Playlist #417 vom 23.02.2025 - MICHELANGELO ANTONIONI (1912-2007)
Zusammen mit Filmemachern wie Roberto Rossellini, Luchino
Visconti, Federico Fellini und Vittorio De Sica galt Michelangelo
Antonioni als Mitbegründer des italienischen Neorealismus, entwickelte aber
sehr schnell einen eigenen Stil, der das Thema der Unmöglichkeit
funktionierender Beziehungen gerade im urbanen Umfeld auf visuell eindringliche
Weise ästhetisierte und damit zu einem der profiliertesten und
einflussreichsten Filmemacher der europäischen Autorenkinos avancierte. Nach
Meisterwerken wie „Die mit der Liebe spielen“ (1960), „Die Nacht“
(1961), „Liebe 1962“ (1962) und „Rote Wüste“ (1964) sowie
vieldiskutierten Werken wie „Blow Up“ (1966), „Zabriskie Point“
(1970) und „Beruf: Reporter“ (1975) starb Antonioni im Juli 2007
in Rom.
Michelangelo Antonioni wurde am 29. September 1912 als
Sohn eines Gutsbesitzers in Ferrara geboren. Er schloss sein Studium an der
Universität Bologna als Diplom-Volkswirt ab, arbeitete für kurze Zeit in einer
Bank und verfasste Filmkritiken für den Corriere Padano. 1939 ging er
nach Rom, „um sein Leben dem Film zu widmen“. Er schrieb für „L’Italia
libera“, verfasste erste Entwürfe für Drehbücher und studierte Nahe der
Filmstadt Cinecittà studierte am Centro Sperimentale di Cinematografia
Filmtechnik. Hier traf Antonioni einige jener Künstler, mit denen er
später zusammenarbeiten sollte, darunter Roberto Rossellini. Mit Rossellini
arbeitete er 1942 am Script für dessen Film „Un pilota ritorna“ und
assistierte bei Marcel Carnés „Die Nacht mit dem Teufel“.
Ebenfalls in Rom schrieb er für die Zeitschrift „Cinema“,
eine von Mussolinis Sohn Vittorio herausgegebene, offizielle
Filmzeitschrift, wurde aber wegen politischer Differenzen entlassen.
Mit seinen ersten, in den 1940er Jahren entstandenen
Kurzfilmen dokumentierte Michelangelo Antonioni noch die armseligen
Lebensbedingungen der am Po lebenden Menschen („Gente del Po“) oder die
Arbeit von Straßenkehrern in Rom („N. U. – Nettezza urbana“), und obwohl
er mit seinen Drehbüchern zu Roberto Rossellinis Frühwerk „Un pilota
ritorna“ (1942) und zu Giuseppe De Santis‘ „Caccia tragica“
(Die tragische Jagd, 1947) einen Beitrag zum italienischen Neorealismus
leistete, erwies sich sein Langfilmdebüt „Chronik einer Liebe“ (1950)
nicht nur als radikale Abkehr von den Motiven des Neorealismus, sondern auch
als Hommage an den Film noir.
Antonioni arbeitete mit langen Einstellungen, fing
elegant Bilder von Straßen ein und umkreiste die Figuren, ohne ihnen wirklich
nahezukommen, so wie sie sich auch emotional nicht wirklich aneinanderbinden
können. Mit Massimo Girotti hat Antonioni den Hauptdarsteller aus
Viscontis
„Ossessione“ (1943) verpflichten können, der neben
dem Film noir aus dem Hollywood der 1940er Jahre eine große Inspiration für
Antonionis ersten Langfilm darstellte. Die weibliche Hauptrolle übernahm die
damalige Miss Italy Lucia Bosè, die damals zwar noch über keine
Schauspielerfahrung verfügte, ihren Part aber überzeugend spielte und
anschließend u.a. auch in Antonionis „Die Dame ohne Kamelien“
(1953) und Fellinis „Satyricon“ (1969) zu sehen war.
Antonioni zeichnete ein Portrait Mailands, in deren
Urbanität die Menschen verloren wirken, zu keinen echten Gefühlen fähig
scheinen und deren Luxus derart oberflächlich bleibt, dass selbst die
materialistische, verwöhnte und launenhafte Paola in ihrer Rolle unglücklich
bleibt. Erst die Erkenntnis, dass ihr Mann nur dank seiner Rücksichtslosigkeit
zu Erfolg und Reichtum gelangte, treibt sie in Guidos Arme. Antonioni
schuf hier die Blaupause für seine späteren Werke, wenn er in elegant
komponierten Bildern die unvereinbaren Gegensätze in der Liebe zwischen einer
wohlhabenden, schönen Frau und einem armen Mann thematisierte. Indem er sich
aus den Milieus der Arbeiter und Armen herausbewegte, rief Antonioni
allerdings auch viel Kritik hervor.
