (I Am Sam) - 05:06
11. Gustavo Santaolalla - Can Dry Leaves Help Us? (21 Grams) - 03:53
12. Michael Brook - Carte Noir (Into The Wild) - 03:03
13. Pino Donaggio - No Set Plans (Up at the Villa) - 05:21
14. Danny Elfman - Give 'em Hope (Milk) - 04:42
15. Björk - Amphibian (Being John Malkovich) - 04:30
16. Hans Zimmer & Klaus Badelt - You're Crazy (The Pledge) - 05:57
17. Hans Zimmer - The Lagoon (Thin Red Line) - 08:36
18. James Horner - Main Title (All The King's Men) - 04:28
19. James Newtomn Howard - Simon's Journals (The Interpreter) - 03:05
20. John Powell - Testify (Fair Game) - 04:33
21. Howard Shore - Congratulations On Choosing C.R.S. (The Game) - 05:51
22. George Fenton - First Light (We're No Angels) - 03:02
23. Marco Beltrami - Reunited (The Gunman) - 05:21
24. Ennio Morricone - Casualties of War (Casualties of War) - 09:25

Soundtrack Adventures #163 with SEAN PENN @ Radio Zusa 2015-05-17 by Dirk Hoffmann on Mixcloud

Freitag, 1. Mai 2015

Playlist #162 vom 03.05.2015 - BILL LEEB & RHYS FULBER Special

Die beiden kanadischen Musiker Bill Leeb und Rhys Fulber haben eine vielschichtige Karriere vorzuweisen. Aus dem musikalischen Schmelztiegel in Vancouver sind unter ihrer Mitwirkung und Leitung so unterschiedliche Projekte wie Skinny Puppy, Front Line Assembly, Delerium, Noise Unit, Intermix, Conjure One und Synaesthesia entstanden, die zunächst vor allem im Industrial- und Electro-Sektor für Furore gesorgt haben, mit ihren Ausflügen und Ambitionen im Ambient-Genre aber mittlerweile auch bei Filmemachern auf Interesse gestoßen sind. So waren Delerium-Tracks wie „Enchanted“, „Silence“, „Wisdom“, „Incantation“ und viele weitere in Filmen wie der Dokumentation „Faszination Planet Erde“, „Get Carter“ und „Brokedown Palace“ zu hören.

Skinny Puppy waren für Bill Leeb das erste musikalische Betätigungsfeld. Als er mit 15 von Wien nach Vancouver zog, stellten sie seinen ersten Kontakt zu der kleinen Musikszene in der neuen Heimat dar. "Wir haben uns zusammengetan, weil wir die gleiche Musik hörten, vor allem harten Industrial, wie er Ende der 70er, Anfang der 80er aufkam. Und wir sahen uns mit Vorliebe Horrorfilme an."
Die Idee für Skinny Puppy entstand dann auch aus dem Ehrgeiz, diese schockierenden Bilder in ebenso schockierender Art und Weise musikalisch zu interpretieren. Seinerzeit (wie auch für das Projekt Cyberaktif) benutzte Bill Leeb noch ein Pseudonym - Wilhelm Schroeder -, mit dem er auf den ersten beiden Skinny Puppy-LPs "Remission" und "Bites" aufgeführt war. Doch im Sommer 1986 begann Bill Leeb eigene Wege zu gehen und glaubte, dass seine Fähigkeiten und Ideen weit wichtiger waren, als mit Skinny Puppy weiterzuarbeiten.
Drei Monate nach dem Split rief er Front Line Assembly ins Leben. Während Bill bei Skinny Puppy darum kämpfen musste, seine eigenen Ideen einfließen zu lassen, konnte er sie nun zu 100 Prozent verwirklichen. Er spielte zunächst die beiden Tapes "Nerve War" und "Total Terror" ein, wobei die letzte, auf 50 Stück limitierte, die Aufmerksamkeit von KK Records in Belgien erweckte, die ihm anboten, ein Album für sie herauszubringen. Zu dieser Zeit liefen auch Verhandlungen mit Nettwerk, doch gab es wegen Skinny Puppy Probleme, die einer Einigung im Wege standen.
Zusammen mit Michael Balch und Rhys Fulber spielte Bill Leeb das Debüt "The Initial Command" ein. Es war das erste, das KK Records überhaupt veröffentlichten. Das nächste Album "State Of Mind" erschien 1987 bei Dossier Records in Berlin, wo später auch Leebs ambitioniertes Projekt Delerium unter Vertrag genommen wurde.
1988 erschien die LP "Corrosion" und das Mini-Album "Disorder" (die zusammen als "Convergence" mit einigen Bonustracks auf CD veröffentlicht wurden) bei Third Mind Records. Obwohl Front Line Assembly ähnlich wie Front 242 ein Name ist, der auf einer militaristischen Idee beruht, hat er nichts mit Gewaltverherrlichung zu tun, wie Bill beteuert. Aber nichtsdestotrotz spielt Gewalt eine vorherrschende Rolle in der Thematik von FLA-Songs, in denen Bill seinen grundsätzlichen Zweifeln Ausdruck verleiht, dass die Völker dieser Erde in Frieden und Harmonie nebeneinander und miteinander existieren können.
Welch großartigen Talente in Bill Leeb noch schlummern, offenbart er seit 1988 mit der Gründung von verschiedenen Projekten, die seinem Ehrgeiz entspringen, die Musik ständig weiterzuentwickeln, ihr möglichst nahe zu stehen und sich auch nicht auf bestimmte Stilrichtungen zu beschränken. Neben FLA hat sich mittlerweile das Ethno-Ambient-Pop-Projekt Delerium zum zweiten und ebenso produktiven Standbein von Bill Leeb und Rhys Fulber entwickelt. Mit Delerium haben es sich die beiden zur Aufgabe gemacht, ohne Einschränkungen das Ideal des künstlerischen Ausdrucks zu verwirklichen.
"Delerium ist ein Projekt, wo ich einfach alles, was ich fühle, was sich in meinem Kopf abspielt, genauso musikalisch umsetze; bei dem ich nicht darangehe, es dem Publikum schmackhaft zu machen. Es ist mir hierbei egal, ob ich eine oder fünfzig Platten verkaufe. Es ist einfach eine Sache, die ich machen möchte, und die mich selbst befriedigt. Ich stehe da unter keinem Druck." 
Obwohl Songtitel wie "Requiem", "Fallen Idols", "Mythos", "Prophecy" oder "Twilight Ritual" nahe legen, dass es thematisch um mythologische Aspekte menschlicher Kultur geht, widerlegt Bill diese Assoziation.
"Bei Delerium verarbeite ich keine tieferen seelischen Erfahrungen, es stehen keine schwergewichtigen Bedeutungen dahinter. Ich kann hier aber meine Vorliebe für den Mittleren Osten und seine Kultur umsetzen. Peter Gabriels Soundtrack zu ,Die Letzte Versuchung Christi‘ ist für mich das optimale Delerium-Album. Ich liebe diese CD, und ich höre sie mir zehnmal öfter an als eine von Front 242."
1988 erschien bei Dossier Records das erste Delerium-Album "Faces, Forms, And Illusions". Es entstand unter der Mithilfe von Bills FLA-Kollegen Michael Balch und Rhys Fulber, wartete aber auch mit dem Gastspiel Ofra Hazas auf, die mit ihrer Stimme das orientalische Stimmungsbild des Delerium-Debüts unterstreicht. Pumpende Synthis, kirchliche Choräle, scheppernde Percussionschläge und östliche Mystik sollten auch die weiteren Delerium-Alben auszeichnen, die mit hypnotisierenden Melodien zudem eine bezaubernde Geräuschkulisse und Stimmungen von außergewöhnlicher Tiefe schaffen.
Das 89er Werk "Morpheus" haben Bill und Rhys als Duo eingespielt, und in jenem Jahr gelang den beiden mit dem FLA-Album "Gashed Senses And Crossfire" der internationale Durchbruch. Mit den ausgekoppelten Maxis "Digital Tension Dementia" und "No Limits" hielten FLA in sämtlichen Techno- Diskotheken Einzug und kamen mit dem Erfolg der LP erstmals auf Tour durch Deutschland.
Bei dem 90er Album "Caustic Grip" hat Rhys Fulber nun gänzlich die Stelle von Michael Balch eingenommen.
"Michael Balch, der jetzt bei den Revolting Cocks mitwirkt, mochte schon immer mehr den Gitarrensound, während ich die technologische Seite bevorzuge. Für ihn war es schließlich besser, Gitarre in einer Rock’n’Roll-Band zu spielen. Rhys dagegen begegnet der Musik mit den gleichen Vorlieben, wie ich sie habe. Wir haben die gleichen Ideen und ergänzen uns einfach besser. Ich kann mich besser auf bestimmte Dinge konzentrieren, die Arbeit ist einfacher geworden."
