Playlist # 105 vom 24.02.2013 (1) - PAUL THOMAS ANDERSON Special
Der amerikanische Drehbuchautor, Produzent und Regisseur Paul Thomas Anderson zählt fraglos zu den begabtesten Filmemachern und reiht sich in schöner Regelmäßigkeit in die Liste der Oscar®-Nominierten ein. In diesem Jahr geht der Sohn des DJs, Schauspielers und Synchronsprechers Ernie Anderson mit seinem neuen Meisterwerk „The Master“ ins Rennen um die begehrten Trophäen.
Seine Karriere begann als Produktionsassistent für TV-Filme, Musikvideos und Gameshows in Los Angeles und New York. 1993 stellte er den Kurzfilm „Cigarettes & Coffee“ fertig, der auf dem Sundance Film Festival gezeigt wurde und für die erste Anerkennung des jungen Filmemachers sorgte. Bei einem Workshop nahm ihn Michael Caton-Jones unter seine Fittiche, darüber hinaus wollte Rysher Entertainment den ersten Spielfilm von Anderson herausbringen.
1996 präsentierte Anderson mit dem Spielerdrama „Last Exit Reno“ (Hard Eight) schließlich sein Langfilmdebüt. Er erzählt von der beginnenden Männerfreundschaft zwischen dem alternden Spieler Sidney (Philip Baker Hall) und dem unglücklichen John (John C. Reilly), der alles verloren hat. Zwei Jahre lang ziehen die beiden wie Vater und Sohn durch die Casinos, dann sorgt das Wiedersehen zwischen John und seinem alten Freund Jimmy (Samuel L. Jackson) in Reno sowie die Bekanntschaft mit der Kellnerin Clementine (Gwyneth Paltrow) für Turbulenzen …
Nach dieser eindrucksvollen Visitenkarte gelang Anderson gleich mit seinem nächsten Film „Boogie Nights“ der künstlerische wie kommerzielle Durchbruch. Mark Wahlberg spielt den Kellner Eddie Adams, der in Ende der 70er in dem Nachtclub im San Fernando Valley eine Porno-Größen kennenlernt, so den sehr von sich und der künstlerischen Qualität seiner Filme überzeugten Regisseur Jack Horner (Burt Reynolds), die Porno-Darstellerin Amber Waves (Julianne Moore) und das Rollergirl Brandy (Heather Graham). Mit seinem eindrucksvollen Gemächt wird Eddie selbst schnell zum Porno-Star …„‚Last Exit Reno‘ weist stilistisch alles auf, was Andersons spätere Filme, wie sein wohl größter Erfolg ‚Magnolia‘, auszeichnen sollte. Langsame Kamerafahrten, die die Personen begleiten, Großaufnahmen der Gesichter, der Rauch der Zigaretten, die sich selbst außerhalb des Bildes befinden, der vor der Kamera hochsteigt. Man hat manchmal den Eindruck einer Übung oder eine Bewerbung von Anderson beizuwohnen, die Produzenten und Studios zeigen soll, was er kann. Ist es aber nicht, denn dafür ist ‚Last Exit Reno‘ ein viel zu rundes Gesamtkunstwerk, perfekt durchkomponiert und von eindrucksvoller Klasse“, resümiert Björn Becher auf filmstarts.de.
„‚Boogie Nights‘ hat Esprit, Humor, enthält viele tragische Momente und zeigt den Fall eines Pornostars und die inhumanen Faktoren der Pornoindustrie, aber auch die Versuche seiner Protagonisten, dem entgegen zu steuern. Dabei fällt der Film nicht ab in Klischees über sein Thema und die Handelnden. Sex wird einerseits verkauft wie jede andere Ware oder Dienstleistung, andererseits wird deutlich, welche Dissonanzen und Brüche die Beschäftigung in der Branche mit sich bringt. Ähnlich wie Scorsese in ‚GoodFellas‘ oder Coppola in ‚Der Pate‘ in Bezug auf die Strukturen im Bereich des organisierten Verbrechens und auf die diesbezüglichen Lebensweisen und Mentalitäten führt Anderson ein Milieu als Normalität vor, das uns emotional und hinsichtlich der Verhaltensweisen so fern ist; gleichzeitig gelingt es ihm jedoch, zu den Personen eine emotionale Nähe zu erzeugen, weil deren Sehnsüchte und Defizite sich von den unsrigen kaum unterscheiden“, meint Ulrich Behrens auf filmstarts.de.
New Line Cinema, die „Boogie Nights“ herausgebracht haben, sicherten Anderson für sein nächstes Projekt völlige Freiheit zu. Während das Drehbuch zu „Magnolia“ ausufernde Maßen annahm, ließ sich Anderson von Aimee Manns Musik inspirieren und gab bei ihr acht weitere Songs in Auftrag, von denen schließlich „Save Me“ sogar eine Oscar®-Nominierung für den besten Originalsong erhielt.