Nach der dokumentarisch anmutenden Auftragsarbeit „Kinder
unserer Zeit“ (1952) kehrte Antonioni mit „Die Dame ohne
Kamelien“ (1953) wieder zu seinem bevorzugten Thema zurück: Der Entfremdung
des urbanen Menschen von sich selbst und seinen Mitmenschen:
Die junge Verkäuferin Clara (Lucia Bosè) wurde wegen
ihres Aussehens für den Film entdeckt. Zum Premierenpublikum gehören auch die
Produzenten Ercolino (Gino Cervi) und Gianni (Andrea Cecchi),
deren Autoren und ein Regisseur. Zwar halten die Filmschaffenden das seichte
Melodram für eher mäßig, attestieren der Hauptdarstellerin aber Sexappeal, das entsprechend
eingesetzt werden will.
Unerfahren und naiv wie Clara ist, lässt sie sich von ihrem
Produzenten Gianni zu einer Hochzeit mit ihm drängen, worauf der bereits in
Arbeit befindliche nächste Film abgebrochen wird: Gianni möchte seine Gattin
nunmehr in seriösen Filmen sehen…
Eigentlich wollte Antonioni gern Gina Lollobrigida
für die Rolle der Clara verpflichten, doch reagierte sie beleidigt, weil sie
glaubte, die Rolle der Protagonistin sei ihrer eigenen nachempfunden, worauf
der Filmemacher wieder auf Lucia Bosè zurückgriff, die sich bereits in
seinem Debüt in der weiblichen Hauptrolle hervortat. Erneut verkörpert Bosè
eine Frau, die aus einfachen Verhältnissen stammt und durch ihr attraktives
Äußeres in die Welt der Reichen und Schönen aufsteigt, dort aber nicht
glücklich wird. Nachdem ihre Ehe mit dem eitlen Gianni gescheitert ist und
Konsul Nardo offenbar nur daran interessiert gewesen war, eine Affäre mit einem
Filmsternchen zu genießen, vertraut sie sich schließlich ihrem erfahrenen
Schauspielkollegen Lodi (Alain Cuny) an, der ihr raten soll, ob sie
tatsächlich eine Karriere als Schauspielerin einschlagen soll. Auch wenn „Die
Dame ohne Kamelien“ wie eine Seifenoper ohne große Gefühle daherkommt,
gewährt die Anspielung auf die Karriere italienischer Filmdiven wie Gina
Lollobrigida und Sophia Loren doch einen Einblick in die
italienische Filmproduktion in den 1950er Jahren und beleuchtet die schäbige
Seite der römischen Traumfabrik Cinecittà.
Nach seinem Beitrag zur Kurzfilmsammlung „Liebe in der
Stadt“ (1953), bei dem sechs Regisseure (darunter Federico Fellini) die
Liebe in der Ewigen Stadt thematisierten, feierte Antonioni mit der
Verfilmung von Cesare Paveses Roman „Die Freundinnen“ (1955)
nicht nur seinen künstlerischen Durchbruch, sondern er konnte sich diesmal
hinsichtlich seines Lieblingsthemas, der Entfremdung des mondänen Menschen von
sich selbst und seiner Umwelt und sinnentleerten Beschäftigungen, gleich an
einem ganzen Haufen unglücklicher Menschen in der Großstadt austoben. Besser
als der Filmtitel drückt der Romantitel „Die einsamen Frauen“ die
Einsamkeit der Frauen aus, die sich angesichts fehlender emotionaler Bindungen
mit oberflächlichen Beschäftigungen und losen Beziehungen beschäftigen. Dabei
muss der Filmemacher gar nicht in die Tiefe gehen, die ohnehin nicht vorhanden
ist, sondern fast wahllos scheint die Kamera über die ziellos umherschwirrenden
Figuren zu kreisen, die sich letztlich nur für sich selbst interessieren und keiner
Illusion nachhängen, das Glück in der Liebe zu finden. Allerdings fällt die
Inszenierung auch sehr geschwätzig aus, verliert sich in allzu vielen,
austauschbaren Schauplätzen, die die innere Leere der Frauen allerdings
zusätzlich betonen.
Mit dem 1957 realisierten Drama „Der Schrei“
präsentierte Antonioni ein meisterhaftes Spätwerk des italienischen Neorealismus mit seiner bereits ausgeprägten stilisierten Bildsprache.
Wie schon in seinen Vorgängerwerken „Chronik einer Liebe“
und „Die Dame ohne Kamelien“ beschreibt Antonioni, der zusammen
mit Elio Bartolini („Die mit der Liebe spielen“, „Sonnenfinsternis“)
und Ennio De Concini („Unter glatter Haut“, „Scheidung auf
Italienisch“) auch das Drehbuch verfasst hat, das Zerplatzen einfacher
Träume von Glück und Liebe, bleibt aber diesmal bei den einfachen Leuten, die
in der tristen Kargheit der Po-Ebene hart für ihren Lebensunterhalt schuften
müssen.