Noch im Jahr 1989 ist das Debütalbum eines weiteren Projekts von Bill Leeb erschienen, und zwar "Grinding Into Emptiness", das er zusammen mit Marc Verhaeghen von The Klinik unter dem Namen Noise Unit einspielte. "Wir spielten damals im ,Milky Way‘ in Amsterdam zusammen mit The Klinik. Wir hatten eine Menge Spaß zusammen, unterhielten uns den ganzen Nachmittag und entschlossen uns dabei, etwas gemeinsam zu machen. Ich mag es, mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten. Man bekommt neue Ideen, steht vor neuen Problemen und Herausforderungen."
1990 erschienen nicht nur das nächste Noise-Unit-Album "Response Frequency" und "Caustic Grip" von FLA, sondern auch ein neues Delerium-Werk namens "Syrophenikan". Ein neues, aber nur kurzweiliges Projekt ist mit Cyberaktif ins Leben gerufen wurden, wo nicht nur Blixa Bargeld eine Gastrolle übernommen hat, sondern Bills ehemalige Skinny-Puppy-Mitstreiter cEvin Key und Rudolph Goettel wieder auf den Plan traten.
"Nach der letzten Tour brauchten wir einen Ort, wo wir bleiben konnten, und cEvin und ich waren einst die besten Freunde. Wir wollten einfach mal sehen, was passiert, wenn wir uns wieder zusammentun. Wax Trax boten sich an, ein gemeinsames Projekt zu finanzieren. Wir hatten einen Monat Zeit, standen unter keinem Druck, und wir sahen einfach zu, was passiert. Blixa war zu der Zeit gerade in Vancouver und er bot sich sofort an mitzumachen, spielte ein wenig Klavier und sang dazu auf Deutsch. Das war einfach großartig. Je mehr du arbeitest, desto mehr kann auch geschehen."
Es wundert also nicht, wenn weitere Projekte im Gespräch sind. Bei dieser Vielfalt von Aktivitäten muss man sich natürlich fragen, ob da noch Zeit für andere Dinge bleibt:
"Ich lebe für die Musik, mache nichts anderes. Es ist großartig, wenn du damit Spaß haben und zur selben Zeit leben kannst. Wenn ich morgen sterben würde, würde ich glücklich sterben. Ich bin nicht darauf aus, ein eigenes Haus, ein eigenes Auto zu besitzen und mit 45 nicht zu wissen, ob ich mit 60 noch genug Geld habe, um mich weitere zehn Jahre zu ernähren. Heutzutage kann man sich in Amerika kein eigenes Haus mehr leisten. Die Jugend von heute lebt für den Tag und denkt nicht an morgen. Das ist auch die Art, wie wir leben." 
Dennoch besitzt Bill Leeb Weitblick genug, um wenigstens die kommenden Entwicklungen in der Musikszene abzusehen. "Mittlerweile ist alles gemacht worden, und die Generation der 15- und 16-jährigen steht nun vor dem Problem, etwas Neues zu finden. Die Extreme wurden bereits durch den Punkrock und auf elektronischer Seite durch den Industrial abgesteckt, und nun gehen die Leute zurück zur Musik der 60er. Die einzige Möglichkeit, die ich momentan sehe, ist, andere Extrembereiche zu erkunden, vielleicht mehr auf ethnische Weise."
1991 erwies sich als besonders produktives Jahr mit gleich drei Delerium-Produktionen - das herausragende Album "Stone Tower", die Mini-CD "Euphoric" - die ausnahmsweise bei Third Mind erschienen ist, da der Titelsong und das Stück "Decade" eigentlich nur Instrumentaltracks im FLA-Gewand darstellten - und das im Dezember veröffentlichte Album "Spiritual Archives". Nach so vielen Delerium-Veröffentlichungen in Folge konnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass sich Bill und Rhys schwer tun, neues FLA-Material einzuspielen.
Doch Rhys erklärt, womit das zusammenhängt: "Für uns war es in dem Sinne mit Delerium einfacher, weil wir viel mehr Zeit für FLA benötigen, z.B. um all die Samples zu sammeln, während wir bei Delerium viel mit Loops arbeiten und uns um ein atmosphärisches Stimmungsbild bemühen, ohne uns groß Gedanken um Songs, Melodien und Beats zu machen. Delerium ist also weitaus einfacher zu handhaben." Doch mit dem bislang aufregendsten Delerium-Album war die Pause bis zur nächsten FLA-Veröffentlichung noch längst nicht überbrückt. Zuvor erschien im Oktober nämlich das Debütwerk eines Projektes namens Will, das Rhys 1987 mit dem Sänger John Mc Rae gründete, als er noch nicht fest zum FLA-Team gehörte. "Pearl Of Great Price", so der Titel des Will-Debüts, vermochte mit einer ungewöhnlichen Mixtur aus orchestralem Bombastsound, spirituell-sakralen Chorälen, kraftvoll hämmernden Beats und intelligenten Songstrukturen eine sehr dynamische Atmosphäre zu schaffen.
"Will stellt für uns eine Fantasy-Welt dar, in der wir mehr als bei unseren anderen Projekten die Visionen in unseren Köpfen verarbeiten können. Es bietet uns die Möglichkeit, die mehr spirituellen Dinge unseres Daseins in die Musik zu transformieren. Wir hören selbst viel Musik dieser Art, und wir betonen nun auch mehr den akustischen Aspekt der uns zur Verfügung stehenden Technologie, um etwas zu kreieren, dem man nicht unbedingt anmerkt, dass es Musik aus dem 20. Jahrhundert ist, sondern in seiner Art zeitlos klingt." Im Gegensatz zu Will stellt Intermix das Produkt einer modernen Technoband dar. Im Februar 1992 veröffentlichten Intermix zeitgleich ein gleichnamiges Album und die Maxi "Dream On/Funky Hell", womit das kreative Duo House-orientierten Tanzstoff auf rein instrumentaler Basis präsentierte.
"Intermix ist ein Projekt, mit dem wir endlich das verwirklichen konnten, was wir schon immer tun wollten, das aber nicht in das Konzept von FLA passen wollte. Wir haben das Album im letzten Sommer eingespielt, als wir mit FLA Amerika auf Tour waren. Und wir wollten einfach mal neue Techniken ausprobieren. Es half, neue Ideen für das FLA-Album zu entwickeln, und es hat uns noch nie so viel Spaß gemacht, ein Album aufzunehmen", meinte Rhys.
Für das Mitte April 1992 erschienene FLA-Album "Tactical Neural Implant" ging man wieder konzentrierter zur Sache. Schon die Vorab-Maxi "Mindphaser" kündigte an, dass FLA, nachdem sie mit "Caustic Grip" und "Virus" ihre weitaus härtesten Produkte ablieferten, in wieder seichtere Gefilde zurück glitten, ohne an Dynamik oder Einfallsreichtum eingebüßt zu haben. "Tactical Neural Implant" zeigte sich überraschend homogen und melodiöser als üblich. "Wir haben uns diesmal bemüht, den Sound neu zu gestalten, also weg vom schnellen, aggressiven Charakter hin zu mehr melodiösen Elementen, um nicht wieder und wieder die gleiche Platte zu machen", erklärte Rhys dazu. "Insofern arbeiteten wir zu dem neuen Album mehr mit Melodien und Texten, um die Musik auch für uns selbst hörbarer zu gestalten. Wir wollen uns ständig weiterentwickeln und neue Ideen in unsere Musik integrieren." Thematisch setzten sich FLA wieder mit den Massenmedien und den Gefahren moderner Technologie auseinander: wissenschaftlicher Fortschritt, politische Entwicklungen, der Mensch in seiner Umwelt - Bill und Rhys reflektieren die Welt, in der sie leben: "Was wir tun, ist, uns mit den Dingen auseinanderzusetzen, die um uns herum passieren. Was wir sehen, beziehen wir in unsere Musik ein, ohne aber einen bestimmten Standpunkt zu beziehen. Daran sind wir auch gar nicht interessiert, sondern nur daran, Informationen zu sammeln und zu präsentieren, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen." 1994 vollzog das Duo aus Vancouver nicht nur den Wechsel zum Branchenriesen Roadrunner, sondern veröffentlichte der Firmenpolitik gemäß mit „Millennium“ ein ungewöhnlich gitarrenlastiges Album, das selbst für Bill Leeb mittlerweile etwas seltsam klingt. Nichtsdestotrotz hat die immense Popularität, die Front Line Assembly unter den Electro-Industrial-Freunden genießen, dazu geführt, dass im Vorfeld des lang erwarteten neuen Albums älteres Material in neuer Form veröffentlicht wurde, so zum einen der Sampler „Reclamation“, bei dem Roadrunner die größten Hits, B-Seiten und rare Remixe aus der „Millennium“-Ära zusammengefasst hat. Zum anderen gab es das Debütalbum „The Initial Command“ mit den beiden eröffnenden Bonustracks „Complexity“ und „Intelligence Dream“, die vorab die neue Richtung von FLA angedeutet haben, denn diese beiden Instrumentals sind bereits die ersten veröffentlichten Resultate der neuen Zusammenarbeit zwischen Bill Leeb und Chris Peterson. Die drei fast parallel erschienenen Veröffentlichungen stellen sehr anschaulich die Evolution dar, die die Band seit ihrer Gründung vor über einem Jahrzehnt durchgemacht hat. „The Initial Command“ darf im kompromisslosen Einsatz minimalistischer elektronischer Mittel, die gerade auch durch den gnadenlos metallischen Beat eine unheilschwangere, bedrohlich unterkühlte Atmosphäre kreieren, zurecht als bahnbrechender Klassiker des modernen Electro-Genres betrachtet werden. Schon hier wurde deutlich, dass FLA nicht nur ein ausgeprägtes Interesse an der Entwicklung neuer, origineller Sounds haben, sondern auch über die beneidenswerte Fähigkeit verfügen, eingängige Kompositionen zu kreieren. Obwohl das 94er Album „Millennium“ mit einem völlig anderen Sound aufwartete - nämlich mit einem ungewohnt heftig rockenden, gitarrendominierten -, blieb trotz aller Weiterentwicklungen, Modifikationen und Perfektionierungen jedenfalls die Songwriterqualitäten des kreativen, in wechselnder Besetzung agierenden Duos erhalten. „Millennium“ war sicher nicht allzu innovativ, wenn man bedenkt, dass Skinny Puppy ihre „Gitarrenphase“ bereits 1989 mit „Rabies“ hinter sich gebracht und auch Ministry ihren Übergang zum Industrial Rock 1988 vollzogen haben. Insofern taten FLA nur gut daran, mit „Hard Wired“ zu den Ursprüngen zurückzukehren und die daraus entflammte Entwicklung zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen.
