Carter Burwell (Teil 2) - Von Helden und Monstern
Je größer die Produktionen wurden, umso problematischer wurde manchmal die Arbeit für Carter Burwell. 1995 wurde er beispielsweise von Disney für „A Goofy Movie“ engagiert, und Burwell hoffte, etwas in der Tradition von Raymond Scott und Carl Stalling kreieren zu können, doch Disney war eher daran interessiert, den Cartoon-Figuren menschliche Züge zu verleihen und die Musik entsprechend warm und sentimental zu gestalten. Während das Filmstudio die Musik in traditionelle Richtungen bewegen wollte, fand Burwell diesen Ansatz völlig uninteressant, was zur Folge hatte, dass Don Davis ins Boot geholt wurde, um den Score zu überarbeiten. Zwar blieben dem Score einige von Carter Burwells Themen erhalten, doch überwiegend klang die Musik mehr nach Don Davis.
1997 folgten mit den Thrillern „Kiss The Girls“ und „The Jackal“ gleich zwei weitere Big-Budget-Produktionen, die für Carter Burwell unbefriedigend endeten.
„Michael fragte mich netterweise, ob ich bei diesem Prozess dabei sein wollte, doch der eine Tag, den ich bei Dannys Sessions verbrachte, war zu deprimierend, um es zu wiederholen. Er overdubbte kraftvolle E-Gitarren-Saiten über David Torns interessantere Gitarren-Arbeit. Am Ende konnte ich nur Dannys Ergebnisse hören und ein paar Stücke auflisten, die, wie ich fand, schrecklich waren – in der Hoffnung, dass Michael sie nicht verwenden würde. Schließlich waren sie aber allesamt im Film. Ich zog in Betracht, meinen Namen aus dem Projekt zurückzuziehen, aber ich fand, dass letztlich genügend von meiner Musik übrig blieb, um es dabei zu belassen. Aber diese schmerzvolle Erfahrung bedeutete das Ende meiner anhaltenden Zusammenarbeit mit Michael Caton-Jones.“
Ähnlich enttäuschend verlief die Arbeit an Gary Fleders Thriller „Kiss The Girls“. Hier wurde gleich die komplette Musik von Carter Burwell durch die eines neuen Komponisten ersetzt. In diesem – und zum Glück für Carter Burwell bislang einzigen – Fall übernahm Mark Isham den Job.
„Während der Film irgendwo im amerikanischen Süden spielte, wollte ich die Location etwas geheimnisvoller wirken lassen. David Torn spielte sowohl elektrische als auch akustische Gitarre und Matt Darrieu Balkanflöte. Der Score ist ziemlich polyrhythmisch und obskur, was, wie ich fand, der Mystik der Geschichte half. Während der Regisseur Enthusiasmus für das empfand, was ich geschrieben hatte, war die erste Reaktion des Studios (Paramount) – wie man mir erzählte: ‚Wo sind wir denn? In Tibet? Transsylvanien?’ Also wurde Mark Isham damit beauftragt, einen neuen Score zu komponieren. Ich empfinde nichts als Respekt für Marks Arbeit, aber ich war noch nicht in der Lage, den fertigen Film zu sehen, also weiß ich nicht, was er geschrieben hat.“
Trotz dieser beiden Rückschläge lief es in der zweiten Hälfte der 90er für den umtriebigen Komponisten sehr gut. Für die Coen-Brüder standen die bei beiden grotesken Meisterwerke „Fargo“ (1996) und „The Big Lebowski“ (1998) auf dem Programm, außerdem die John-Grisham-Verfilmung „The Chamber“ (1996), die Agenten-Thriller „Assassin(s)“ und „Conspiracy Theory“ (beide 1997), die romantische Komödie „Picture Perfect“, Simon Wests Militär-Drama „The General’s Daughter“ (1999), Todd Haynes‘ Glam-Rock-Hommage „Velvet Goldmine“, Stephen Frears‘ Drama „The Hi-Lo Country“ und Bill Condons Portrait des Regisseurs James Whale, „Gods And Monsters“ (alle 1998).