Drei Jahre später lieferte Antonioni mit „Die mit der Liebe
spielen“ sein Magnum Opus ab, eine zweieinhalbstündige Tour de Force der
Emotionen im topografischen Spannungsfeld zwischen kargen Inseln, tosendem Meer
und bedrohlichem Himmel.
Mit „Die mit der Liebe spielen“ wechselt Antonioni
nicht nur das Milieu und lässt damit endgültig den italienischen Neorealismus
hinter sich, sondern perfektioniert erstmals im Breitbildformat auch das
Zusammenspiel der emotional ausgehöhlten Figuren mit der Landschaft. Unter
schwierigsten Produktionsbedingungen, bei denen die Crew wochenlang auf den
Inseln festsaß, das Geld ausging und einige Crewmitglieder wegen ausbleibender
Lohnzahlungen vorzeitig das Set verließen, entstand ein etwas überlanges Drama,
das wie ein Krimi beginnt, dann aber zunehmend Sandros Sehnsucht nach schönen
Frauen thematisiert und damit auch die Leere in seinem Leben. Mit der Affäre,
die Sandro mit Annas ebenfalls wankelmütigen Freundin Claudia unterhält,
verblasst die Suche nach Anna mit der Zeit und macht ganz der Lust Platz, die
sich nicht nur in Sandros Verhalten äußert, sondern besonders eindringlich in
einer Straßenszene, als Claudia auf der Straße von unzähligen Männern wie ein
Sexobjekt begafft wird. Der Eros spielt auch in der Beziehung zwischen Giulia
und dem siebzehnjährigen Künstler Goffredo eine gewichtige Rolle, malt der
junge Mann doch nur nackte Frauen, was Giulia schließlich zu einem Tête à tête
hinreißen lässt. Antonioni lässt in diesem eher melancholischen als
lustvollen Reigen einmal mehr ausdrucksstarke Bilder mehr erzählen als die
Figuren, die wie andere Objekte auch den Raum füllen und damit ihre innere
Leere zum Ausdruck bringen, gerade im Zusammenspiel mit den kargen Felsen der
Insel, dem Tornado, der aus dem Himmel auf das unruhige Meer trifft, und den
austauschbaren Straßenszenen.
Nach dem Auf und Ab von Beziehungen, die sich in „Die mit
der Liebe spielen“ entwickelt und aufgelöst haben, beschreibt Antonioni
in „Die Nacht“ (1961) den Stillstand in einer langjährigen Beziehung,
aber auch die Unmöglichkeit, neue sinnerfüllende und leidenschaftliche
Beziehungen einzugehen. Aber auch der Tod wird anders behandelt.
Antonioni und seine Co-Autoren Ennio Flaiano („8
½“, „Das süße Leben“) und Tonino Guerra („Amarcord“, „Blow Up“)
beschränken die Handlung auf einen Tag und die darauffolgende Nacht.
Antonioni benutzt vor allem die moderne Architektur
in Mailand, eine baufällige Großstadtkulisse mit verlassenen Hinterhöfen und
rissigen Mauern, um das triste Innenleben seiner Figuren zu beschreiben, die er
wie Objekte in seine streng durchkomponierten Bilder platziert, mit Gittern
voneinander trennt, selbst wenn sie miteinander sprechen, und in ihrer
Bewegungslosigkeit konstatieren sie letztlich auch die Unfähigkeit, ihre
tatsächlichen Gefühle auszuleben.
Wie schon in den beiden Vorgängerfilmen „Die mit der
Liebe spielen“ (1960) und „Die Nacht“ (1961) spielt Antonioni
auch mit dem Trilogie-Abschluss „Liebe 1962“ meisterhaft mit der
Empfindungslosigkeit seiner Figuren, kontrastiert ihre Einsamkeit diesmal nicht
mit dem oberflächlichen Treiben auf einer Party wie „Die Nacht“, sondern
mit der geschäftigen Hektik an der römischen Börse. Auf den Filmtitel stieß der
Regisseur, als er in Florenz eine Sonnenfinsternis filmen wollte und in der
Finsternis eine ungewöhnliche Stille wahrnahm, in der er auch vermeinte, dass
die Gefühle zum Stillstand gekommen wären. Diese Empfindung kommt auch in „L’eclisse“
zum Ausdruck. Ganze zwei Minuten lang verlieren Riccardo und Vittoria kein Wort
aneinander, wenn sie die vergangene Nacht in seiner bedrückend dunklen Wohnung
Revue passieren lassen und Vittoria das Ende ihrer Beziehung konstatiert. Die
emotionale Leere, die Vittoria empfindet, lässt Antonioni mit der Leere
in den Straßen, der erdrückenden Architektur unpersönliche Betonbauten
korrespondieren. Monica Vitti bringt ihre Langeweile,
Orientierungslosigkeit und Unnahbarkeit großartig zum Ausdruck und stiehlt Alain
Delon locker die Schau. Selbst wenn sich Vittoria scheinbar auf eine
Liebelei mit dem gefühlskalten, leidenschaftslosen Piero einzulassen scheint,
bricht sie seine Annäherungsversuche jäh ab, nachdem sie sich aber ohne sich zu
wehren von ihm küssen ließ.