Für den Neubeginn mit „FLAvour Of The Weak“ bot sich dann auch gleich eine Personaländerung an. Nachdem bereits im Vorfeld der „Hard Wired“-Veröffentlichung Gerüchte die Runde machten, dass Rhys die Band verlassen wolle, hat er diesen Schritt nun tatsächlich vollzogen, um sich neuen Aufgaben zu widmen. „Ich glaube nicht, dass es persönliche Gründe waren“, meinte Bill damals im Interview, das ich für ZILLO mit ihm geführt habe. „Wir arbeiten nun seit fast zehn Jahren zusammen und hatten nie musikalische Meinungsschwierigkeiten. Es ist nur so, dass Rhys mehr Interesse bekam, andere Bands zu produzieren, und hoffte, die Leiter etwas höherzusteigen. Ich denke, er fand es problematisch, von FLA aus andere Wege zu gehen, weil unsere Musik nie kommerziell genug gewesen ist. Dafür ist sie stets zu hart, zu dunkel und zu anders gewesen. Das war ihm nicht mehr genug. Als Produzent und Remixer kann er mit viel mehr Bands arbeiten und mehr Geld verdienen.“
Bills neuer Partner Chris Peterson ist bislang vor allem durch das grandiose Projekt WILL bekannt geworden, dessen Folgeformation Decree mit ihrem allzu abgedrehten Industrial-Sound allerdings nicht mehr an den Erfolg der Third-Mind-Band anknüpfen konnte, aber er mischte zusammen mit Bill bereits das letzte Synaesthesia-Album „Ephemeral“ ab und assistierte FLA bei der Tour zum 92er Album „Tactical Neural Implant“. „Es war ganz natürlich, Chris in die Band zu nehmen, weil wir uns schon jahrelang kennen und er mit mir schon bei einigen Platten zusammengearbeitet hat. Chris wurde ganz schnell die andere Hälfte von FLA. Er ist sehr talentiert und wirkt wie ein frischer Atemzug auf FLA“, schwärmte Bill. „Mit ihm klingt die Band wie früher, viel elektronischer als in den letzten Jahren. Es wurde mehr experimentiert und geht auch mehr in den Underground. FLA sind keine Industrial-Rock-Band mehr. Wir hätten für das neue Album auch den Bandnamen wechseln können. Es hat nichts mehr mit ,Hard Wired’ zu tun. ,Hard Wired’ war für mich der perfekte Abschluss für die letzten zehn Jahre. Ich glaube nicht, dass wir diese Art von Musik noch viel weiter hätten entwickeln können. Deshalb war es für mich wichtig, zurück zu den Wurzeln zu gehen. Ich war schon immer an Techno interessiert, da war es nur natürlich, dass ich zu dieser Vorliebe zurückkehre. Das neue Album ist viel persönlicher. Ich mag es viel lieber als das letzte. Es ist auch eine gute Zeit für das, was wir gerade machen.“
Damit bezog sich Bill auf die Reminiszenzen an die immer noch aktuellen Techno-Bewegung, die auf „FLAvour Of The Weak“ ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat, ohne dass sie vollends den Sound des Albums prägte. „Millennium“ war bislang das einzige Beispiel dafür, dass sich FLA eher uninspiriert einem Trend angeschlossen haben. Nun sollte es wieder darum gehen, innovative Akzente zu setzen. Schon mit „Hard Wired“ vollzogen Front Line Assembly anno 1995 den zwangsläufigen Schritt zurück zur elektronischen Reinkultur und überzeugten die Skeptiker, die sich bei „Millennium“ mehrten, endlich wieder davon, dass die Band immer noch imstande ist, der Electro-Szene den Weg in die Zukunft zu weisen. Mit „FLAvour Of The Weak“ verschmolzen Bill und Chris die traditionell komplexen, aber eingängigen Kompositionen mit modernen Techno-Sequenzen, wobei man fast vermuten könnte, dass man ähnlich wie bei Delerium aktuelle Strömungen in das Bandkonzept integrierte, um die Musik populärer und damit kommerzieller zu machen. Dem neuen Sound wurden auch die Vocals angepasst, die ohnehin - noch eine Neuerung - nur auf sieben von den zwölf Albumtracks eingesetzt wurden.
„Dadurch, dass Chris das Album abmischte, klingt es schon ganz anders als früher. Für mich ist es wie ein neues Projekt. Da ich das Album 100%ig anders haben wollte, musste ich auch den Gesang verändern. Er sollte nicht mehr wütend schreiend ausfallen, sondern in den Kontext experimentellen Technos integriert sein.“ Auf der anderen Seite klangen die Instrumentals auch nicht mehr so düster-bedrohlich wie noch „Mortal“ vom letzten Album oder auch „The Chair“ von der brillanten „Caustic Grip“-CD. Während die traumverlorenen, sphärischen Ambient-Instrumentals wohl den diversen Nebenprojekten vorbehalten bleiben, entwickelten die gesangslosen Tracks auf „FLAvour Of The Weak“ eine ganz besondere Eigendynamik, sind sie doch zum einen tanzbar gelungen, boten aber zum anderen immer noch genügend Raum für die Projektionen der Zuhörer.
