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Sonntag, 20. Juni 2010

Elliot Goldenthal (Teil 2) - Aus einer anderen Welt

Doch im Gegensatz zu Herrmann hat Goldenthal nicht mehr die Möglichkeit, die Spannung des Films allein mit musikalischen Mitteln zu erhöhen, da durch die rasante Entwicklung der Technik die Sound Effects immer öfter die Aufgaben dessen übernehmen, was früher die Musik leisten musste.

"Heutzutage gehören Sound Effetcs zum Alltag. Man kann problemlos eine Explosion oder das Geräusch eines mit 110 Kilometern pro Stunde fahrenden Wagens erzeugen. In den 20er, 30er und 40er Jahren waren Sound Effects noch nicht so etabliert. Die Komponisten mussten eine erhöhte Realität des Films durch die Kreation von Musik erzeugen, dass er diesem oder jenem Sound ähnlich klang.
Der Job eines Komponisten war weitaus kreativer. Heutzutage realisieren die Filmemacher so viel mit Sound Effects, dass sie die Musik nicht mehr so wichtig nehmen. Und die Musik wird immer schlechter, solange die Filmemacher nicht verstehen, dass Musik die filmische Realität verstärkt. 
Wenn man an die Duschszene bei Hitchcocks ‘Psycho’ denkt, gibt es weder Sound Effects noch sieht man Blut oder wie das Messer zusticht. All das geschieht durch kreative Einbildung. Bernard Herrmann benutzte die Streicher, um auf abstrakte Weise einen Sound darzustellen, wie ein Messer ins Fleisch eindringt, und auch den Sound eines Vogels, weil Anthony Perkins mit Vögeln verbunden war. Er kreierte die Essenz des Alptraums auf abstrakte Weise. Im Gegensatz dazu würde man heute den Duschvorhang hören, das Wasser, das Messergeräusch, und die Musik würde die Angst reduzieren. Soundtracks werden immer schlechter, weil sich die Regisseure zu sehr auf Sound Effects verlassen. Die Rolle des Komponisten ist sehr eingeschränkt, und sie werden sehr faul, tun nur das, was notwendig ist. Musik ist keine Musik mehr, sondern ein Cue. Ich bin sehr empört darüber, dass sich die Komponisten zurücklehnen und sehr faul sind."
Elliot Goldenthal bei der Arbeit zuhause, 1995 fotografiert von Ted Thai
Andererseits weiß Goldenthal auch von den eingeschränkten Möglichkeiten seiner Kollegen, von denen meist nur verlangt wird, sich innerhalb der vorhandenen Konventionen zu bewegen und sich an ähnlichen Scores zu ähnlichen Filmen zu orientieren. Der Erfolg, den Neutöner wie Goldenthal, Graeme Revell oder Christopher Young aber mittlerweile haben, verweist auf eine Öffnung der Horizonte, auf eine Veränderung der Einstellung der Regisseure und Produzenten zu den Möglichkeiten der Filmmusik.
"Ich denke, dass Komponisten nie die Möglichkeit bekamen, ihre Abenteuerlust so auszudrücken wie heute. Mittlerweile gibt es eine andere Generation von Regisseuren, die selbst abenteuerlustiger sind. Früher waren die Komponisten sicher ebenso experimentierfreudig, bekamen aber nie die Chance dazu."
Wenn die neue Generation von Filmemachern auch die Komponisten ermutigt, sich auf neues Terrain zu wagen, ist mit ihr aber andererseits ein neues Problem aufgetaucht, nämlich die verstärkte Verwendung von Pop-Songs in den Filmen, was die Möglichkeiten des Komponisten wiederum zu reduzieren scheint.