Antonioni bringt einmal mehr seine Einstellung zum
Ausdruck, dass die moderne Zivilisation mit ihren unwirtlichen
Lebensbedingungen in den Städten jeder menschlichen Beziehung abträglich ist.
Das wird vor allem in der langen Schlusssequenz deutlich, wenn die Kamera
scheinbar wahllos einsam auf den Straßen stehende Menschen einfängt, mit leerem
Blick ins Nichts starrend.
„Antonioni-Filme kennen keine Hierarchie zwischen
Umwelt und Innenwelt, sie zeigen den Wandel der Gefühle im Wandel der Zeit. In
ihnen gibt es keine einfachen, dauernden Beziehungen, weil eine solche Form des
Zusammenseins nicht mehr der komplexer werdenden Welt entspricht“, konstatiert
Nils Meyer in „Filme der 60er“ (Taschen, S. 140). „Mit ,Liebe 1962‘
und den beiden Vorgängern ,Die mit der Liebe spielen‘ (1960) und ,Die
Nacht‘ (1961) hat Antonioni das Kino revolutioniert, vielleicht noch
radikaler als die Nouvelle Vague, weil er sich nicht wie die Franzosen auf die
Geschichte des Kinos selbst bezieht, sondern eine eigene, eine neue Form des
filmischen Erzählens erfunden hat.“
Antonioni hat lange gewartet, bis er in Farbe
gefilmt hat, und das hat natürlich seine guten Gründe. In Interviews verkündete
der international verehrte Filmemacher immer wieder, dass er den Film bemalen
wolle wie eine Leinwand und dabei Farbbeziehungen entwickeln und Gemütszustände
formen möchte. Die Geschichte seines nächsten Films „Rote Wüste“ (1964)
spielt inmitten der Hochöfen, Silos, Maschinenhallen und Hafenanlagen der
Industriestadt Ravenna, und Antonioni benutzt vor allem ausgewaschene
Farben, so dass die im Nebel verschwimmenden Industrieanlagen wie in einem
Schwarzweiß-Film wirken.
Monica Vitti, die bereits in Antonionis Trilogie
der Entfremdung überzeugend die von ihrer Umwelt irritierten und losgelösten,
von Bindungsängsten und Liebessehnsucht gezeichneten Protagonistinnen
verkörperte, wirkt auch in „Rote Wüste“ glaubwürdig entrückt
von den Befindlichkeiten des modernen Lebens in einer industrialisierten
Gesellschaft.
Michelangelo Antonioni ließ sich für „Blow Up“
(1966) von Julio Cortázars in Paris spielender und 1959 veröffentlichter
Erzählung „Las Babas del Diablo“ inspirieren, die wiederum auf einer
Geschichte basiert, die der Fotograf Sergio Larrain dem Autor erzählte.
Den surrealistischen Charakter der Geschichte über einen französischen
Übersetzer und Amateur-Fotografen, der seine Pariser Wohnung verlässt, um auf
der Ile Saint-Louis ein Liebespaar unterschiedlichen Alters beobachtet und
fotografiert, fängt Antonioni vor allem in grellen Blautönen ein, aber
auch die poppigen Kleider, in denen Thomas seine Models fotografiert, tragen
zur künstlichen Atmosphäre des Films bei. Einmal mehr drehte Antonioni
in einer Großstadt, wobei London die Swinging Sixties mit den Beatles
und der damit einhergehenden Mod-Kultur natürlich das lebendige Zentrum jener
Zeit gewesen ist. David Hemmings („Barbarella“, „Rosso – Die Farbe
des Todes“) verkörpert den im Film namenlosen (Thomas heißt er nur im
Drehbuch) Modefotografen als egozentrischen, aber auch coolen Lebemann, der von
seinem Job (und den lustlosen Models) recht angeödet ist, aber nichts so recht
zu Ende bringt, auch nicht sein ambitioniertes Fotobuch-Projekt, für das er
immer neue Ideen entdeckt. Mit dem zufälligen Entdecken eines Mordversuchs
hätte sich „Blow Up“ zu einem Krimi entwickeln könnte, wie es später Brian
De Palmas von Antonionis Film inspirierter Thriller „Blow Out“
auch tat, doch so wie bei „Die mit der Liebe spielen“ verschwindet auch
hier das Opfer. Schnell wird klar, dass es Antonioni nicht um die
Aufklärung eines Mordes geht, sondern um verschiedene Arten der Wahrnehmung in
einer wieder einmal entfremdeten urbanen Welt, in der der narzisstische
Modefotograf nichts empfindet. Affären mit den hübschen Models interessieren
ihn nicht, auch wenn sich die Fotosession mit Verushka (Veruschka von
Lehndorff) wie eine sexuelle Verführung ausnimmt. Interessant sind die
Zitate aus der Popkultur, der Drogenkonsum, der bei der Veränderung der
Wahrnehmung eine gewichtige Rolle spielt, die Musik der Yardbirds im
Club, die Beliebigkeit sexueller Begegnungen und die schrille Mode, die schnell
ihren Reiz verliert.