„Die Instrumentals klingen irgendwie ,hyper’. Wir wollten nicht auf den Ambient-Techno-Zug aufspringen. Zwar gibt es eine Menge solcher Elemente im Hintergrund, aber ich wollte es eher in Richtung Hardcore-Techno haben. Die Instrumentals sollten eine Art Ausgleich zu den Vocal-Tracks darstellen, aber man kann immer noch zu ihnen tanzen“, erklärte Bill, der den Albumtitel als Kommentar auf die momentane Musikszene wählte. „Heutzutage ist die Musik, gerade aus dem Techno-, Electro-, Dance-Bereich sehr austauschbar geworden. Was heute populär ist, ist übermorgen schon völlig vergessen. Es gibt mittlerweile so viel Musik, dass die Leute schon völlig verwirrt sind. Bei täglich fünfzig neuen Techno-, Jungle- und Intelligent-Veröffentlichungen kommen sie einfach nicht hinterher. Wir wollten mit dem Albumtitel auch darauf hinweisen, wie kommerziell die ganze Techno-Szene geworden ist. Es ist ein sarkastischer Titel. Wir kümmern uns nicht darum, was die Leute sagen. Wir sind zwar nicht schwach in dem Sinne, dass wir nicht stark wären, aber unsere Musik ist immer noch dunkel und kommt aus dem Underground. Wir haben versucht, eine Platte mit vielen Höhen und Tiefen zu kreieren, dass man es immer wieder anhören kann.“  
Bill Leeb hatte schon immer eine Vorliebe nicht nur für filmmusikalische Atmosphären, sondern generell für ausschweifende Sequenzen, die stets den Rahmen konventioneller Drei- bis Vier-Minuten-Pop-Songs sprengen. Nicht nur bei den manchmal zehnminütigen instrumentalen Ambient-Ausflügen von Delerium und Synaesthesia, sondern auch bei FLA hat man zumindest immer um die fünf bis sieben Minuten für die Entwicklung eines Songs benötigt. Gerade diese Qualität machen die Ohrwürmer aus, für die FLA immer wieder gut sind. Wenn man sich erst einmal in einen Song hineingehört hat, möchte man ihn gar nicht mehr enden lassen. Trotzdem steckt Bill wie schon beim Vorgänger keine allzu großen Erwartungen an das Album - aus einfachem Grund: „Wenn man keine großen Erwartungen hegt, kann man auch nicht enttäuscht werden. Heutzutage kann man alles machen, aber es ist auch schon alles gemacht worden. In fast jeder Review kann man lesen, dass das Album nicht schlecht sei, aber diese und jene Band hätten es schon vorher gemacht. Ich denke, das ist nicht sehr progressiv. Immer wenn wir eine neue Platte machen, sollte sie zumindest der perfekte Hintergrund für ,Blade Runner’ sein. Diesmal wollten wir es etwas futuristischer haben. Ich bin gespannt, was neben unserer harten Fangemeinde etwa die Prodigy-Fans zu unserem Album sagen.“
1997 erschien mit “Karma” auch ein neues Delerium-Album. Bislang war Delerium für Bill und Rhys allenfalls ein zwar geliebtes, aber im Vergleich zu ihrem Haupt-Projekt Front Line Assembly eher untergeordnetes Unterfangen, bei dem die beiden ihre ganz eigenen musikalischen Ideen ohne Blick auf kommerzielle Verwertbarkeit umsetzen konnten. Ihre zuvor auf dem Dossier-Label veröffentlichten Instrumental-Arbeiten luden zum totalen Relaxen und zum Eintauchen in fremde Kulturen ein, verbanden äußerst wirkungsvoll hypnotische Soundscapes mit ethnischen Percussion-Rhythmen und spirituellen Chor-Samples. Seit Bill und Rhys aber auf ihrem achten Album „Semantic Spaces“ (1994) die ätherische Stimme von Kristy Thirsk (Rose Chronicles) in ihre nun auch melodiöseren Arrangements integriert haben, war ihnen auf einmal auch kommerzieller Erfolg beschieden. Zwei Jahre später legten die beiden Soundtüftler ihr neuntes Delerium-Album vor und haben das Erfolgskonzept des Vorgängers weiterentwickelt, noch eingängigere Songs komponiert, haben sich zusätzliche weibliche Unterstützung bei den Vocals herangezogen und sogar in Vancouver einen Mönchschor rekrutiert, der ihnen originale Gesänge für ihre Kompositionen lieferte. Somit präsentierte sich „Karma“ zwar weiterhin ein brillanter Stil-Mix von groovigen Synthiloops, World-Music-Elementen und religiöser Intensität, doch hatte das Ganze schon vielversprechende Hit-Qualitäten angenommen, was vor allem an dem vielschichtigen Einsatz von Sängerinnen wie der erwähnten Kristy Thirsk, Jacqui Hunt (Single Gun Theory), Sarah McLachlan, Camille Henderson und Lisa Gerrard lag, die einwilligte, dass ihre Stimme für „Forgotten Worlds“ gesampelt werden durfte. „Das, was Rhys und ich von Beginn an gemacht haben, besaß sicher das kommerzielle Potential, etwas Größeres zu werden, aber dazu fehlten die passenden Vocals, also fügten wir nun welche hinzu. Das letzte Album war schon recht erfolgreich, und die Umstände waren diesmal noch besser. Heutzutage sind Sängerinnen in der Musikbranche sehr gefragt. Wir dachten uns, dass die weiblichen Stimmen einen guten Ausgleich zu den Chören und pastoralen Gesängen bilden würden. Ich wollte bei den weiblichen Vocals etwas mehr Abwechslung, so in die Richtung Everything But The Girl, und Jacqui von Single Gun Theory hat die perfekte Stimme dafür. Den Sängerinnen, die ich für die Stücke ausgesucht habe, schickte ich ein Tape, wozu sie was auch immer beisteuern konnten. Ich bekam die Tapes dann zurück und war sehr von den Ergebnissen angetan. Ich denke, es war eine gute Idee, jeder Sängerin ihre Songs zu geben, wozu sie ihre eigenen Texte schreiben konnten. Als dann alle Songs zusammen waren, klangen sie auf erfrischende Weise alle unterschiedlich. Es macht die Arbeit einfach interessanter, wenn man mit neuen Leuten zusammenarbeitet.
Ich bin nicht der Typ, der allein irgendwo im Studio sein Ding durchzieht. Ich denke, Musik ist etwas Größeres als ich, als wir alle zusammen und als Delerium. Und so sollte man damit auch umgehen. Es sollte ein großes, offenes Projekt sein, das mit jedem, der daran teilnimmt, wächst. Neue Musiker bringen neue Elemente mit in die Musik ein. Ich möchte auch nicht immer wieder ein und dieselbe Platte machen“, erklärte Bill, der insofern auch Parallelen zu Enigma sah, was die Verbindung von moderner Technologie und spirituellem Interesse angeht. Allerdings arbeiteten Delerium schon seit 1989 an einem derartigen Konzept, wie es sich an der Beteiligung von Ofra Haza darstellte. Es lag vor allem an den fehlenden Mitteln, aus Delerium schon von Beginn an das zu machen, was sie jetzt sind - ein Projekt, das äußerst erfolgreich eine Symbiose von multikulturellen Einflüssen und zeitgemäßen Electro-Arrangements herzustellen weiß.
„Ich war immer ein großer Fan der mittelöstlichen Kultur und bin in einem Wiener Klosterheim aufgewachsen, so dass ich immer von dieser religiösen Sphäre umgeben war. Wenn ich die spirituellen Klänge und Chöre, die die Menschen seit ihrer Frühzeit produziert haben, in die heutige Zeit transformiere, indem ich moderne Musiktechnologie hinzufüge, dann gibt mir das einen unheimlichen Kick. Das ist für mich, als grabe ich in alter Erde und würde einen der Pharaonen zu Tage fördern und zusehen, was er heute machen würde. Für mich ist das sehr faszinierend, altertümliche Instrumente und Musikformen mit modernen Instrumenten zu verbinden, mit klassischen Chören und Sounds zu spielen."
"Diesmal nahmen wir die Chöre sogar live in einer Kirche mit unserem eigenen Conductor auf. Wenn man Chöre sampelt, klingen sie nie perfekt. Wir haben bislang immer unsere Ideen um solche Samples herum entwickelt. Letztlich kamen wir aber zu dem Schluss, dass es viel origineller sei, die Texte ins Lateinische übersetzen und die dafür komponierte Musik live von Mönchen singen zu lassen. Nun können wir die Chöre genau mit der Musik abstimmen und den Sound nach unseren Vorstellungen gestalten. Das klingt 100% besser als ein Sample“, meinte Bill, der den ursprünglichen Delerium-Sound seit 1995 über drei Alben mit seinem Projekt Synaesthesia weiterentwickelte. Das 1997 veröffentlichte dritte Album „Ephemeral“ präsentierte die weniger rhythmischen, dafür entspannend wirkenden Soundtrackatmosphären, die Delerium zu Beginn ihrer Karriere produziert haben.
Synaesthesia ist ein Projekt, an dem ich morgens arbeite, wenn ich noch halb im Schlaf bin. Das sind Stücke, die treiben ohne Richtung irgendwo hin. Das ist keine Musik, die fürs Radio oder für Nachtclubs gemacht wurde. Das ist Musik, die ich gerne mache, wahrscheinlich weil ich ein Fan von Leuten wie Vangelis oder Ennio Morricone bin. Ich glaube nicht, dass diese Musik einen großen Markt besitzt, aber wenn einige Leute es mögen, bin ich völlig zufrieden.“
2000 erschien mit “Poem” das nächste Delerium-Album. Was sich bis zum 94er Erfolgsalbum "Semantic Spaces" auf den zahlreichen Delerium-Releases als spirituell angehauchter World-Music-Ambient manifestierte, erhielt nun einen pumpenden Dance-Beat, ohne die gregorianischen Choräle und Ethno-Sounds zu vernachlässigen. Die Metamorphose zum anspruchsvollen Pop-Projekt ist Delerium schließlich mit dem 97er Album „Karma“ geglückt, das nicht nur speziell für das Album in Vancouver aufgenommene Kirchenchöre zu bieten hatte, sondern eine schillernde Vielfalt an ethnischen Flöten- und Percussionsounds ebenso wie an neuen Sängerinnen wie Sarah McLachlan, Jacqui Hunt (Single Gun Theory) und Camille Henderson. Das nach drei Jahren Wartezeit erschienene Album „Poem“ setzte diese Entwicklung noch weiter fort und setzt auf eine neue Schar von SängerInnen. So lieh Leigh Nash von Sixpence None The Richer („Kiss Me“) der ersten Single „Innocente“ ihre bezaubernde Stimme. Der tanzbare Electro-Beat war geblieben, nur gesellten sich jetzt zu dem choral anmutenden Background zarte Akustikgitarren, verspieltes Piano und warme Streicherarrangements hinzu. Die gelungene Komposition mit dem unwiderstehlichen Refrain ließ keinen Zweifel aufkommen, dass der Charterfolg von „Silence“ unter normalen Umständen locker übertroffen werden sollte. „Meine größte Sorge war, ein weiteres ,Karma’-Album zu machen“, meinte Bill. „Ich denke, es war eines der besten Alben, die Rhys und ich je gemacht haben, und ich wollte es nicht einfach wiederholen und ,Karma II’ machen. ,Karma’ besaß einen sehr ethnischen Sound mit östlichen Instrumenten. Bei ,Poem’ habe ich versucht, einen mehr klassischen Ansatz zu finden, wobei ich echte Streicher und echte Gitarren einsetzen wollte. So gibt es ein übergreifendes Thema für jedes Album. Dabei kann es einem behilflich sein, wenn man eine oder zwei Ideen hat, um die herum man ein ganzes Album aufbauen kann. Delerium besitzt zwar einen bestimmten Sound, aber ich wollte diesmal in eine natürlichere, etwas klassischere Richtung und andere SängerInnen verwenden. Das ist das Großartige an Delerium. Mit jeder neuen Platte präsentieren wir neue Stimmen.“ Man merkte schon, dass Bill, der die Produktion von „Poem“ ohne seinen langjährigen Partner Rhys realisierte, mit Delerium in künstlerischer Hinsicht weitaus zufriedener wirkte als mit Front Line Assembly, wo er viel enger an die eingefahrenen Strukturen des Electro-Genres gebunden ist.
