Playlist # 36 vom 04.07.10 - SIMON FISHER TURNER
Simon Fisher Turner wohnt nicht in Hollywood und zählt auch nicht zu den größten Filmkomponisten seiner Zeit, aber er wird all denen ein fester Begriff sein, die die außergewöhnlichen Filme von Derek Jarman kennen. Er hat den Traum-Allegorien und melancholisch-wütenden Filmessays des am 19. Februar 1994 Jahres an AIDS verstorbenen Kultregisseurs stets das entsprechende musikalische Sujet verliehen.
"Ich wurde ihm zu einem Zeitpunkt vorgestellt, als ich kein Geld und keinen Job hatte. Er fragte mich, ob ich ihm beim Umzug helfen, ob ich fahren könnte, und ich sagte, ja natürlich. Er hatte gerade 'Jubilee' abgedreht, und ich begann in der Produktionsfirma als künstlerischer Berater zu arbeiten", erinnert sich Simon.
"Danach machte er 'The Tempest', wobei ich wieder in der Produktion tätig war. Aber während der Dreharbeiten zu 'The Tempest' hatten wir am Drehort musikalische Abende, wo ich Piano und Gitarre spielte, ein Tänzer namens Orlando tanzte und H. Williams, der Prospero spielte, seine Gedichte vorlas. Es waren fast kleine Shows, und wir hatten eine Menge Spaß dabei.
Für 'Caravaggio' war ich überraschenderweise als Schauspieler integriert, aber nur in einer Nebenrolle. Während der Dreharbeiten wurde man darauf aufmerksam, dass wir den Film machten, und Komponisten schickten Tapes, um den Job für die Musik von 'Caravaggio' zu bekommen. Derek meinte, ich sollte sie mir alle anhören, und nachdem ich das getan hatte, trafen wir auch einige Leute, aber wir konnten uns für niemanden, der die Musik machen sollte, so richtig entscheiden. Als Derek eines Tages aus Italien zurückkam, fragte er mich, ob ich die Musik machen wollte. Ich nahm begeistert an. Ich wusste nichts über Filmmusik, ich hatte keine Idee, wie ich sie aufnehmen sollte, es war eine völlig neue Welt für mich. Aber es ermöglichte mir auf einmal, mit klassischen Musikern zu arbeiten, alte Instrumente zu benutzen. Ich denke, die Musik zu 'Caravaggio' war die Musik, die ich als Kind hörte, eine simulierte religiöse Musik, die ich ohne Synthesizer, nur mit Instrumenten einspielen wollte.
Heutzutage arbeite ich mit einer Verbindung aus Musikern, die richtige Instrumente wie Cello und Trompete spielen, und Tapes, Samples, Piano, Gitarre."
Simons ausgiebigen, oft siebzigminütigen Scores zu Filmen wie "The Last Of England", "Edward II", "The Garden" und schließlich "Blue" (alle bei Mute erschienen) zählen zu den außergewöhnlichsten Filmmusiken überhaupt, brechen sie doch mit fast allen Konventionen des Genres, und der Enthusiasmus, der dabei in der vielschichtigen Musik zum Ausdruck kommt, resultiert fraglos auch aus der Begeisterung, die Simon seinem Freund entgegenbrachte.
"Die Qualität von Dereks Filmen ist unvorstellbar weit, sie verfügen über eine besondere künstlerische Konzeption von Bildern. Derek war ursprünglich ein Maler und ein Dichter, bevor er eine Super 8-Kamera in die Hand bekam, aber er hatte eine unbeschreibliche Tiefe in den Visionen und der Ehrlichkeit. Er benutzte fast die ganze emotionale Breite. Ich mag nicht alle seine Filme. Ich denke, er brachte zu sehr seine Sexualität mit ein, aber als Regisseur kann er das tun. Dadurch verärgerte er aber auch Teile des Publikums, weil er wegen seiner Sexualität stets sagen wollte: Ich bin homosexuell; ich glaube, dies ist richtig, das ist falsch. Seine Filme waren politisch, außergewöhnlich. Derek hat immer mit einem Kollektiv von Freunden zusammengearbeitet und ließ den Dingen freien Lauf. Es machte immer Spaß, einen Film zu machen, obwohl er sehr ernsthaft war. Spaß war stets dabei, weil die Arbeit um Derek herum passierte, und Derek trieb uns alle an. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich ihn vermisse. Wir müssen den Geist seiner Arbeit weiterführen, den Enthusiasmus über das Leben."