„Der Film ist ein Kunstwerk. Meisterhaft in der Behandlung der Farbe, in der Führung der Handlung, vor allem aber im Erfassen der Londoner Jugend, der Popjugend mit Minirock und Marihuana und Beat, mit einer neuartigen Unbefangenheit und Unbelastetheit“, befand die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Nach dem künstlerischen wie kommerziellen Erfolg von Michelangelo
Antonionis erster MGM-Produktion „Blow Up“ (1966) liefen die Dinge
für seinen ersten in den USA gedrehten Film „Zabriskie Point“ (1970)
alles andere als rund. Mit sieben Millionen US-Dollar an Produktionskosten
verschlang Antonionis neues Werk nicht nur das Fünffache des Budgets von
„Blow Up“, es entwickelte sich auch zu einem veritablen Flop, was nicht
besonders überrascht, wenn man bedenkt, dass der italienische Autorenfilmer
hier gegen alles schießt, was Amerika ausmacht. Dabei überzeugt „Zabriskie
Point“ wie schon sein Vorgänger als ästhetisch perfekt inszeniertes
Dokument einer spannenden Zeit, diesmal der Hippie-Bewegung.
Als Antonioni seinen Film „Blow Up“ in den USA
vorstellte, fiel ihm ein Zeitungsartikel in die Hände, in dem über einen jungen
Mann berichtet wurde, der ein Kleinflugzeug gestohlen hatte und beim Versuch,
es in Phoenix (Arizona) zurückzugeben, erschossen worden war. Der Vorfall
inspirierte den Regisseur zu einem Drehbuch-Entwurf, der von Sam Shepard,
Franco Rossetti, Tonino Guerra und der britischen Autorin Clare Peploe,
der späteren Ehefrau von Bernardo Bertolucci, weiterentwickelt wurde. Nach
Art des cinéma vérité fangen Antonioni und sein Kameramann Alfio
Contini („Verliebt in scharfe Kurven“, „Der Nachtportier“) zunächst
eine hitzige Debatte zwischen schwarzen und weißen StudentInnen ein und die
Polizeibrutalität in Zusammenhang mit Demonstrationen. Auf der anderen Seite
wird mit Daria eine junge, attraktive Frau vorgestellt, die sich von der
Lebensweise der Hippies verabschiedet und sich dazu entschieden hat, einem
geregelten Job bei einem Unternehmen anzunehmen, der Luxuswohnungen in
abgeschiedenen Gegenden baut. Die Lebenswelten des alternativen und des
bürgerlichen Lebensstils prallen im landschaftlich atemberaubenden Death Valley
zusammen, wenn Mark und Daria die Zivilisation und ein Stück weit ihr Leben
hinter sich lassen und sich auf eine leidenschaftliche Affäre einlassen, wobei Antonioni
Schauspieler des in New York ansässigen Open Theatre den akrobatisch
verspielten Liebesakt im Sand vervielfachte und damit den Einfluss der Drogen
mitschwingen ließ. Im Vergleich zu dem hektischen Auftakt mit den Studentenunruhen
in Los Angeles wirken die Cinemascope-Aufnahmen am Zabriskie Point berauschend
schön. Zu den psychedelischen Klängen von Pink Floyd, Grateful Dead, Jerry
Garcia und Kaleidoscope wird hier ein Lebensentwurf skizziert, der
zum Scheitern verurteilt wird. Wenn Daria am Ende davon träumt, dass die
Luxusvilla in der Wüste, wo ihr Chef gerade sein nächstes großes Projekt
eintüten will, in die Luft gesprengt wird, geht damit auch das Ende einer Ära
einher, die mit der Wahl Richard Nixons zum US-Präsidenten manifestiert
wurde.