„Ich habe es zwar nie geplant, aber je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr bin zu der Überzeugung gekommen, dass Delerium das ideale Forum ist, um zeitlose Musik zu kreieren, weil es keinen Beschränkungen unterliegt“, schwärmte Bill. „Obwohl es auf elektronischen Klängen basiert, können wir wie auf ,Poem’ echte Musiker auf jedem Album einsetzen. Es gibt nicht eine bestimmte Stimme, die Delerium repräsentiert. Ich kann zu jeder Zeit neue Ideen und neue Sänger einbringen. Ich glaube nicht, dass Delerium ein sehr imageabhängiges Projekt ist, wobei ich nicht wusste, als ich mit Delerium begann, dass es sich aus sich selbst heraus so entwickeln würde. Ich hätte es kaum besser planen können. Es ist einfach sehr inspirierend, ständig neue Dinge aufnehmen zu können und World Music mit der neusten Technologie zu verbinden und Sänger zu finden, die noch ihre eigenen Ideen mit einbringen. Ich glaube, dass ich dieses Projekt auch in Zukunft sehr interessant gestalten kann.“
Während Bill auf „Poem“ auf so großartige Sängerinnen wie Kirsty Hawkshaw (Opus III), Joanna Stevens oder Jenifer McLaren zurückgreifen konnte, stellte der Beitrag von Songwriter Matthew Sweet ein Novum in der Geschichte von Delerium dar. Doch auch wenn man Delerium stets nur mit weiblichen Vocals in Verbindung brachte, gelang die Einführung eines ausdruckstarken männlichen Sängers bei dem schönen „Daylight“ scheinbar problemlos. „Für mich bedeutete das absolutes Neuland, mit einem männlichen Sänger bei Delerium zu arbeiten, aber im Nettwerk-Büro waren alle von der Idee sehr angetan und als wir Matthew ein Tape schickten und er Lust hatte, dazu zu singen, war ich erst einmal etwas überrascht, aber mittlerweile mag ich den Song sehr“, gestand Bill. „Für mich war dies ein weiterer interessanter Schritt, weil es mit der Zeit auch langweilig werden könnte, nur mit Sängerinnen zu arbeiten.“
Eine Wunschkandidatin hat Bill aber noch auf jeden Fall für die Zukunft, und zwar Lisa Gerrard, deren Stimme er bereits mit ihrer Erlaubnis auf „Forgotten Worlds“ gesamplet hatte. „Wir sind immer große Fans von Dead Can Dance gewesen. Ich denke, Lisa Gerrard ist eine einzigartige Persönlichkeit. So wie Tangerine Dream für mich von großem Einfluss gewesen sind, wurden es später auch Dead Can Dance. Wenn man sich vorstellt, Tangerine Dream und Dead Can Dance miteinander zu verbinden, dann würde man wohl Delerium herausbekommen. Das ist zwar elektronische Musik, aber mit einem sehr dunklen World-Music-Feeling. Das hat mich immer an Delerium motiviert. Ich würde Lisa natürlich gern für ein originales Delerium-Stück gewinnen, aber sie ist so beschäftigt mit ihrer Hollywood-Karriere und ihrem nächsten Solo-Album, dass es schwer wird, eine echte Zusammenarbeit zustande zu bekommen.“ Das Projekt besitzt genügend Potential, um erfolgversprechend in etlichen anderen Gewässern zu fischen, sei es im gewaltigen Pool an musikalischen Stilrichtungen, Klängen und Instrumenten, sei es im reichhaltigen Angebot an außergewöhnlichen Stimmen. Bei “Poem” lag der Schwerpunkt nun neben den neuen Stimmen in der Verwendung echter Akustikinstrumente, die den ohnehin schon einfühlsamen Kompositionen die zusätzliche Wärme und Ausstrahlung verliehen. Zum Glück hat Bill bei allen Optionen, die ihm mit Delerium in der Zukunft offenstehen, noch nicht seine Ursprünge vergessen. Mit dem zehnminütigen Instrumental „Amongst The Ruins“ kreierte Bill die bezaubernde spirituelle Atmosphäre, die frühere Delerium-Alben wie „Stone Tower“ und „Spiritual Archives“, die CD-Bonus-Tracks auf der „Euphoric“-Maxi sowie sein Synaesthesia-Projekt ausgestrahlt haben.
Mit akzentuierten Akustikgitarren, düsteren Ambient-Soundscapes mit unheilvollen wie erhabenen Choral-Gesängen, vereinzelten Ethno-Sounds und wuchtigen Percussion-Schlägen ist „Amongst The Ruins“ das wohl eindringlichste und dramaturgisch intensivste Stück des Albums geworden.
„Ich bin damit etwas mehr zum ursprünglichen Kontext von Delerium zurückgekehrt, aber so einen Song kann man natürlich nicht im Radio spielen. Dazu ist er zu lang und zu langsam, aber er zeigt, wo meine Wurzeln liegen. Die ätherische, spirituelle Evolution habe ich immer im Hinterkopf und ich würde immer noch gern ein ganzes Album mit solchen Sachen machen, aber Nettwerk und ich sind darin übereingekommen, nur einzelne Songs in die Alben einzuweben.“ Schade eigentlich, denn so ist aus dem spirituell gehaltvollen Projekt von einst ein zwar sehr vielseitiges und offenes Projekt geworden, das allerdings ganz auf den Pop-Markt ausgerichtet zu sein scheint.
Für die Produktion des 2003er Albums “Chimera” ist Rhys wieder an Bills Seite zurückgekehrt. „Seit ,Karma’ haben wir uns beide weiterentwickelt, aber wenn wir beide zusammenarbeiten, entsteht etwas ganz eigenes“, erklärte Bill das besondere Teamworking mit Rhys. „Es gibt einige Songs auf dem Album, die das reflektieren und diesen ,Karma’-Touch haben. Wir wollten natürlich nicht das komplette Album wiederholen, aber wir planten schon, dem besonderen Klang von ,Karma’ Tribut zu zollen. Wir wollten vor allem bessere Songs schreiben. Das ist momentan vielleicht die größte Herausforderung, den möglichst perfekten Song zu schreiben.“
Während die frühen Delerium-Jahre von atmosphärisch dichten, oft wundervoll mystischen Ambient-Soundscapes mit beeindruckenden Chor-, Vocal- und World-Music-Samples geprägt waren, hat sich seit dem Hit „Flowers Become Screens“ vom 94er Album „Semantic Spaces“ einiges verändert. Da sorgte auf zwei Songs die Stimme von Kristy Thirsk für melodisches Pop-Appeal, und schon waren Delerium ein Thema für die Charts. Mit „Silence“ und „Innocente“ waren sogleich die nächsten Hits am Start. Klar, dass auch das neue Album mit starken Vocals und einfühlsamen Pop-Melodien glänzen musste. Mit der ersten Single, „After All“, die von Luniks Sängerin Jaël interpretiert wurde, nahmen Delerium auch diese Hürde. Allerdings lassen die Kompositionen auf „Chimera“ in ihrer Perfektion die Intensität früherer Werke vermissen. Die Stimmen von Julee Cruise („Twin Peaks“), Kristy Thrisk, Leigh Nash oder Sultana waren zwar schön anzuhören, doch verpuffte die Wirkung schnell, weil der stimmungsvolle Gehalt fehlte. Für Delerium gibt es nun aber keinen Weg zurück. „Natürlich können wir uns an die Synthesizer setzen und merkwürdige Sounds kreieren, aber das haben wir so viele Jahre gemacht, dass es uns schnell langweilen könnte. Es ist viel schwieriger und frustrierender, den perfekten Song zu komponieren. Ich weiß natürlich, dass viele Leute mehr unsere andere Musik bevorzugen, aber diese Leute müssten mal in unseren Schuhen stecken, um zu realisieren, dass wir nicht immer die gleichen Sachen machen wollen“, betont Bill. Rhys sieht das genauso: „Zu diesem Sound werden wir nie zurückkehren. Die Art und Weise, wie wir die früheren Sachen produziert haben, waren so primitiv, dass es unmöglich ist, dahin zurückzukehren. Man ist mittlerweile viel besser und professioneller geworden. Wir könnten so etwas nie wieder machen. Wir waren damals noch sehr naiv und wussten nicht mal, wie man eine Platte macht. Wir versuchen nach wie vor, uns mit Delerium weiterzuentwickeln, und ich denke, das nächste Delerium-Album wird wieder etwas anders ausfallen als ,Chimera’, aber es wäre unnatürlich für uns, noch mal so etwas zu machen wie die frühen Delerium-Sachen.“