Als Jarman seinen letzten Film "Blue" realisierte, war er, bedingt durch seine AIDS-Infektion, erblindet und hatte seinen Tod bereits vor Augen. Der Film stellte, da er nur blau war und allein von der Poesie Jarmans und der Musik lebte, auch für Simon eine besondere Herausforderung dar.
"Ich musste den Worten lauschen, die Musik entstand aus den Gedichten, mit denen ich mich sehr vertraut fühlte. Alles, was wir für 'Blue' versuchten, war, allein die Worte zu illustrieren. Das war meine Hauptaufgabe. Wir waren sehr glücklich darüber, mit einem Mann namens Markus Dravius aus Frankfurt zusammenzuarbeiten, der ein Mitarbeiter von Brian Eno ist. Er nahm die Sachen ganz toll auf. Wir hielten uns einen Monat bei Brian auf und entspannten uns einfach. Wir frühstückten und hörten nur den Worten zu und überlegten, welche Musik dazu passen würde. Derek kam immer mal ins Studio, um zu sagen, was ihm gefiel und was nicht. Aber ich wusste von diesem Projekt schon seit Jahren und machte in Italien einige 'Blue'-Konzerte, um das Interesse an dem Film zu wecken.
Die Konzerte waren völlig anders als der Film, aber sie gaben uns eine Idee davon, wie die Musik sein sollte. Danach war es eine Sache des Telefonierens, Freunde zu fragen, ob sie Gefallen an dem Projekt finden würden."
Und so nahmen neben Simon Turner, der die übrigen Musikbeiträge zu einer furiosen Collage zusammensetzte, u.a. Miranda Sex Garden, Coil, Momus, Vini Reilly und Brian Eno teil, die auf ihre Weise einem besonderen Freund huldigten.
Abgesehen von seinen Soloaktivitäten schrieb Simon aber auch für andere Regisseure die Filmmusik, meist für englische Produktionen, von denen Andi Engles "Melancholia" bei Silva Screen auf CD veröffentlicht wurde. Mittlerweile arbeitet er auch mal in Hollywood oder Australien, wobei er stets versucht, einen Kompromiss zwischen den Wünschen des Regisseurs und seinen eigenen Ideen zu finden.
"Mein Job als Soundtrackkomponist ist, das zu tun, was der Regisseur möchte, aber ich mache auch immer das, was ich möchte. Ich bin mir gegenüber in musikalischer Hinsicht nie unglaubwürdig geworden, weil ich von Filmemachern vermutlich gerade wegen meiner Ideen engagiert werde. Aber das ist eine Sache von Kommunikation und Vertrauen. Es wird viel Zeit mit Reden und Nachdenken verbracht. Ich neige dazu, in Filme involviert zu werden, während sie gedreht werden. Die meiste Filmmusik wird komponiert, wenn der Film fertig gestellt ist. Ich habe gerade einen Film gemacht, der in sechs Monaten entstanden ist. Meine Arbeit, den Soundtrack aufzunehmen, dauerte zwei Wochen, aber ich war jeden Tag am Set, wo ich Tape-Recorder, Sampler und Zugang zu allem hatte, was mit dem Film zusammenhing. Das ermöglicht mir einen viel besseren Einblick in den Film, wenn ich ihn vom ersten Tag an verfolge.
Die Leute fragen natürlich, wer ich bin, was ich mit einem Tape-Recorder mache, aber ich habe das immer sehr gemocht, stets am Drehort zu sein. Ich habe in erster Linie dem Regisseur und mir selbst zu gefallen, und ich bin nur dem Regisseur gegenüber verpflichtet, nicht der Produktionsfirma."
Nach dem Tod von Derek Jarman fällt es Simon allerdings schwer, sich für die Filme anderer Leute zu begeistern.
"Ich kam zufällig zur Filmmusik, und zwar durch Derek Jarman. Ich wollte nie ein Komponist werden, schon gar nicht für Filmmusik. Momentan möchte ich tatsächlich viel weniger Musik machen, weil es mir nach dem Tod von Derek und seinem außergewöhnlichen Film 'Blue' schwer fällt, Interesse an Filmen anderer Leute zu finden, obwohl ich gerade ständig an Filmmusik arbeite. Das ist ein ziemliches Problem, da muss ich für mich selbst sorgfältig auswählen. Ich möchte jetzt extreme Bilder haben, aber es gibt heutzutage nicht viele Filmemacher wie Derek einer war."Tatsächlich ist Simon Fisher Turner in den vergangenen Jahren recht wenig filmmusikalisch tätig gewesen, für das schwarz-weiße Vampir-Drama „Nadja“ beispielsweise. Am liebsten betätigt sich der unkonventionelle Komponist auf den Gebieten experimenteller Musik. Sein 2002 veröffentlichtes Album „Swift“ war beispielsweise wie ein Mosaik konstruiert, bei dem Improvisationen von einem Musiker-Team mit anderen Klangquellen zusammengefügt wurden.
Für das 2004er Nachfolgealbum „Lana Lara Lata“ arbeitete Fisher Turner mit dem französischen Klangkünstler Rainier Lericolais und dem italienischen Electronica-Duo T um‘ zusammen.
„'Lana' ist eine Art von Geistermusik. Es ist durch eine Vielzahl von Köpfen und Räumen auf eine Weise gegangen, die ich sehr interessant finde“, erklärt Turner und beschreibt damit einen kreativen Prozess, bei dem das ursprüngliche Material am Ende der musikalischen Verarbeitung nur noch rudimentär vorhanden gewesen ist. Auf dem Album ist der Komponist auch als Sänger zu vernehmen, wenn auch meist elektronisch verfremdet.
„Ob man nun versteht, was ich sage, oder nicht, spielt keine Rolle. Aber was ich sage, ist wahr für mich. Ich liebe es einfach, Songs auf den Punkt zu bringen. Ich liebe es zu singen. Das tue ich, seit ich als Achtjähriger in einem Kirchenchor gesungen habe.“Wie schon bei „Swift“ ist auch „Lana“ mit einer DVD - „Lara“ - ausgestattet, zu denen Sebastian Sharples die Visuals beigesteuert hat, und mit „Lata“ gibt es zudem auch ein von Paul Farrington kreiertes Klangspielzeug, mit dem der Hörer verschiedene Auszüge aus dem Album manipulieren kann. „Es ist eines der schönsten Dinge, die ich je gesehen habe“, meint Fisher Turner. „Es ist einfach wild. Ich liebe es!”
Doch trotz der ausgefallenen Ideen, die das Schaffen von Simon Fisher Turner prägen, würde er gern auch mal ein Album mit konventionellen Songs produzieren.
„Ich würde es lieben, ein Album mit Songs zu machen, aber ich bräuchte einen Songschreiber-Partner.“ Wir sind gespannt, welche Überraschungen uns da noch ins Haus stehen …
Diskographie:
1973 – Simon Turner
1985 - The Bone of Desire
1986 - Caravaggio Original Soundtrack
1987 - The Last of England Original Soundtrack
1989 - Melancholia Soundtrack
1991 - Edward II Original Soundtrack
1991 - The Garden Original Soundtrack
1992 - I've Heard the Ammonite Murmur
1992 – Sex Appeal (Simon Turner vs. The King of Luxembourg)
1993 – Revox
1993 – The Many Moods of Simon Turner
1994 - Blue: A Film by Derek Jarman
1995 - Live Blue Roma (The Archaeology of Sound)
1995 - Nadja
1996 - Shwarma
1996 - Loaded Original Soundtrack
1999 - Still, Moving, Light
1999 - Oh Venus
1999 - Eyes Open
2000 - Travelcard
2002 - Riviera Faithful
2002 – Swift
2005 – Lara Lana Lata
2008 – Lifesounds
2009 – Music from Films You Should Have Seen
Playlist
1 Simon Fisher Turner - The End Credits (Edward II) - 06:40
2 Simon Fisher Turner - Autumn Leaf (The Last Of England) - 03:27
3 Simon Fisher Turner - I Love You More Than My Eyes (Caravaggio) - 06:48
4 Simon Fisher Turner - Pure Blue (Live Blue Roma) - 04:26
5 Simon Fisher Turner - Series Of Cars (Lana) - 09:08
6 Simon Fisher Turner - Strung Out (Shwarma) - 07:34
7 Simon Fisher Turner - Virgin On The Rock/Stick Up/Warm (Melancholia) - 03:37
8 Simon Fisher Turner - Love, Death, Avoid It (Nadja) - 03:44
9 Simon Fisher Turner - Moist (Revox) - 09:48
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