Auch wenn Michelangelo Antonionis „Zabriskie
Point“ (1970) MGM einen enormen finanziellen Verlust bescherte, ließ das
Studio den italienischen Ausnahmeregisseur den vereinbarten dritten Film,(„Blow
Up“, 1966, war der erste innerhalb des MGM-Deals) drehen, allerdings einen
anderen als vom Filmemacher vorgeschlagen. Statt ein Projekt namens „Tecnicamente
Dolce (Technically Sweet)“ zu verwirklichen, das im Amazonas-Gebiet spielen
sollte, adaptierte Antonioni erstmals einen fremden Stoff, eine Geschichte von Mark
Peploe, dem Bruder von Antonionis Lebensgefährtin aus den 1960ern, Claire
Peploe.
Dass Hollywood-Star Jack Nicholson für die Hauptrolle
gewonnen werden konnte, erwies sich als Glücksgriff, nachdem „Zabrikie
Point“ unter der Verwendung von Laiendarstellern gelitten hatte, die zwar
hübsch anzusehen waren, aber ihren Rollen keine Tiefe verleihen konnten. „Beruf:
Reporter“, im Original gefälliger „The Passenger“ betitelt, handelt
einmal mehr von einer existentiellen Krise. Wie bei Antonioni üblich,
treten die Figuren ohne Vorgeschichte in die Handlung ein. Der Zuschauer
erfährt nicht, warum David Locke seines Lebens so überdrüssig ist, und auch von
seiner Gefährtin erfahren wir nur, dass sie Architektur-Studentin ist. Maria
Schneider ist zuvor durch Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“
bekannt geworden und wäre auch in einer Liebesszene mit Jack Nicholson
zu sehen gewesen, wäre diese nicht hinausgeschnitten worden. Doch auch wenn das
Setting die Form eines (Spionage-)Thrillers anzunehmen scheint, geht es Antonioni
doch nicht um die Waffengeschäfte, in die der Reporter auf einmal involviert
ist. Vielmehr handelt der Film vom Tod. Erst Robertsons Ableben ermöglicht
David Lockes ersehnten Identitätstausch, und der Kreis schließt sich in einer
der berühmtesten Schlussszene der Filmgeschichte: In einer einzigen langen,
sieben Minuten langen Kamerafahrt, die mit einer 30 Meter hohen
Krankonstruktion realisiert wurde, schwenkt die Kamera von Lockes Hotelbett
durch das vergitterte Fenster auf die Plaza und nach den Ereignissen dort
zurück in Lockes Zimmer. Antonioni findet in der Abbildung der kargen
Wüste immer wieder eindrucksvolle Bilder und symbolträchtige Farben, um eine
philosophische Meditation über Identität und Tod zu vollenden, die übrigens wie
bei Antonioni üblich, mit sehr wenig Musik auskam.
„Ich war schon immer gegen den traditionellen musikalischen Kommentar, die einschläfernde Funktion, die man ihm üblicherweise zuteilt. Es ist diese Vorstellung von Bildern zur Musik, als ob man ein Opernlibretto schriebe, die ich nicht mag. Was ich ablehne, ist diese Weigerung, der Stille ihren Raum zu geben, diesen Drang, das, was man für Leere hält, unbedingt zu füllen“, wird Antonioni in „Michelangelo Antonioni. Sämtliche Filme“ (Hg. Seymour Chatman, Paul Duncan, Taschen Verlag, S. 149) zitiert.
Nicht nur das Publikum war überrascht, dass Michelangelo
Antonioni fünf Jahre nach seinem großartigen Hollywood-Einstand mit „Beruf:
Reporter“ (1975) ausgerechnet mit seinem ersten Kostümfilm zurückkehrte,
sondern diesen auch für das Fernsehen produzierte. Auch Antonioni selbst
bezeichnet die Umstände des Entstehens von „Das Geheimnis von Oberwald“
(1980) als Rätsel. Am einfachsten scheint die Erklärung, dass der Film auf
Drängen von Monica Vitti entstanden ist, die Antonioni als
Regisseur bei der Theaterproduktion von John van Drutens „I Am a Camera“ in den
1950er Jahren kennengelernt hatte und mit der er in den 1960er Jahren seine
berühmte Tetralogie der Entfremdung („Die mit der Liebe spielen“, „Die
Nacht“, „Liebe 1962“, „Rote Wüste“) realisierte.