"Das hängt von der Szene ab. In ‘Batman’ gab es eine Szene, wo Batman in das Zimmer der Frau flog, die er küssen wollte. Es war eine sehr romantische Szene und jeder im Studio wollte einen Song für die Szene haben, während ich der Überzeugung war, dass dort ein Streichorchester hingehörte, im Stile von Gustav Mahler, sehr dunkel und brodelnd, aber auch sehr romantisch. Der Regisseur fand, dass meine Idee besser funktionieren würde, weil ein Song in dieser Szene den Zuschauer nicht einbezieht, sondern vom Geschehen distanziert, da man beginnt, dem Song zu folgen und nicht der Szene. In manchen Szenen funktionieren Songs dagegen sehr gut, vor allem bei Übergängen, wenn jemand in ein Auto oder Flugzeug steigt und ein Szenenwechsel folgt. In ‘Drugstore Cowboy’ gab es viele dieser Szenen, bei denen die Songs hervorragend passten. Aber in dramatischen Szenen kann der Song den Zuschauer wegführen. Ein Song hat eine lineare Entwicklung, der man leicht folgen kann, während die Szene vielleicht viel komplexer angelegt ist. Ich denke, Pop Songs in Filmen ist ein großes Problem. Regisseure machen den großen Fehler, wenn sie glauben, dass Songs in der Lage seien, jemanden in einen Film hineinzuziehen. Denn Songs stoßen einen hinaus, distanzieren einen von dem Film. Der Film ist ein sehr sensibles Medium, und Songs sind sehr schwierig, um damit umzugehen. Das ist wie mit Erdbeeren. Die halten nur fünf Tage. Sie können nicht überdauern."
Nach dem 79er Debüt "Blank Generation" verstrichen zehn Jahre, bis Elliot Goldenthal von Mary Lambert engagiert wurde, die Musik für die Verfilmung des Stephen-King-Bestsellers "Friedhof der Kuscheltiere" (Varese Sarabande) zu schreiben. Abgesehen von den melodiösen Pianosequenzen kreierte Goldenthal wahrlich gruselig schrille Klänge, mit denen die Regisseurin offensichtlich Probleme hatte.
"Das größte Problem war, dass Mary Lambert mit meinen Vorstellungen von Melodie nicht zurechtkam. Sie konnte nie hören, dass ich eine Melodie komponiert habe. Sie war eine sehr nette, intelligente, fürsorgliche Frau, die darum bemüht war, den Film so gut wie möglich für das Studio zu machen, aber sie konnte es nicht hören. Ich musste ihr immer wieder sagen: ‘Es tut mir leid, aber es ist eine Melodie.’"
Zur gleichen Zeit arbeitete Goldenthal an dem Gus-Van-Sant-Film "Drugstore Cowboy" (Novus), für den der versierte Komponist einmal mehr ungewöhnliche Musik bereitstellte.
"Gus Van Sant spricht nicht viel. Er ist eher schüchtern. Wir arbeiteten Wochen über Wochen sehr eng miteinander. Die einzige Versicherung, die ich ihm geben konnte, war, dass die Musik für den Film so zu funktionieren hatte. Er fragte: ‘Warum?’ Und ich antwortete: ‘Weil es keinen Sinn macht.’ Worauf er fragte: ‘Was meinst du damit?’ Und ich erklärte ihm, dass es funktioniert, wenn es keinen Sinn macht in diesem speziellen Fall. Ich erklärte ihm wieder und wieder den Spaß und die Bedeutung vom Dadaismus, die Beziehung zu der Kunst, die wir zu kreieren versuchten. Er wollte ursprünglich die Musik benutzen, die ich für ‘Juan Darién’ geschrieben habe, was eine südamerikanische Kurzgeschichte von Horacio Quiroga war und Julie Taymor und ich 1988 inszenierten. Es wurde weltweit aufgeführt, und Gus hörte die Musik. Im Grunde genommen war es die Requiem-Messe in Latein.
Gus setzte die ganze Musik für den Film ein, aber als ich mir den Film ansah, fand ich es schrecklich. Ich konnte nicht die Musik hören und zur gleichen Zeit den Film sehen. Ich habe Gus angerufen und ihm gesagt, dass ich das nicht machen werde und damit beginne, meine Oper ‘Grendel’ zu komponieren. Einige Zeit später erhielt ich einen Anruf, in dem Gus mir erzählte, dass er einen anderen Komponisten gefunden hätte. Gus nahm die Musik von einem anderen Komponisten, die er gefunden hatte und zeitgleich in den Film einbaute, weil es so funktionierte. Es stellte sich dann aber heraus, dass der andere Komponist auch ich gewesen bin. Er hatte ein Tape gefunden, auf dem kein Name stand. Darauf willigte ich ein, mit ihm zusammenzuarbeiten. Es war großartig. Ich hoffe, er bekommt seine Vorstellungskraft zurück, die er in seinen ersten Filmen hatte."
Auffällig ist die Ähnlichkeit in der Instrumentation zwischen Goldenthals Score zu "Drugstore Cowboy", in dem William S. Burroughs eine Nebenrolle übernahm, und David Cronenbergs Adaptierung von Burroughs’ "Naked Lunch", für deren Score Howard Shore mit Ornette Coleman zusammenarbeitete und eine ähnlich halluzinative Atmosphäre mit dem Alt Saxophon kreierte wie zuvor Goldenthal mit dem Einsatz eines Didgeridoo und einem Tenor Saxophon.
"Ich denke, dass das Saxophon viel von der Drogenkultur ausdrückt, aber auch von der Frustration, der Wut und der Angst, die einen gerade zum Heroin führt. Howard Shore arbeitete mit Ornette Coleman zusammen, eine Beziehung, die wirklich wundervoll ist. Ich habe den Soundtrack noch nie gehört, obwohl ich sowohl Howard als auch Ornette kenne. Ich muss ihn mir wohl kaufen."
1992 wurde Goldenthal von David Fincher für den dritten Teil der "Alien"-Reihe (MCA) engagiert, deren ersten beiden Teile Jerry Goldsmith und James Horner musikalisch umgesetzt hatten. Diesbezüglich verspürte Goldenthal aber keinen Druck, sondern orientierte sich allein an dem, was für den neuen Film notwendig war. In dieser "industrial-dread symphony" (Entertainment Weekly) setzte Goldenthal wie bei "Friedhof der Kuscheltiere" und später bei "Interview With The Vampire" (Geffen) die menschliche Stimme sehr elaboriert ein.
"Ich denke, es ist sehr natürlich, die menschliche Stimme in der Musik einzusetzen, aber es waren in allen drei Fällen besondere Gründe. In ‘Friedhof der Kuscheltiere’ ging es um ein Kind, darum, ein Kind zurück zum Leben zu bringen. Der Chorus hatte aber keine Worte. Für ‘Alien 3’ benutzte ich eine einzelne Jungenstimme, um darzustellen, dass wir alle Lämmer sind. Ich fand das Lamm Gottes aus der Requiem-Messe sehr geeignet für den Film, weil am Ende des ganzen Nihilismus, des Verstehens, dass im Universum eine Kreatur existiert, die uns töten wird, die Erkenntnis folgt, dass man zur Seele zurückkehren muss, wenn man nicht wie ein Lamm zum Schlachter geführt werden will.
In ‘Interview With The Vampire’ kehrte ich die Zeile aus der Requiem-Messe ‘Deliver Me From Everlasting Death’ in ‘To Save Me From Everlasting Life’ um. Außerdem bedeutet ‘eternal light’ die Antithese von dem, was Vampire denken, da sie sich nicht im Licht aufhalten dürfen. Ich fand es auch sehr wichtig, dass die Musik wie etwas vor 200 oder 300 Jahren klingen musste, statt moderne Musik wie Rap oder elektronische Klänge, Rhythmen, was man eben in einer modernen amerikanischen Stadt wie San Francisco erwartet.
Ich hielt es für besser, Stimmen einzusetzen, um eine Art Distanz aus einer anderen Welt aus einer anderen Zeit auszudrücken."
Mit dem Action-Score zu "Demolition Man" und der exotischen Musik zu "Golden Gate" (beide Varese Sarabande) stellte Goldenthal einmal mehr seine musikalische Virtuosität unter Beweis.
Dass David Geffen, einem der Produzenten von "Interview With The Vampire", der ursprüngliche Score von George Fenton zu Neil Jordans filmischer Adaptierung des Anne-Rice-Romans missfiel, erwies sich für Goldenthal als glückliche Fügung. Zumindest schien er das richtige Gefühl dafür gehabt zu haben, was der Film benötigte.
"Ich fand, dass George Fentons Score sehr schön gewesen ist, aber leider ist der Vampirfilm sehr langsam. Brad Pitt spricht sehr langsam, die Handlung läuft sehr langsam ab, und Georges Musik war auch sehr langsam. So schön die Musik an sich war, sie ließ den Film doppelt so lang erscheinen. Ich hörte seine Musik einmal zu dem Film, und als man mich fragte, wie ich die Musik kreieren wollte, meinte ich, dass der Film eine gewisse Art von Humor bräuchte. Wie düster oder krank der Film auch sei, er sollte Humor und Ironie besitzen genauso wie Verführung und Wut. Ich denke, das war der einzige Unterschied zwischen Georges und meinem Score."
Auf die nächsten Film-Scores von Goldenthal musste man indes nicht so lange warten wie bisher. Zunächst hatte er 1994 Ron Sheltons Sportlerdrama "Cobb" (Sony) mit Oscar-Preisträger Tommy Lee Jones mit einem vielschichtigen Score versehen, der geschickt zwischen wilden Orchesterattacken, traditionellen Americana-Motiven, Ragtime und spirituellen Zügen des baptistischen Gesangs variierte.
"‘Cobb’ ist eine sehr schwierige Rolle, aber auch vielleicht die beste Rolle, die Tommy Lee Jones je gespielt hat. Er spielt einen menschenfeindlichen Baseballspieler, der als 72jähriger auf sein Leben zurückblickt, das großartig war, aber auch grausam. Es war interessant, den Mythos des Sporthelden zu erforschen. Das ist wie bei O.J. Simpson. Unabhängig davon, ob er unschuldig ist oder nicht, die Art, wie er sein Leben gelebt hat, ruft nach Vergeltung. Er verdient eine Strafe dafür, dass er seine Frau jeden Tag schlug. Das ist die Art von Charakter, die Cobb spielt. Leider hat Amerika eine Gesellschaft, die den Blick auf einen Helden braucht, und wenn sie entdeckt, dass diese Helden in ihrem persönlichen Leben gar nicht so heldenhaft sind, ist das eine schmerzliche Sache. Etwas in dem Score ist sicherlich mit der Americana verknüpft. Cobb war nicht nur ein Sportheld, er liebte auch die Oper und klassische Musik, die in Amerika aber nicht sehr bekannt war. Als Temp-Score für den Film wurde Mendelssohns italienische Sinfonie verwendet, deren Stimmung man in vielen Fällen auch im Score umgesetzt haben wollte. Es ist ein sehr ungewöhnlicher Score und einer meiner besten, mit Jazz- und Dixieland-Elementen."
Ungewöhnlich war auch die Integration des Cues "The Beast Within" aus dem "Alien 3"-Score in die Musik von "Cobb".
"Das war eine Idee des Regisseurs zu einer Szene im Film, in der Cobb immer wütender wurde und seine innere Spannung schließlich an seinem Co-Trainer ausließ, mit dem er zusammenarbeitete, dann aber plötzlich aufhörte. Der Cue klang wirklich perfekt dazu. Das ist merkwürdigerweise ein Stück Musik, das für viele verschiedene Arten von Filmen geeignet scheint. Ich habe das Stück auch schon in einem anderen Film als Temp-Score gehört, einem Thriller in der Art von ‘Fatal Attraction’. Auch dort passte es sehr gut, vielleicht sogar besser als bei ‘Alien 3’. Manchmal kümmert mich das nicht, ein Stück aus einem Film in einen anderen einzusetzen, wenn es beim ersten Mal nicht gehört hat. Bei ‘Alien 3’ waren die Sound Effects zu laut, um die Musik wahrzunehmen."

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