Mit seinem Solo-Projekt Conjure One konnte Rhys dagegen ganz befreit durchstarten. Obwohl er für sein gleichnamiges Debüt auch so populäre Sängerinnen wie Sinead O’Connor und Poe gewinnen konnte, haben die Arrangements von Conjure One noch die Tiefe früherer Delerium-Produktionen. Mit dem Songwriter Billy Steinberg und Junkie XL hatte Rhys auch die professionelle Hilfe, um das Album ganz nach seinen Vorstellungen zu produzieren. „Ich wollte einfach ein paar Songs für mich selbst schreiben, und das hat sehr viel Spaß gemacht. So fing das Ganze an. Dann kamen die Sängerinnen hinzu und die ganze Maschinerie lief an. Das nächste Album wird wieder ganz anders ausfallen, dunkler und geheimnisvoller, denke ich. Conjure One entwickelt sich zu etwas sehr Eigenständigem weiter.“
Bislang folgten mit “Extraordinary Ways” (2005) und “Exilarch” (2010) zwei weitere Conjure-One-Alben. 2006 erschien mit “Nuages Du Monde” das nächste Delerium-Werk, wiederum mit Rhys an Bills Seite, der “Poem” quasi im Alleingang produziert hatte. Inspiriert von dem unerwarteten Erfolg, den das Nebenprojekt seit dem “Silence”-Hit durch die zusätzliche Pop-Note erfuhr, hat vor allem Bill Leeb auf den folgenden Alben immer mehr Arbeit damit zugebracht, neue Sängerinnen für Delerium zu finden. Nachdem sich Rhys Fulber bei den letzten beiden Delerium-Alben mehr als rar gemacht hatte, weil er zu sehr mit eigenen Produzenten-Jobs unterwegs gewesen ist, ist er auf dem neuen Album „Nuages Du Monde“ wieder zu einem vollwertigen Partner für Bill Leeb geworden. „Die Dynamik, mit Bill zu arbeiten, hat sich zum Teil etwas verändert, ist teilweise aber so geblieben“, erklärte Rhys das ganz besondere, über Jahre gereifte Verhältnis zu Bill. „Die Zeiten und Ausführungen eines Jobs haben sich etwas verändert, aber bei Delerium haben wir z.B. ähnlich gearbeitet wie an ‚Karma’. Wir haben uns einfach zusammengesetzt und ein paar Ideen entwickelt. Dann habe ich die Sachen programmiert, die Sängerinnen wurden ausgesucht, das war’s.“ Wobei gerade der Part der Sängerauswahl immer schwerer zu werden scheint. Während „Semantic Spaces“ noch allein von Kristy Thirsks Gesang getragen wurde, tummeln sich seither mindestens vier, meist aber noch mehr verschiedene Stimmen auf einem Album.
„Für Delerium ist es wirklich schwer, neue Sänger zu finden. Ich habe damit nicht so viel zu tun, sondern arbeite nur an der Musik“, meinte Rhys. „Natürlich gibt es viele Leute, die gern auf einem Delerium-Album singen würden, aber es ist schwer, jemanden zu finden, der dem Ganzen eine neue Note verleiht. Die Vocal-Auswahl gestaltete sich diesmal extrem schwierig.“
Diese besondere Note erfuhr das neue Album vor allem durch die bekannte Sopranistin Isabel Bayrakdarian, auf die bereits Hollywood-Komponist Howard Shore aufmerksam geworden ist und sie den Track „Evenstar“ auf seinem Soundtrack zu „Herr der Ringe: Die zwei Türme“ singen ließ. Für „Nuages Du Monde“ sang sie nicht nur den groovigen Opener „Angelicus“, sondern auch den Song „Lumenis“ ein und verlieh dem Album eine klassische Note, die Delerium in der Form noch nicht aufwies. Trotz der gelungenen Vocal-Performances auch von Katherine Blake and Mediaeval Babes, Jaël, Zoë Johnston und anderen klang der ätherische Pop von Delerium allerdings zunehmend beliebiger, nur bei den Instrumentals „Tectonic Shift“ und „Apparition“ blitzte noch die ursprüngliche Kraft und Intensität auf, die das Projekt einst auszeichneten.
Zurück zu Front Line Assembly: Nach den FLA-Alben “Implode” (1999) und “Epitaph” (2001), kehrte Rhys Fulber für die Produktion von “Civilization” (2004) zu Front Line Assembly zurück. Wer auf härteren, aggressiven Electro steht, wie ihn Front Line Assembly noch zu Zeiten von „Caustic Grip“ oder „Millennium“ produzierten, wurde sicher von „Civilization“ enttäuscht. Fast schien es, als wären Bill Leeb und Rhys Fulber vom grassierenden Future-Pop-Virus infiziert worden, denn so sanft hatte man die Band noch nie gehört. Wurde mit „Maniacal“ bereits einer der wenigen härteren Tracks als Single ausgekoppelt, so überraschte das Album mit fast verträumt groovenden Rhythmen und ausgefeilten Harmonien. Auf jeden Fall hörte man von den ersten Klängen an, wie gut Bill und Rhys miteinander ausgekommen sind, nachdem Bill die letzten drei Front-Line-Alben mit Chris Peterson realisiert hatte. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es schon drei Alben gewesen sind, die ich mit Chris gemacht habe. Es ist also sehr viel Zeit vergangen. Es war letztlich sehr angenehm und einfach, mit Rhys zu arbeiten, weil wir nie darüber gesprochen haben, was für eine Art von Front-Line-Album wir machen wollen“, meinte Bill. „Wir haben uns einfach treiben lassen und gejammt, so wie wir es früher immer gemacht haben. Rhys nahm viele Songs mit nach L.A., programmierte daran herum, schickte sie mir zurück und so weiter. Das meiste Material entstand über eine große Distanz, was der Musik aber gut tat, auch die Tatsache, dass wir eine längere Auszeit hatten und jeder an anderen Sachen arbeiten konnte. Rhys fragte mich nun, ob wir bald ein weiteres Front-Line-Album machen könnten, weil er so viel Spaß hatte, an diesem zu arbeiten. Bei Front Line haben wir ja keinen Manager oder ein Label, das auf einer Single pocht. Wir sind total frei, das zu tun, was wir wollen. Da existiert kein Druck, was es einfacher macht, kreativ zu sein und die Stimmung zu kreieren, in der man sich tatsächlich befindet.“ Das sah Rhys ganz ähnlich: „Es hat einfach Spaß gemacht, ein neues Front-Line-Album nach all den Jahren zu machen, vor allem mit der Technologie, die uns heute zur Verfügung steht, und mit all den Sachen, die wir bei der Produktion anderer Platten gesammelt haben. Ich glaube wirklich, dass das neue Front-Line-Album das beste ist, was wir je gemacht haben. Es sind Songs vorhanden, es ist nicht einfach nur eine Industrial-Platte. Es sind einige von Bills besten Vocals dabei, ganz unterschiedliche Stimmungen, up- und down-tempo-Stücke.“
In der Tat war von früheren Industrial-Einflüssen nicht mehr viel zu hören. Stattdessen schien ein wenig von dem Vibe mit zu Front Line Assembly übergeschwappt zu sein, den Bill und Rhys zuvor mit Delerium kreiert haben. Immer wieder durchzogen weibliche Vocals, wenn auch meist nur im Hintergrund, das Soundgeflecht, wobei „Transmitter“ und vor allem „Vanished“ sogar von den poppigen Arrangements her an Delerium erinnerten. „Ich denke, je mehr man mit Musik zu tun hat, je länger man Musik macht und musikalischer wird, umso mehr werden die musikalischen Elemente ein Teil von dir“, versucht Bill das Phänomen zu erklären. „Wir haben sicher nicht bewusst versucht, etwas von Delerium bei Front Line zu verwenden. Wir wollten einfach ein Front-Line-Album machen, das etwas dunkler und trauriger ausfallen sollte, eben so, wie ich über die Welt denke.“ Auf jeden Fall klangen Front Line Assembly auf ihre Art ebenso gereift wie Delerium. Das Songwriting war auf jeden Fall stärker in den Vordergrund gerückt als der Wunsch, möglichst hart und gemein zu klingen. Bill und Rhys hatten allerdings nicht mehr das Bedürfnis, die Musikwelt revolutionieren zu wollen.
„Als die Industrial Music Ende der 80er, Anfang der 90er so populär gewesen ist, haben wir schon das Bedürfnis verspürt, die Szene mit originellen Sounds zu versorgen. Aber mittlerweile sind so viele Jahre vergangen, wir zählen zu den ältesten Bands der Szene, und es gibt so viele neue Sachen wie den europäischen Pop, der sehr beliebt ist. Wir sind so weit gekommen, wie es uns möglich gewesen ist, und wir haben mehr erreicht, als wir uns je erträumen konnten. Diese Platte kam mehr vom Herzen als von allem anderen. Deshalb klingt es auch dunkler und stimmungsvoller."