Mit „Das Geheimnis von Oberwald“ adaptierte Antonioni
Jean Cocteaus Stück „L‘Aigle à deux têtes“ (1946), das entfernt auf
der Geschichte Ludwigs II. von Bayern und der Kaiserin Elisabeth von
Österreich basiert und das Cocteau zu einer neuen Geschichte formte, der Antonioni
aber zusammen mit seinem Co-Autor Tonino Guerra den historischen
Kontext entzog. Geblieben ist ein ungewöhnlich dialoglastiges Kostümdrama, das Antonioni
die Gelegenheit bot, mit elektronischen Kameras und Magnetbändern zu
experimentieren, so dass er die Farben vor Ort mischen konnte. Ungewöhnlich
erscheint vor allem der Gebrauch von extremen Farbfiltern, so dass die
Burgmauern im Sturm grün erscheinen, der intrigante Graf und seine unmittelbare
Umgebung blau eingefärbt wird und die Wiesen und Bäume am Tag in grell
leuchtenden Gelb- und Grüntönen erstrahlen. Gewohnt souverän agiert Antonionis
Muse Monica Vitti als lustwandelnde, halb trauernde, halb
desillusionierte Regentin, die durch den Anarchisten Sebastian neuen Lebensmut
schöpft. Das Ganze wird von klassischen Klängen untermalt, die Richard
Strauss („Eine Alpensinfonie“, „Tod und Verklärung“, „Don Quijote“), Johannes
Brahms („Sinfonie Nr. 1“) und Arnold Schönberg („Verklärte Nacht“)
beigesteuert haben.
Nach diesem überraschend dialoglastigen, auf einem Stück von
Jean Cocteau beruhenden Kostümdrama kehrte Antonioni 1982 mit „Identifikation
einer Frau“ wieder mehr zu seinen ursprünglichen Themen zurück.
Michelangelo Antonioni thematisiert in „Identifikation
einer Frau“ einmal mehr die Unmöglichkeit echter menschlicher Beziehungen,
drückt dies aber im Gegensatz zu seiner Tetralogie der Entfremdung mehr in
Worten als in Bildern aus, obwohl die Verwendung von ausdruckskräftigen Rot-
und Blaufarben in leuchtendem Technicolor auf Antonionis symbolischer
Farbdramaturgie hinweist, die er bereits in seinem ersten Farbfilm „Rote
Wüste“ perfekt inszeniert hatte.
Zu den für Antonioni ungewöhnlich vielen Dialogen
gesellt sich auch ein umfangreicher Soundtrack, was insofern überrascht, als
Antonioni immer betont hat, auf traditionelle musikalische Kommentare in seinen
Filmen verzichten zu wollen. Hier gesellen sich zum elektronischen Score des
ehemaligen Ultravox-Frontmanns John Foxx noch Stücke von Tangerine
Dream („Tangram“, „Ricochet“), Peter Baumann, Brian Eno, Orchestral
Manoeuvres in the Dark, Japan, XTC und Gianna Nannini hinzu.
Durch einen Schlaganfall, den Michelangelo Antonioni
1985 erlitt, verlor der Filmemacher weitgehend sein Sprachvermögen und war
rechtsseitig gelähmt. Dennoch konnte er zehn Jahre später mit dem
Episoden-Drama „Jenseits der Wolken“ einen weiteren Film realisieren,
der auf seinem eigenen Erzählband „Bowling am Tiber” basierte und wobei
ihm Wim Wenders nicht nur als Unterstützung beiseite stand, sondern auch die
Rahmenhandlung inszenierte.
Auch wenn mit Wim Wenders („Paris, Texas“, „Himmel
über Berlin“) ein renommierter Filmemacher über die Produktion wachte und
selbst die Rahmenhandlung um den Regisseur auf der Suche nach Ideen für einen
neuen Film inszenierte, trägt „Jenseits der Wolken“ doch eindeutig Antonionis
Handschrift. Das liegt vor allem daran, dass das Drehbuch für die einzelnen
Episoden recht genau den zugrundeliegenden Geschichten aus Antonionis
Erzählband „Bowling am Tiber” folgte. Einmal mehr geht es um das
(Nicht-)Zustandekommen von Beziehungen und Trennungen, es geht um überhöhte
Erwartungen, enttäuschte Hoffnungen und Verlustängste, um Begehren und dem
Verzicht sinnlicher Erfahrungen. Durch die episodenhafte Struktur kommen wir
den einzelnen, oft namenlosen Figuren nie wirklich nahe, und so wirken die
Geschichten wie reine Gedankenspiele des Filmemachers, inspiriert von den
jeweiligen (stets verregneten oder regennassen) Schauplätzen in Ferrara,
Portofino, Paris und Aix-en-Provence. Erwähnenswert ist die illustre Riege an
Stars, die allerdings kaum die Möglichkeit finden, ihren Figuren Profil zu
verleihen, und der Soundtrack mit Stücken von Van Morrison, Passengers
(einem Projekt von Brian Eno und Mitgliedern der irischen Rockband U2)
und Piano-Klängen von Wim Wenders‘ Komponisten Laurent Petitgand.