Der Film verbindet an einem Tag die Schicksale von neun in Los Angeles lebenden Menschen, darunter den sterbenskranken Fernsehproduzenten Earl Partridge (Jason Robards), der von Phil Pharma (Philip Seymour Hoffman) gepflegt wird und ihm seine Sünden beichtet. Phil wird damit beauftragt, Earls Sohn Frank Mackey (Tom Cruise) zu suchen, der als Guru für Machos eine erfolgreich eine eigene TV-Show macht. Außerdem spielen das Superkind Stanley Spector (Jeremy Blackman) und der ehemalige Quizshow-Star Donnie Smith (William H. Macy) eine Rolle in dem unterhaltsamen Drama, das für drei Oscars® nominiert worden ist.
2002 folgte die romantische Komödie „Punch-Drunk Love“, in der Adam Sandler erstmals eine tiefsinnigere Rolle übernommen hat. Er spielt den aufstrebenden Geschäftsmann Barry Egan, der durch seine sieben Schwestern eine etwas gestörte Beziehung zu Frauen hat und sein Liebesleben über eine Telefonsex-Hotline abwickelt, wo er aber eigentlich über ganz alltägliche Dinge plaudert. Doch dann trifft er auf die mysteriöse Lena Leonard (Emily Watson), in die er sich sofort verliebt …„‚Magnolia‘ ist ein großer Film. Weil er die kleinen Dinge des Alltags wichtiger nimmt als den epischen Mythos – und damit etwas über das heutige Amerika sagt. Weil er tiefe Gefühle zeigt, Schmerz, Wunden und Verzweiflung – und trotzdem nicht kitschig wird, sondern im besten Sinne grotesk, in all seiner Tragik. Weil er auf einem klugen, weisen Drehbuch aufbaut, und einen einfallsreichen, mutigen Regisseur mit Witz und Wärme hat. Weil er fast ausnahmslos beeindruckende schauspielerische Leistungen zeigt. Tom Cruise himself hätte damit endlich eine verdiente Chance für einen (Nebendarsteller) Oscar. Und der Schnitt hat Rhythmus und Musik, die die fragmentierten Episoden geschickt verweben. Es ist ein großer Film, weil er Emotionen, Intelligenz und Kritik transportiert“, urteilt Nataly Bleuel auf spiegel.de.
„Die Überspitzung des Alltäglichen, insbesondere des alltäglichen Irrsinns, das ist die große Kunst in ‚Punch-Drunk Love‘. Auf den ersten Blick ist Barry ein netter Kerl, der stets versucht freundlich zu sein - zum Beispiel auf dem Familientreffen mit seinen sieben Schwestern, die sich hauptsächlich mit seinen spärlich vorhandenen Liebesleben beschäftigen. Doch hinter seinen hervorgezwungenen Lachen steckt tiefe Frustration, Wut, eine Anspannung bis kurz vor der Explosion. Und so geschieht es auch gelegentlich, dass Barry mal eben eine Restaurant-Toilette demoliert; die Frustration schlägt ihre Bahn. Barry leidet, wie alle Menschen, am Irrsinn des Lebens - doch die Figur ist natürlich überspitzt, übetrieben. Während ‚Magnolia‘ aber oft gezielt ins vollkommen Unwirkliche (Quizfragen, Sex-Animateur, Frösche) abgleitet, balanciert ‚Punch-Drunk Love‘ stets äußerst geschickt an der schmalen Grenze zwischen Realität und Surrealität“, meint Wolfgang Huang auf filmspiegel.de.