Zu den interessantesten Arbeiten aus dieser Zeit zählt der Score zum Action-Thriller “The Corruptor” von Regisseur James Foley. Burwell engagierte dafür zwei Musiker aus Shanghai (Wang Guo-Wei, Chen Tao), einige Leute aus dem experimentellen Umfeld in New York (David Torn, Erik Friedlander, John Deak) sowie seine alten Freunde John Moses, Geoff Gordon und Gordon Gottlieb.
„Es gibt eine Menge Gewalt in den Film, und was in erster Linie den Score vorantreibt, ist die zwiespältige Beziehung zwischen Chow Yun-Fats und Mark Wahlbergs Charaktere“, gab der Komponist dazu zu Protokoll. „Die Kombination aus östlichen und westlichen Instrumenten ist keine große Innovation für ein Filmset in Chinatown. Dennoch habe ich versucht, eine Art versteckte Welt zu kreieren, in der keine Tradition dominiert oder wirklich überlebt.“
Einen weiteren coolen Score hat Carter Burwell im Jahre 2000 zum Horror-Film „Blair Witch 2: Book of Shadows“ komponiert, wobei er den überwiegend elektronischen Score mit einigen außergewöhnlichen Sounds kombinierte.
„Der Score bezieht sich auf die Wälder, in denen der Film spielt – die Wälder, in denen wir verloren gehen und es nie nach Hause schaffen. Ich begann mit einem Stück, das ich bereits aufgenommen hatte, ‚Rock Water Wind‘, wobei plätscherndes Wasser, trommelnde und kratzende Felsen sowie Samples von wehendem Wind verwendet wurden, um eine Reihe von Loops zu basteln. Ich entwickelte die Idee mit zwei Musikern weiter, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite, Gitarrist David Torn und Schlagzeuger Geoffrey Gordon. Die finale Soundpalette war eine Kombination aus natürlichen Sounds und elektrischen Geräuschen“, erklärt Burwell auf seiner Website zu der Arbeit an diesem Soundtrack.
Ebenfalls im Jahre 2000 kam er wieder mit Regisseur Michael Almereyda zusammen, der ihn bereits 1986 für seinen Film „A Hero Of Our Time“ engagiert hatte. Nun stand eine moderne Version von Shakespeares Drama „Hamlet“ auf dem Programm, das bereits große Komponisten wie Berlioz, Tschaikowsky, Liszt und Schostakowitsch inspiriert hatte. Doch im Gegensatz zu diesen meist bombastischen Werken entschied sich Burwell ganz bewusst für eine sehr sparsame Instrumentierung und schwermütige, eindringliche Melodien.
Ganz anders sah die Arbeit an Brian Helgelands modernem Ritter-Abenteuer „A Knight’s Tale“ aus. Da dessen Skript auf der Annahme fußte, dass Ritterturniere vergleichbar mit modernem Stadionsport seien, sollten beide auch ihre Musik miteinander teilen. Deshalb wurden Stadion-Kracher wie Queens „We Will Rock You“ und „We Are The Champions“, Thin Lizzys „The Boys Are Back In Town“ oder „I Want To Take You Higher“ von Sly & The Family Stone gleich mit ins Skript eingebaut, während Burwells Job darin bestand, einige Brücken zwischen den musikalischen Zeitaltern zu bauen.
„Meine grundlegenden Themen mixten mittelalterliche Weisen mit poppigen Melodien, und die Instrumentation beinhaltete alles von Hurdy-Gurdy und altertümlichen Streichen bis zum sinfonischen Orchester und rauem Blechgeschrubber“, erklärt Carter Burwell. „Eine Szene ist ein formaler Tanz, die eine höfische Musik auf meinem Liebesthema basierend erforderte und dann in David Bowies Song ‚Golden Years‘ mündete. Das bedeutete mehrere Herausforderungen. Erstens musste der ganze Tanz choreografiert und in einem willkürlichen Tempo gefilmt werden, das in einer langsamen höfischen Geschwindigkeit begann und immer schneller wurde, bis Bowies Song einsetzte. Ich musste mich diesem Tempo und der Choreografie anpassen und auch einen nachvollziehbaren Weg vom formalen und beschränkten Tanz zu einem spaßigen 70’s Pop-Song finden. Wir haben Bowies Erlaubnis bekommen, einige Spuren von seinem Multitrack-Master zu ziehen, so dass ich diese in mein Arrangement mixen konnte, was mir dabei half, seinen Song einzuleiten, bevor er tatsächlich begann. Tony Visconti, der die originale Aufnahme des Songs produzierte, überwachte die Remix-Session, und auch Herr Bowie schaute herein, um zu hören, was wir in seinem Master gefunden haben.“
In den folgenden Jahren kam es mit der film-noir-Hommage „The Man That Wasn’t There“ (2001), der Mainstream-Komödie „Ein (un)möglicher Härtefall“ (2003) und dem Krimi-Klassiker-Remake „Ladykillers“ (2004) zu drei weiteren Zusammenarbeiten mit den Coen-Brüdern und nach „Being John Malkovich“ mit „Adaption“ (2002) zu einer zweiten Kollaboration mit Spike Jonze.