Nachdem Michelangelo Antonioni mit „Jenseits der
Wolken“ (1995) einige Geschichten seines Erzählbandes „Bowling am Tiber“
verfilmt hatte, bekam der armenische, überwiegend in Frankreich arbeitende
Produzent Stéphane Tchalgadjieff die Idee, eine Trilogie rund um den „Eros“,
um Liebe und Begehren, zu realisieren, wobei neben Antonioni noch zwei
Regisseure verpflichtet werden sollten, die Antonioni künstlerisch
nahestanden. Neben Wong Kar-Wai („In the Mood for Love“, „2046“)
sollte zunächst Pedro Almodóvar („Volver“, „Alles über meine Mutter“)
das Trio abrunden, doch musste er wegen des Starts der Produktion seines
eigenen Films „Schlechte Erziehung“ dann passen. Als Ersatz wurde Steven
Soderbergh („The Limey“, „Ocean’s Eleven“) verpflichtet, der vor
allem aus dem Grund zusagte, seinen Namen auf einem Poster mit Antonioni
zu sehen.
Am 30. Juli 2007 verstarb Antonioni im Alter von 94
Jahren in Rom - am gleichen Tag wie sein nicht minder legendärer Regie-Kollege Ingmar
Bergman.
Filmografie
1943–47: Menschen am Po (Gente del Po, Kurzfilm)
1948: Straßenreinigung (N. U. – Nettezza urbana, Kurzfilm)
1949: L’amorosa menzogna (Kurzfilm)
1949: Aberglauben (Superstizione, Kurzfilm)
1949: Sette canne un vestito (Kurzfilm)
1950: La funivia del Faloria (Kurzfilm)
1950: La villa dei mostri (Kurzfilm)
1950: Chronik einer Liebe (Cronaca di un amore)
1953: Kinder unserer Zeit (I vinti)
1953: Die große Rolle (La signora senza camelie)
1953: Liebe in der Stadt (L’amore in città, Episode Tentato
suicidio)
1955: Die Freundinnen (Le amiche)
1957: Der Schrei (Il grido)
1960: Die mit der Liebe spielen (L’avventura)
1961: Die Nacht (La notte)
1962: Liebe 1962 (L’eclisse)
1964: Die rote Wüste (Il deserto rosso)
1965: Drei Gesichter einer Frau (I tre volti, Episode
Die Probeaufnahme)
1966: Blow Up (Blowup)
1970: Zabriskie Point
1972: Antonionis China (Chung Kuo Cina)
(Dokumentarfilm)
1975: Beruf: Reporter (Professione: reporter)
1980: Das Geheimnis von Oberwald (Il mistero di Oberwald)
1982: Identifikation einer Frau (Identificazione di una
donna)
1989: 12 registi per 12 città (Episode Rom)
1995: Jenseits der Wolken (Al di là delle nuvole)
1995: Ritorno a Lisca Bianca (Kurzfilm)
2004: Lo sguardo di Michelangelo (Kurzfilm)
2004: Eros (Episode Il filo pericoloso delle cose)
Playlist:
02. Giovanni Fusco - Seq. 4 (Le amiche) - 05:01
03. Giovanni Fusco - Tema attesa 4 (L'avventura) - 03:18
04. Giovanni Fusco - L'eclisse Slow Vers. (L'eclisse) - 02:47
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06. Giorgio Gaslini - Lettura della lettera (La notte) - 04:08
07. Giovanni Fusco - Non lo saprai mai (Il grido) - 02:46
08. Herbie Hancock - Jane's Theme (Blow-Up) - 05:05
09. Pink Floyd - Love Scene Improvisation 6 (Zabriskie Point) - 06:43
10. Passengers - Your Blue Room (Al di là delle nuvole) - 05:27
11. Giovanni Fusco - Eclisse Twist (L'eclisse) - 02:50
12. Giorgio Gaslini - Ballo di Lidia (La notte) - 03:06
13. Ivan Vandor - End Credits (The Passenger) - 02:35
14. Giovanni Fusco - Valzer 2 (L'avventura) - 03:02
15. Giovanni Fusco - Il surf della luna 4 (Il deserto rosso) - 03:09
16. Giorgio Gaslini - Voci dal fiume (La notte) - 05:57
17. Giovanni Fusco - Commento (Il grido) - 02:14
18. John Fahey - Dance of Death (Zabriskie Point) - 02:41
19. Pink Floyd - Unknown Song (Zabriskie Point) - 06:00
20. Giovanni Fusco - Titoli 5 (L'avventura) - 03:10
21. Passengers - Beach Sequence (Al di là delle nuvole) - 03:34
22. Japan - Sons of Pioneers (Identificazione di una donna) - 07:09
23. Herbie Hancock - The Kiss (Blow-Up) - 04:16
24. Peter Baumann - This Day (Identificazione di una donna) - 05:11
25. Jerry Garcia - Love Scene Improvisation 2 (Zabriskie Point) - 08:00
26. Tangerine Dream - Tangram - Set 1 [excerpt] (Identificazione di una donna) - 10:01
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