"Wir haben nicht versucht, besonders hart zu klingen oder die meisten Beats in einem Song unterzubringen“, erläuterte Bill. „Deshalb mag das Album etwas melancholisch klingen. Angesichts der Möglichkeit, dass es unser letztes Album sein könnte, haftet ihm etwas Trauriges an, aber ich mag diese Stimmung, habe sie immer gemocht. Nein, ich habe nicht den geringsten Druck verspürt. Einen Song wie ,Transmitter' hätte es früher nie bei Front Line gegeben, das ist etwas ganz anderes. Aber darüber machen wir uns heute keine Gedanken mehr. Wir haben es einfach fließen lassen.“ Und das hörte man dem Album deutlich an. Tracks wie „Transmitter“, „Vanished“, „Civilization“ oder „Fragmented“ lebten durch ihren poppigen Groove und die stark herausgearbeiteten Melodien, wobei immer mal überirdisch schöne Vocal-Samples die bittersüße Melancholie des Albums verstärkten. Insofern überraschte die Aussage, dass „Civilization“ eventuell das letzte FLA-Album sein könnte. Das hätte aber sicher keine musikalischen Gründe, sondern hat eher mit der Musikpiraterie und der stark schwächelnden Musik-Industrie zu tun. „Im Grunde genommen ist es heute schwieriger geworden, Musik zu machen. Früher konnte man kaum ein Keyboard bedienen, aber das kümmerte niemanden. Mittlerweile muss man nur wissen, wie ein Computer funktioniert. Und das können viele Leute. Du musst nicht mal mehr musikalisch ausgerichtet sein. Am besten ist es natürlich, wenn man sowohl über Computer- als auch musikalische Qualitäten verfügt“, kommentiert Bill die schwierige Situation für Musiker heutzutage. „Es ist insofern schwieriger, als dass heute so viele CDs produziert werden, so viel Musik gemacht wird. Wenn man nicht schon etabliert ist, ist es sehr hart, bekannt zu werden.“
Um ihre Entwicklung weiterhin voranzutreiben, sind Rhys und Bill sogar das Experiment eingegangen, für das 2006er Album “Artificial Soldier” eine echte Band auf die Beine zu stellen. „Es ist schon etwas seltsam. Wir sind so weit in diesem Genre gekommen. Wir haben die Sache zusammen aufgebaut, dann wollte Rhys andere Dinge machen, was ich gut verstehen konnte. Schließlich haben wir viele Jahre zusammengearbeitet“, rekapitulierte Bill Leeb die besondere Beziehung zwischen Rhys und ihm. „Außerdem war die Musikszene nicht mehr das, was sie einmal war. Wenn man so lange mit einer Band unterwegs ist wie wir, gehen auch die Fans mal andere Wege und wenden sich neuen Sachen zu. Und die jüngere Generation wächst ohnehin mit ganz anderer Musik auf. Vielleicht war unsere Zeit einfach gekommen. Aber wir haben noch immer unsere Hardcore-Fans, also fingen wir einfach mal an, an ein paar Songs zu basteln, und diesmal war es etwas ganz Besonderes, weil nicht nur Rhys mitwirkte, sondern auch Chris Peterson und der 22-jährige Jeremy Inkel, der an der Schule mit unserer Musik aufgewachsen ist. Wir haben noch nie zu viert an einem Album gearbeitet, und dadurch, dass wir diesen 22-jährigen Jungen an Bord hatten, war auch gleich eine frische Energie vorhanden. Wir hatten auf einmal ein ganz neues Selbstbewusstsein, erinnerten uns daran, dass wir mit FLA einen echt großen Namen haben. Und wenn man all die Musik hört, die da draußen mittlerweile produziert wird, muss man doch feststellen, dass viele Platten längst nicht an die großen Acts wie Skinny Puppy oder Front 242 herankommen. Wir haben viel Arbeit in das Album gesteckt und wollen noch einmal wissen, wo wir stehen. Wir wollen touren und Spaß haben.“ Und dass das Quartett diesen auch schon im Studio hatte, war „Artificial Soldier“ noch weitaus deutlicher anzuhören als dem auch schon überzeugenden Vorgänger, der stellenweise doch sehr die offensichtliche Nähe zum erfolgreichen Projekt Delerium gesucht hatte und mit im FLA-Kontext überraschenden ätherischen Pop- und verführerischen Ethnic-Elementen kokettierte. Mit dem neuen Album kehrten Leeb, Fulber & Co. wieder zu einer angenehmen Härte zurück, die erstmals auf dem 90er Meilenstein „Caustic Grip“ so vehement zum Ausdruck kam. Offensichtlich wollen es Front Line Assembly, die zum Jahreswechsel 1987/1988 ihre ersten beiden Alben „The Initial Command“ und „State Of Mind“ veröffentlichten, es nach 20 Jahren noch einmal wissen. „Als wir mit dem Touren aufgehört haben, kamen gerade Acts wie VNV Nation groß in Mode und übernahmen das Ruder. Da dachten wir uns, gehen wir raus und zeigen den Leuten mal, was harte elektronische Musik ist. In den letzten Jahren gab es da nicht viel. Es ist also an der Zeit, aus der Asche aufzuerstehen“, lautet Bills Kampfansage auch in Richtung in seichteren Gefilden agierenden Electro-Acts. Mit „Artificial Soldier“ haben FLA dabei ein schlagkräftiges Argument an der Hand und demonstrieren eindrucksvoll, dass sie noch längst nicht zum alten Eisen zählen. Statt sich in feinsinnigen Ethno-Pop-Sounds zu verlieren, wurde nun wieder verstärkt in die Gitarrensaiten gegriffen, ohne aber die fast schon hardrockige Attitüde von „Millennium“ aufzugreifen. „Artificial Soldier“ blieb zum Glück ein rundherum elektronisch geprägtes Album, das durch den gezielten Gitarreneinsatz einfach an Druck und Ausdruckskraft gewann. Dazu gesellten sich starke Kompositionen, die durch dynamische Drums und ausgefeilte Electro-Arrangements grandios in Szene gesetzt wurden. Auf „Artificial Soldier“ klangen FLA wieder so gut wie zu ihren besten Zeiten, voller Wut und Kraft. Aber was inspiriert eine Band überhaupt noch nach fast zwanzig Jahren, Musik zu machen? „Wenn du erst einmal auf der Bühne gewesen bist und vor vielen Leuten gespielt hast, ist es einfach unbefriedigend, wenn du zuhause rumsitzt. Du vermisst es, hinauszugehen, Leute zu treffen, die mit dir reden wollen, die daran interessiert sind, was du denkst, was du für Musik machst, eben Teil der Szene zu sein. Das ist wie in der Schule, wo du mit einer Gruppe von Freunden rumhängst, diese Kameradschaft. Rhys und ich hatten das Glück, mit ‚Silence’ in fünf Ländern einen Nr.-1-Hit zu landen. Man versucht immer, die letzte Produktion noch zu toppen, das zu erreichen, was man noch nicht geschafft hat. Man hat nie das Gefühl, das perfekte Album gemacht, den perfekten Song geschrieben zu haben. Das ist wie eine infektiöse Krankheit, die sich ausbreitet. Und ich werde sicher nichts anderes mehr machen. Der ganze kreative Prozess macht einfach viel Spaß. Das ist viel besser, als nur zuhause vor dem Fernseher zu sitzen und einem regulären 9-to-5-Job nachzugehen. Ich will das gegen nichts im Leben eintauschen. Das Leben ist einfach zu kurz. Also möchte ich es so leben, wie ich mir das vorstelle.“
Offensichtlich teilte Rhys diese Einstellung auch, denn er scheint mit Front Line Assembly doch enger verbunden zu sein, als es die mehrjährige Auszeit vermuten ließ. Nach seinem Ausflug nach L.A. ist er nun wieder nach Vancouver zurückgekehrt, hat die Bassistin von Pink geheiratet und lebt in seinem Landhaus fast wie auf einer Ranch. „Immer wenn man irgendwelche Reviews liest, wird unser Name oft genug als Vergleich erwähnt. Natürlich stellt man sich da die Frage, wie weit man noch gehen kann“, meinte Bill. „Rhys hat in den letzten Jahren viele andere Projekte und Dinge gemacht, aber dann hat er den Wert von FLA entdeckt und wollte es nicht einfach wegwerfen. Gerade heute ist es unheimlich schwer, eine neue Band zu gründen, sich einen Namen zu machen und sich zu entwickeln. Es kommen viele Bands auf den Markt, verschwinden aber genauso schnell wieder. Es ist ja auch bei den großen Rockbands so, dass man nach einer langen Karriere mal Lust auf andere Sachen hat, verschiedene Dinge ausprobiert, heiratet etc. Aber nach einer Weile beginnt man das alte Leben zu vermissen und möchte wieder daran anknüpfen. Das funktioniert nicht immer, aber wir hatten eine Menge Spaß, das Album aufzunehmen.“ Überraschender ist allerdings der Umstand, dass nun auch Chris Peterson wieder mit von der Partie ist, nachdem er vor zwei Jahren auf das zweite Decree-Album „Moments Of Silence“ konzentriert hatte und bei Delerium und FLA nicht mehr aktiv gewesen ist. „Ich habe mit Chris ja an einigen FLA-Alben gearbeitet, auch an Delerium. FLA war aber nie ein großer Geldbringer, und sein Bruder hat eine T-Shirt-Firma, in der er sich mehr engagierte. Außerdem wollte er sich mehr auf sein eigenes Projekt Decree konzentrieren. Also entschlossen wir uns, eine Pause einzulegen. Zusammen mit Jeremy haben wir dann aber das letzte Noise-Unit-Album gemacht, was uns allen viel Spaß bereitete. Ich glaube, es hat ihn fasziniert, dass Rhys wieder mit an Bord sein würde, dass ich auf Tour gehen wollte“, versuchte Bill auch Chris’ Rückkehr zu erklären. „In einer Band sind meist viele Egos vertreten, und oft hat jeder das Gefühl, dass nicht genügend von seinen Ideen mit in ein Album einfließt, so dass jeder irgendwann sein Soloalbum macht. Aber dann kehren sie meist wieder zur Band zurück. Bei uns hat jeder irgendwie sein Ding gemacht. Rhys ist nach L.A. gezogen, Chris verfolgte sein eigenes Projekt … Man kann diese Dinge nicht planen, sie passieren einfach.“
Auf jeden Fall war dem neuen Bandgefüge ein weitaus kraftvollerer, erfrischenderer Sound zu verdanken. Tracks wie das ungemein organisch rockende „Dissension“ oder das pulsierend rhythmische Eröffnungsstück „Unleashed“ hat man so lange nicht mehr von FLA gehört.