Ähnlich grotesk wie die Filme fielen dazu auch Burwells Scores aus, wobei die Musik zu „Being John Malkovich“ ungewöhnlich schwermütig ausfiel, aber auch voller wunderbarer romantischer Melodien steckte. Der Score zu „Adaption“ steckte dagegen wieder voller verrückter Sound-Experimente, für die der Komponist mittlerweile bekannt ist. Außerdem schrieb Carter Burwell die Musik zu Andrew Niccols Sci-fi-Hollywood-Satire „Simone“, schrieb neue Musik für den 1928 inszenierten Stummfilm „Lumiere et Ombre“ (2002), für das Theaterstück „Cara Lucia“ und die Dance-Performance „The Return of Lot’s Wife“ (beide 2003). Nach „Gods and Monsters“ engagierte Regisseur Bill Condon Carter Burwell auch für seinen nächsten Film „Kinsey“.
Befasste sich „Gods and Monsters“ mit den letzten Jahren im Leben des „Frankenstein“-Regisseurs James Whale, ging es in Condons neuen Film um das Leben des Sexual-Forschers Alfred Kinsey. „Als ein Kind der 60er bin ich während einer ‚sexuellen Revolution‘ aufgewachsen, und ich wusste irgendwie, dass Alfred Kinsey der Vater dieser Revolution gewesen ist, aber sonst wusste ich nicht viel über ihn, bis ich Bill Condons Drehbuch las“, erinnert sich Burwell. „Ich war überrascht herauszufinden, dass Kinsey seine Arbeit in Indiana in den 40ern betrieb, im wirklichen Mittelamerika Mitte des 20. Jahrhunderts. Den Weg, den er von jener Mitte aus ans Ende einer neuen Grenze einschlug, war der Weg der Wissenschaft, der fanatischen Datensammlung, um genau zu sein. Dieser Prozess des Sammelns und die natürliche Welt zu katalogisieren, beginnend mit den Insekten und mit den Menschen endend, ließ ihn erkennen, dass Variation die ultimative Wahrheit ist.
Es war nicht offensichtlich, welche Art von Musik der Film benötigt. Die Figuren sind überwiegend Wissenschaftler, auch wenn der Film von Sex durchdrungen ist, wird die Hitze immer wieder von der kühlen Distanziertheit der Charaktere reduziert. Ich bekam das Gefühl, dass der interessanteste Aspekt des Films die sehr traditionelle Welt gewesen ist, aus der Kinsey und seine sehr nichttraditionelle Arbeit entsprang, also wurde der Score ziemlich ‚traditionell‘ im Ton und der Instrumentierung – mehr als in den meisten meiner Arbeiten. Ich habe auch versucht, Kinseys Einsamkeit und Andersartigkeit auszudrücken. Und vom Beginn des Films an habe ich nach einem Thema gesucht, das seine Liebe und das Studium der natürlichen Welt zum Ausdruck brachte, so dass man erkennen würde, dass seine spätere Arbeit mit der menschlichen Sexualität Teil desselben Interesses gewesen ist.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Score die Emotionen der Figuren spielt, aber in diesem Fall schien es wichtiger als gewöhnlich, nicht nur wegen Kinseys Probleme, sich selbst auszudrücken, sondern weil immer noch einige seine Arbeit als gefährlich, unverantwortlich und gar kriminell ansehen … Die meisten von uns sind sowohl Held als auch Monster – Kinsey ist etwas mehr von beidem. Wenn der Score irgendwie gelungen ist, dann erlaubt er dem Publikum, beide Aspekte dieses Mannes und seines Erbes zu erleben.“
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen