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Sonntag, 1. August 2010

Carter Burwell (Teil 1) - Ein Faible für experimentelle Kreationen

Fraglos zählt der am 18. November 1955 in New York geborene Carter Burwell zu den interessantesten Komponisten in Hollywood. Allein seinen zahlreichen Soundtracks, die er für die eigensinnigen Filmemacher Spike Jonze („Adaption“, „Being John Malkovich“) und die Coen-Brüder („Blood Simple“, „Raizing Arizona“, „Fargo“, „No Country For Old Men“) kreiert hat, dürften seinen Ruf begründen, ebenso außergewöhnliche und kuriose Musik zu komponieren. Stets aufgeschlossen für neue Klänge, finden sich in seinen eklektizistischen Arbeiten experimentelle elektronische Kreationen ebenso wie Elemente aus Folk, Jazz, Bluegrass, Rock, Heavy Metal und natürlich Klassik.

Dabei kam Burwell eher zufällig zur Filmmusik. Zwar lernte er schon als Kind Klavier und eignete sich in Teenager-Jahren die Blues-Gitarre an, doch dann studierte er Architektur und Kunst in Harvard, wo er 1977 seinen Abschluss machte. Zu seinen Studienschwerpunkten zählten die Animation und die elektronische Musik, weshalb er nach seiner Graduation auch als Assistenz-Lehrer im Electronic Music Studio in Harvard arbeitete und 1979 seinen preisgekrönten Animationsfilm „Help, I’m Being Crushed to Death by a Black Rectangle“ veröffentlichte. Weitere berufliche Stationen umfassten von 1979 bis 1981 das Cold Spring Harbor Laboratory in Long Island, wo er als führender Computer-Wissenschaftler tätig war, und von 1982 bis 1987 das New York Institute of Technology, wo er an etlichen Computer-animierten Filmen, Fernseh-Spots und schließlich an der Erschaffung und Animation von Figuren für das japanische Anime „Lensman“ mitwirkte. Nebenbei tobte sich Burwell bei verschiedenen Punk-Bands aus. 1983 spielte er gerade mit Stanton Miranda in der Band Thick Pigeon, als Carter Burwell von einem Freund, den Sound Editor Skip Lievsay, gefragt wurde, ob er nicht Interesse hätte, die Musik zu einem Film zu schreiben.

„Ohne Erfahrung und Demo-Tape ging ich in den Schneideraum und traf Joel und Ethan Coen, die mir eine Rolle von ‚Blood Simple‘ zeigten. Ich habe zuvor nie einen Rohschnitt eines Films gesehen, aber in meinen Augen sah das sehr roh aus“, erinnert sich Carter Burwell (nachzulesen in den sehr aufschlussreichen und oft amüsanten Anekdoten, die der Komponist auf seiner Website hinterlegt hat – auch alle weiteren Zitate von Carter Burwell sind seiner Website entnommen). „Was später ganz bewusst langsam erschien, wirkte einfach nur langsam zu der Zeit. Und ich war mir nicht sicher, ob die Stellen, an denen ich lachte, tatsächlich witzig sein sollten. An jenem Tag begann ich an einigen musikalischen Ideen zu arbeiten, um ihnen zu zeigen, wie ich mich dem Film nähern würde. Ich war Direktor des Digital Sound Departments am New York Institute of Technology und benutzte ihr Synclavier zusammen mit meinem Piano zuhause, entwickelte einige grundlegende Tape-Techniken, um ein paar Sketche zu kreieren, die ich den Coens ein paar Tage später präsentierte. Ihnen gefielen die repetitiven hypnotischen Melodien, von denen einige Manipulationen von Industrial-Klängen enthielten. Sie ließen mich mit einem ‚ruf uns nicht an, wir melden uns‘ zurück, und ich ging nach Manchester in England, um ein Album mit Thick Pigeon und zwei Leuten von New Order, Steve Morris und Gillian Gilbert, aufzunehmen. Die LP ‚Too Crazy Cowboys‘ wurde von Factory Records veröffentlicht.“
Kaum war Burwell aus England zurück, erhielt er Nachricht von den Coen-Brüdern, dass er ihren Film scoren sollte, was den Komponisten zwar erfreute, doch hatte er nur wenige Wochen dafür Zeit, weil er in Tokyo die Animation für den Film „Lensman“ übernehmen sollte. Da niemand der Beteiligten genau wusste, wie man Film und Musik synchronisierte, benutzte Burwell einfach eine Stoppuhr, wie er es aus der Animation her kannte.
„Wir verwendeten die selben Melodien, mit denen ich angefangen hatte, als wir die eine Rolle des Films gesehen habe, und diese Erfahrung verlieh mir eine Menge Respekt vor meinen ersten Eindrücken“, erklärt Burwell. „Diese Sketche waren ziemlich elektronisch, aber wie ich probte, erkannte ich, dass das Solo-Piano einen interessanten Effekt auf den Film hatte. Es fügte eine Wärme und Verletzlichkeit hinzu, die uns zu den Charakteren führte, und das die psychologische Tortur dieser Figuren vor allem für den Zuschauer qualvoller machte – und befriedigender für uns. Obwohl also unser Plan vorsah, mit Synthesizern (wir mieteten eins der ersten Yamaha DX7s in New York) und Samplern und einigen anderen Instrumenten (meine Freunde Miranda und Steve Bray spielten etwas) zu arbeiten, reduzierten wir am Ende den Score auf ein sehr sparsames Arrangement, das den Look der texanischen Landschaft widerspiegelte.“
Tatsächlich zählt der einfühlsam instrumentierte, erfrischend andere Score noch immer zu den Höhepunkten in Carter Burwells Filmographie. Vor allem das Stück „Chain Gang“ mit seinen rückwärts aufgenommenen Aufnahmen einer Horde von Gang-Mitgliedern und den elektronischen Rhythmen sowie das elegische Piano-Hauptthema von „Blood Simple“ bleiben nachhaltig im Gehör haften.
Eigentlich plante Carter Burwell keine weiteren Filmarbeiten, doch dann wollte ihn Anthony Perkins für seinen Film „Psycho III“ engagieren, mit dem er sich eines Tages im New Yorker Plaza Hotel traf.
„Er mochte ‚Blood Simple‘ sehr, empfand, dass die musikalische Richtung von ‚Psycho II‘ (von Jerry Goldsmith komponiert, Anm.d.Verf.) zu traditionell ausgefallen war und wollte etwas anderes für seinen Film. All das klang gut für mich. Ich hatte aber keinen Agenten, keine Erfahrung im Niederschreiben von Musik auf Papier, geschweige denn davon, Musiker zu engagieren oder Musik zu Bildern zu entwerfen. Ich wusste nichts von alledem, aber Tony machte deutlich, dass es genau das war, warum er mich engagierte.“
Mit einem Synclavier, das ihm die Universal Studios mieteten, Percussions und Chören von Frauen und Jungen schuf Carter Burwell wiederum einen recht spartanischen Score, der für das Horror-Genre ungewöhnlich ausfiel. Allerdings wollte das Studio, wie es mit dem Aufkommen von MTV immer häufiger vorkam, auch Pop-Songs zu Werbezwecken in den Film einbauen. Also bedrängte das Studio Anthony Perkins, einige Pop-Künstler zu finden, die im Radio gespielt werden würden. Zum Glück verfügte der Regisseur und Norman-Bates-Darsteller über große Unabhängigkeit, weil er an dem Projekt nur teilnehmen würde, wenn man ihm größtmögliche freie Hand ließ. Und so sind einige Songs (z.B. „Dirty Street“ und „Catherine Mary“) im Film zu hören, die Carter Burwell mit seinen Freunden Steve Bray und Stanton Miranda eingespielt hatte.
„Eine Band nach der anderen wurde Tony und mir präsentiert, und wir lehnten sie ab – in der Regel, weil sie nichts von ‚Norman‘ in sich hatten. Irgendwann kam ich mit einem anderen jungen Komponisten mit einem Pop-Background zusammen. Danny Elfman hatte gerade die Musik zu ‚Pee Wee’s Big Adventure‘ komponiert, und wir haben darüber gesprochen, wie man einen Pop-Song für ‚Psycho III‘ kreieren könnte. Dannys Idee war, Bernard Herrmanns Streicher aus dem ersten ‚Psycho‘-Film zu sampeln und sie als Rhythmus-Bett zu verwenden, doch diesmal lehnte Universal die Idee ab.“
Am Ende durfte Burwell ein Thema aus dem Underscore verwenden, das in ein Instrumental mit einem Pop-Vibe weiterentwickelt wurde. Das Ergebnis hieß „Scream of Love“ und wurde von Burwell mit Steve Bray und David Sanborn eingespielt. Arthur Baker kreierte noch einige Dance-Remixes für eine Maxi-Single, und auch ein Video wurde gedreht, auf dem Burwell, Perkins und eine Hitchcock-Blondine zu sehen sind.
Wenig später stand auch schon das nächste Projekt von Joel und Ethan Coen an, die Kidnapping-Komödie „Raising Arizona“. Carter Burwell besuchte die beiden beim Dreh in Scottsdale, was aber eher persönlicher denn professioneller Natur war, da zunächst gar nicht davon die Rede war, dass Burwell erneut für den Score verantwortlich zeichnen sollte. „Als Ethan mich anrief, war er definitiv nicht davon überzeugt, dass der Film und ich eine großartige Verbindung wären. Er war der Meinung, dass der Film möglicherweise nicht ‚groovy‘ genug für mich sei. Ich liebte das Drehbuch, aber es stimmt, ich hatte keine Vorliebe für Country Music oder andere Western-Dinge. Dennoch wollte ich einen Versuch wagen. Der Score ist ziemlich improvisiert und verwendete Haushaltsgeräte wie Staubsaugerbeutel, Radkappen, Erdnussbuttergefäße etc. Für die Credits am Ende des Films schwebte mir ein wechselndes Arrangement aus den schnelleren Klängen des Films vor, im Besonderen wollte ich etwas mit Ukulele, Dudelsack und Kazuo machen. Allerdings hatten wir nur noch wenig Zeit im Aufnahmestudio, und die Coens zweifelten an meinem Konzept, also gingen sie in der Annahme, dass Edits der Musik verwendet werden, die wir bereits für ihre End Titles hatten. Ich machte indes weiter und nahm die Ukulele-Variation mit Uke-Spielern der Gruppe Songs From A Random House auf. Davon ausgehend, dass es das Stück nicht in den Film schaffen würde, ging ich nach Hause, mischte meine Version als ‚Raising Ukeleles‘ und dachte nicht, dass die Coens es wirklich hören würden, bis es viele Monate später auf dem Soundtrack platziert worden ist.“
Ein besonderes Schmankerl hielt der überwiegend elektronisch-verspielte Score mit dem in der Western-Musik typischen Jodeln bereit – eine Idee, die den Coen-Brüdern beim Drehen gekommen ist. „Ich glaube, Joel war gerade dabei, den Film zu drehen, als er über das Jodeln nachdachte. Joel und Ethan schätzen beide alte Country Music, und Ethan jodelt sogar selbst. Ich hielt das für eine brillante Idee. Die Musik behandelt den Film wie ein Cartoon. Niemand wird je in diesem Film verletzt ist die Aussage, die die Musik macht. Leute können mit Gewehren aufeinander schießen und niemand würde mehr verletzt als Bugs Bunny in einer ähnlichen Situation. Und das Jodeln und Banjo helfen dabei, dir das zu erzählen.“
Bis Anfang der 90er war Carter Burwell fast ausschließlich für die Coen-Brüder aktiv. Sowohl die kultverdächtigen Filme von Joel und Ethan Coen als auch die Musik von Carter Burwell dazu lagen jenseits des Mainstreams, während die Filmproduzenten überwiegend auf Nummer sicher gingen und konventionelle Orchesterklänge bevorzugten. Also waren die Coen-Brüder zunächst Carter Burwells wichtigste Auftraggeber. 1990 kamen die beiden Filmemacher und der Komponist für das Gangsterdrama „Miller’s Crossing“ erneut zusammen.
Für Burwell war dieser Film insofern ein Meilenstein, weil er erstmals mit einem Orchester arbeitete. „Niemand anderes als die Coen-Brüder würden mich engagieren, einen orchestralen Score zu komponieren, wenn man weiß, dass ich nichts von orchestraler Musik verstehe“, erzählte Burwell in einem Interview mit David Morgan für „Knowing The Score“.
„Von der Zeit an, als wir das Drehbuch zusammen lasen, bis zum Drehbeginn, waren wir uns einig, dass es vielleicht nett sein würde, ein großes Orchester zu benutzen. Wir wussten nicht mal, was ein wirklich großes Orchester war, aber etwas, das wie eines klang – größer als ein Banjo! Während sie filmten, lernte ich etwas über Orchestration und wie das ganze Ding läuft, und das hat richtig Spaß gemacht. Ich hatte richtig viel Zeit, drei Monate, um den Score zu schreiben, was viel mehr ist als ich sonst zur Verfügung habe. Und außerdem, was einzigartig ist, hatten sie nach Drehende noch Geld übrig, weshalb wir uns ein großes Orchester leisten und alles tun konnten, was wir wollten. Das war eine großartige Erfahrung. Ich liebe es immer, wenn dir das Business die Möglichkeit bietet, etwas Neues zu tun.“
Carter Burwells Soundtrack zu „Miller’s Crossing“ bildet wunderbar die irische Gangster-Ära ab und zählt zu den eindringlichsten Werken des Komponisten. Damit war auch für Burwell der Knoten in Hollywood geplatzt. Zwischen den nächsten beiden Coen-Projekten „Barton Fink“ (1991) und „The Hudsucker Proxy“ (1994) wurde Burwell ebenso für Mainstream-Komödien wie „Doc Hollywood“ (1991), „Airheads“ (1994) und „It Could Happen To You“ (1994) als auch für Dramen wie Mark Frosts „Storyville“, Stephen Gyllenhaals „Waterland“ (beide 1992), Roger Spottiswoodes AIDS-Drama „And the Band Played On“ und Michael-Caton Jones‘ „This Boy’s Life“ (beide 1993) angeheuert.

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