Bis zu Andersons nächstem Meisterwerk „There Will Be Blood“ vergingen immerhin fünf Jahre. Nachdem der Filmemacher mit „Punch-Drunk Love“ seinen Wunsch verwirklicht hatte, mit Adam Sandler zusammenzuarbeiten, konnte er diesmal Wunschkandidat Daniel Day-Lewis als Hauptdarsteller verpflichten. In seiner Oscar®-prämierten Rolle verkörpert Day-Lewis den Goldgräber Daniel Plainview, der es aufgrund harter Arbeit vom einfachen Goldsucher zum bekannten Ölunternehmer gebracht hat. Als der naive Paul Sunday (Paul Dano) Plainview von einem riesigen Ölvorkommen auf dem Grundbesitz seiner Eltern erzählt, wittert der Unternehmer unermesslichen Reichtum. Doch mit Beginn der Bohrarbeiten kommt es zu einem folgenschweren Unfall …
„Diesmal scheint Kubrick wohl der große Fixpunkt gewesen sein, was sich in der Hinwendung von allzu akrobatischen zu gemäßigteren tracking shots, der teilweise frappierend an ‚Shining‘ erinnernden, sehr intensiven Filmmusik von Radiohead-Mitglied Jonny Greenwood und dem Einsatz klassischer Stücke (hier ist es Brahms’ Violinen-Konzert in D major) im Allgemeinen, einer ausgeprägten Misanthropie und einer gewissen Dialogizität des Films ausdrückt“, befindet Jonas Reinartz auf filmstarts.de. „Mit seinem ersten Film seit sechs Jahren legt Paul Thomas Anderson einen sperrigen, desillusionierenden Beitrag über zeitlose Themen und Befindlichkeiten und auch ein Statement über die jetzige Situation der USA dar, das seinen Platz in der Geschichte des Films finden wird.“
Weitere fünf Jahre nach dem für immerhin acht Oscars® nominierten Meisterwerk legt Anderson nun mit „The Master“ einen Film vor, in dem der Intellektuelle Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman) bei einem Bootstrip auf die Idee kommt, nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs eine neue Glaubensgemeinschaft namens „The Cause“ ins Leben zu rufen.
Unter den verlorenen Seelen, die sich dem charismatischen Glaubensführer anschließen, befindet sich auch der schwer alkoholkranke Freddie Quell (Joaquin Phoenix), doch nach der anfänglichen Begeisterung und Hoffnung kommen dem jungen Mann bald ernste Zweifel an der Wahrheit und Ernsthaftigkeit von Dodds Lehren … Auch diesmal hat Anderson Jonny Greenwood mit der Komposition des Soundtracks beauftragt.
„Wie der Wellengang gleitet die Musik spielend leicht von gewöhnungsbedürftigen Klangatmosphären in angenehme Harmonien. Der unkonventionelle Score ist die treibende Kraft hinter den wuchtigen Bildern des Regisseurs, die immer wiederkehrend im späteren Verlauf des Films jegliche Faszination an sich reißen. Pulsierend. So ist das neue Werk von Paul Thomas Anderson, das möglicherweise als außergewöhnlichstes seine überschaubaren aber dennoch bemerkenswerten Œuvres umschrieben werden kann“, meint Matthias Hopf auf artiberlin.de. „Vorab als Parabel auf Scientology vom medialen Interesse gehyped, schlägt ‚The Master‘ jedoch einen anderen, umfangreicheren und wertvolleren Weg ein. Natürlich stößt Paul Thomas Anderson durch die brisante Thematik und eindringliche Erzählweise mehrere Steine zur Auseinandersetzung und Diskussion an – dies geschieht aber nur in einem beiläufigen Mechanismus seiner außerordentlichen Inszenierung. Das Werk fokussiert hauptsächlich seine eigene Geschichte und damit verbundene Geschlossenheit. 'The Master' wird nicht zum oberflächlichen Sprachrohr degradiert, sondern dringt mit unheimlicher Präzision langsam zu seinen Figuren, zu seinem Kern vor. Dadurch entsteht vorerst ein sperriger Eindruck, der sich allerdings abschließend mit der Kraft des Gesamtwerkes in die pure Entfaltung cineastischer Gewalt auflöst.“
Filmographie:
1987: The Dirk Diggler Story (Kurzfilm)
1993: Cigarettes and Coffee (Kurzfilm)
1996: Last Exit Reno (Sydney/Hard Eight)
1997: Boogie Nights (Boogie Nights)
1998: Flagpole Special (Kurzfilm)
1999: Magnolia (Magnolia)
2002: Punch-Drunk Love (Punch-Drunk Love)
2002: Couch (Kurzfilm)
2007: There Will Be Blood (There Will Be Blood)
2012: The Master (The Master)
Playlist:
1 Chakachas - Jungle Fever (Boogie Nights) - 04:20
2 Sniff'n'Tears - Driver's Seat (Boogie Nights) - 04:00
3 ELO - Living Thing (Boogie Nights) - 03:32
4 Sound Experience - J.P. Walk (Boogie Nights) - 07:08
5 Jon Brion - A Little Library Music / Going To A Show (Magnolia) - 05:36
6 Aimee Mann - Build That Wall (Magnolia) - 04:24
7 Jon Brion - So Now Then (Magnolia) - 03:51
8 Aimee Mann - Nothing Is Good Enough (Magnolia) - 03:09
9 Jon Brion - Here We Go (Punch-Drunk Love) - 04:48
10 Jonny Greenwood - Sea Music (The Master) - 04:15
11 Jonny Greenwood - Prospectors Arrive (There Will Be Blood) - 04:35
12 Jonny Greenwood - Alethia (The Master) - 04:04
Soundtrack Adventures with PAUL THOMAS ANDERSON at Radio ZuSa by Dirk Hoffmann on Mixcloud
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