„Rhys und ich besorgten das Songwriting, aber auch Jeremy kam mit drei, vier Songs an, die wir fertig stellten“, brachte Bill noch immer seine anerkennende Bewunderung zum Ausdruck. „Das gab es noch nie bei uns, dass jemand anderer mit eigenen Songideen ankam. Das war vollkommen neu für mich!“ Doch damit nicht genug: Bill & Co. ließen auch erstmals Gastsänger an Bord, was insofern ein ungewöhnlicher Schritt war, als dass sich FLA stets gerade durch Bill Leebs verzerrten Gesang von ähnlichen Electro-Acts unterschieden, die mittlerweile schon recht gut den Sound ihrer einstigen Vorbilder zu kopieren verstanden. So mochte sich mancher Club-Gänger fragen, ob „The Storm“ vielleicht ein neuer Track von Covenant sei, und „Future Fail“ ein neues Stück von Front 242 – denn keine Geringeren als Eskil Simonsson und Jean-Luc De Meyer wurden für die exklusive Ehrenaufgabe auserwählt, den Front-Line-Kompositionen ihre einzigartigen Stimmen zu leihen.
„Ich bin ein großer Fan von Front 242, und Covenant haben unsere Tour in Kanada eröffnet. Ich bin gespannt, wie die Stücke beim Publikum ankommen! Ich denke, beide Songs sind coole Club-Nummern. Vielleicht halten die Leute es für neue Tracks von Covenant oder Front 242 … Ich finde es toll, wenn man die Leute noch überraschen kann“, freute sich Bill. „Ich wollte Jean-Luc schon auf dem letzten Album als Gastsänger haben, aber da machte uns das Label seines C-Tec-Nebenprojekts einen Strich durch die Rechnung. Aber als F 242 auf einer kleinen Tour ihre erste Show in Vancouver hatten, die Rhys, Chris und ich besuchten, da fragte ich Jean-Luc nach der Show persönlich, ob er Lust dazu hätte, und er mochte den Track, fühlte sich inspiriert. Darum geht es doch letztendlich. Um Inspiration!“ Wo wir denn auch schon bei den Inspirationen zum neuen Album wären – und da wird schnell deutlich, woher der raue, aggressive Sound herrührt … „Meine Scheidung verlief sehr dramatisch, da stauten sich bei mir viele Aggressionen an“, erklärt das FLA-Oberhaupt. „Wenn man sich in so einer Situation befindet, nimmt man einen ganz anderen Standpunkt zum Leben ein, zum Krieg, zu den Menschen, die Geld mit dir verdienen … Es hat mir vor Augen geführt, wie Menschen durch schlechte Beziehungen zerstört werden können. Das waren die Inspirationen für das neue Album. Es war eine Art Therapie für mich, durch all die Dinge zu gehen, etwas zurückzulassen, was man 20 Jahre versucht hat aufzubauen. Da war es gut, Freunde um mich zu haben. Mit Delerium hätte ich so etwas nicht verarbeiten können. Wenn man jung ist, macht man sich um nichts wirklich Gedanken, aber wenn man älter wird, versucht man, einen Sinn zu finden in dem, was man tut.“ So bezieht sich denn der Albumtitel „Artificial Soldier“ auf Bill Leeb selbst.
„Es ist mein Kampf mit dem Leben. Andere Leute geben einfach auf, fangen zu trinken an, sehen keinen Sinn mehr im Leben, sind zu hart zu sich selbst. Das sind Themen, mit denen ich mich gerade befasst habe. Ich bin kein Soldat, der in einem echten Krieg kämpft. Zum Glück habe ich die Musik, durch die ich mich ausdrücken kann. Ich habe Freunde, kann auf Tour gehen, will mich nicht selbst isolieren. Das ist alles enorm wichtig für mein Seelenheil.“ 
Sowohl mit Delerium als auch mit Front Line Assembly (sowie weiteren mehr oder weniger zeitweiligen Projekten) haben Rhys Fulber und Bill Leeb immer wieder bewiesen, in welch weitem Feld der elektronischen Musikproduktion sie erfolgreich tätig sind. Vor allem mit Delerium waren sie auf verschiedenen Soundtracks vertreten. Für den 1999 produzierten Mystery-Thriller “Convergence” steuerten sie gleich acht Tracks ("Aftermath", "Otherworld", "Inside the Chamber", "Lost Passion", "Strangeways", "Stone Tower", "Temple of Light", "Untitled") bei, ihre Hits „Enchanted“ und „Silence“ wurden gleich in mehreren Filmen und Serien verwendet.
2012 steuerten Front Line Assembly den Soundtrack zum Online-Strategie-Spiel „AirMech“ bei.

Discographie (Auswahl): 
Delerium: 
1988: Faces, Forms and Illusions
1989: Morpheus
1990: Syrophenikan
1991: Stone Tower
1991: Euphoric (EP)
1991: Spiritual Archives
1994: Spheres
1994: Semantic Spaces
1994: Spheres II
1997: Karma
2000: Poem
2003: Chimera
2006: Nuages du monde
2010: Voice: An Acoustic Collection
2012: Music Box Opera
Front Line Assembly: 
1987: The Initial Command
1988: State of Mind
1988: Corrosion
1989: Gashed Senses & Crossfire
1990: Caustic Grip
1992: Tactical Neural Implant
1994: Millennium
1995: Hard Wired
1997: FLAvour of the Weak
1999: Implode
2001: Epitaph
2004: Civilization
2006: Artificial Soldier
2007: Fallout
2010: Improvised Electronic Device
2012: AirMech
2013: Echogenetic

Synaesthesia:
1995: Desideratum
1995: Embody
1997: Ephemeral

Conjure One: 
2002: Conjure One
2005: Extraordinary Ways
2010: Exilarch

Noise Unit: 
1989: Grinding Into Emptiness
1990: Response Frequency
1992: Strategy Of Violence
1995: Decoder
1996: Drill
2005: Voyeur

Will: 
1991: Pearl Of Great Price
1992: World ° Flesh ° Stone

Intermix: 
1992: Intermix
1992: Phaze Two
1995: Future Primitives
Playlist:
01. Delerium - Inside The Chamber (Faces, Forms, And Illusions) - 06:19
02. Front Line Assembly - Testimony (State Of Mind) - 05:26
03. Delerium - Morpheus (Morpheus) - 04:54
04. Delerium - Prophecy (Syrophenikan) - 06:35
05. Noise Unit - Beneath The Surface (Response Frequency) - 04:10
06. Synaesthesia - New Horizons (Embody) - 10:30
07. Delerium - Window To Your Soul (Karma) - 09:25
08. Delerium - Amongst The Ruins (Poem) - 10:21
09. Delerium - Aftermath (Spiritual Archives) - 07:31
10. Synaesthesia - Nomads (Ephemeral) - 10:00
11. Conjure One - Premonition [Reprise] (Conjure One) - 03:15
12. Synaesthesia - Wasteland (Ephemeral) - 07:57
13. Delerium - Sorrow (Euphoric) - 08:35
14. Front Line Assembly - Lose (AirMech) - 06:22
15. Delerium - Colony (Spheres) - 12:03

Soundtrack Adventures #162 with BILL LEEB & RHYS FULBER @ Radio ZuSa 2015-05-03 by Dirk Hoffmann on Mixcloud

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