Radio ZuSa

Sonntag, 1. August 2010

Carter Burwell (Teil 3) - Klänge von Einsamkeit und Verzweiflung

Tatsächlich gehört es zu Carter Burwells Stärken, einfühlsame Musik zu kreieren, die die innersten Gefühle und Sehnsüchte der dazugehörigen Figuren zum Ausdruck bringen, gerade wenn es um Einsamkeit, Verzweiflung und Trauer geht. Diese Merkmale treffen auch auf seine letzten Werke zu, die er für das Oscar-prämierte Coen-Meisterwerk „No Country For Old Men“ und Sidney Lumets ebenso meisterhaftes Familien-Thriller-Drama „Before The Devil Knows You Are Dead“.

Mit „No Country For Old Men“, der Verfilmung des preisgekrönten Romans von Cormac McCarthy, begaben sich Joel und Ethan Coen mal wieder in die weite Prärie des Cowboy-Daseins, wo ein geplatzter Drogendeal das Leben vieler Menschen für immer verändert bzw. ganz auslöscht.
„Der Film ist der ruhigste, an dem ich je gearbeitet habe. Oft ist nichts zu hören außer dem Wind und den Stiefeln auf Caliche-Böden oder bestrumpften Füßen auf Fußböden. Dann gibt es sporadische Shootouts mit einer ungewissen Anzahl an Schützen mit Gewehren und automatischen Waffen. Es war lange Zeit unklar, welche Art von Score möglicherweise den Film begleiten könnte, ohne diese raue Stille zu stören. Ich sprach mit den Coens darüber, entweder einen All-Percussion-Score oder eine Melange von anhaltenden Tönen zu verwenden, die mit den Sound Effects verschmelzen würden, die aus der Landschaft kommen. Wir entschieden uns für die Töne“, erzählt Carter Burwell auf seiner Website in den Notizen zum Film. „Der All-Percussion-Score klang wie Spaß, und ich freue mich darauf, so etwas eines Tages zu machen, aber es ist ein Klischee, dass Drums ‘Action’ im Film begleiten. Dieser Sound brachte den Film unverzüglich zurück ins familiäre Territorium. Die anhaltenden Töne hielten den Film unruhig. Skip Lievsay, der Sound Editor, und ich sprachen früh über diese Herangehensweise, und er schickte mir ein paar Beispiele von entwickelten Sound Effects, so wie ich ihm Beispiele von Klangkompositionen schickte, überwiegend Sinus- und Sägezahnwellen sowie singende Kugeln. Der Effekt ist, dass die Musik aus den Soundeffekten auf hoffentlich subtile Weise auf- und wieder hineintaucht.“
Tatsächliche Score-Musik ist eigentlich erst zu hören, wenn der Film vorbei ist – im Abspann. Aber hier scheint der Komponist dann halbwegs aus dem Vollen geschöpft zu haben. „Die End Titles des Films riefen eine interessante Frage hervor: Der ganze Film fand ohne Songs oder einen identifizierbaren Score statt, also was lässt sich in über fünf Minuten an End Titles spielen, das weder anmaßend selbstbewusst (wie Stille oder Wind) noch aufdringlich sein würde (wie ein Pop-Song)? Ich schrieb schließlich etwas, das nur akustische Instrumente im Score enthielt, aber eine Weile benötigen würde, um in Erscheinung zu treten. Die ersten Sounds sind Percussions, die als Sound Effects verkleidet wurden. Die nächsten Klänge sind anhaltende Töne, die in dem Rest des Scores enthalten sind. Nach nur zwei Minuten setzen wirklich vertraute Instrumente ein, Gitarre und Bass, die dann bis zum Ende mit den Percussions spielen. Hoffentlich wirkt dies irgendwie mit dem Rest des Films, zumindest für die paar Leute, die beim Abspann sitzen bleiben.“
Weitaus mehr ist Carter Burwells Musik in dem ebenso hochkarätigen Thriller-Drama „Before The Devil Knows You’re Dead“ von Altmeister Sidney Lumet zu hören, wobei er
diesmal die Aufgabe übertragen bekam, einen bereits vorhandenen Score (von Richard Rodney Bennett) zu ersetzen.
„Ich habe Sidney Lumet noch nie vorher getroffen, bis er mich kontaktierte, um einen Score zu seinem Film zu ersetzen. Sidney hatte aus irgendwelchen Gründen das Gefühl, dass der originale Score (den ich nicht gehört habe) nicht funktionierte und dass die Musik dem Publikum etwas mehr über die Figuren erzählen müsste. Ich habe diesen Ratschlag ernst genommen, weil Lumet im Gegensatz zu den meisten amerikanischen Regisseuren den Underscore nicht übermäßig verwendet. Tatsächlich ist in vielen seiner besten Filme, wie er mich erinnert hat, kein Score zu hören, wie in ‚Network‘ und ‚Dog Day Afternoon‘. In diesem Film ist das Familien-Melodram in einem Krimi-Drama eingewickelt“, blickt Burwell auf die Zusammenarbeit mit Lumet zurück.
„Ich habe es immer vorgezogen, einen Film eher zu untermalen statt zu überspielen, aber in diesem Fall meinte Sidney, dass wir nicht zurückhaltend sein sollten, was das ‚Melodrama‘ angeht, und so klingt der Score zunächst etwas übernervös – auch für mich. Das Thema, das den Film als ‚Krimi-Drama‘ eröffnet, spielt schließlich die Kriminalisierung der Familie. Ein anderes Thema spielt Andy (Philip Seymour Hoffmans Charakter), der in vieler Hinsicht die treibende Kraft hinter der Implosion seiner Familie darstellt, und so wollte ich, dass das Publikum mit ihm sympathisiert. Der Trip, den sie mit ihm unternehmen, wird umso schrecklicher sein, wenn man mit ihm fühlt. Und ein schrecklicher Trip ist das, worum es in dem Film geht.“
Nach diesen beiden schwermütigen und auch teilweise brutalen Filmen durfte Carter Burwell mit den Coen-Brüdern mal wieder so richtig viel Spaß haben. Schließlich schufen sie mit „Burn After Reading“ eine durchgeknallte Agenten-Parodie, die musikalisch viel mehr Tempo und Rhythmus zuließ als die meisterhaften Dramen, an denen Burwell kurz zuvor gearbeitet hatte.
‘Burn After Reading‘ gibt vor, ein Spionage-Thriller zu sein – auf jeden Fall glauben das die Figuren im Film – aber es ist auch eine Sex-Komödie der Irrtümer. Oder wenn man weniger großzügig ist, der Dummheit. Um diese Genres ins Gleichgewicht zu bringen, habe ich früh gedacht, dass es die Musik nicht leisten kann, zu viel darüber auszusagen, was genau vor sich geht. Tatsächlich war mein erster Gedanke, dass der Score überwiegend voller Percussions sein sollte, um einen emotionalen Kommentar zu vermeiden. Etwas überraschend erwies sich das als richtig. Die Anziehungskraft von Percussions war, dass es der generellen Dummheit einen Hauch von Ernsthaftigkeit, Anziehungskraft und Bombast entgegensetzt. Es kann wichtig erscheinen, ohne zu sagen, warum es wichtig ist. Bedeutsam ohne eine spezielle Bedeutung. Eine Inspiration war Jerry Goldsmiths mächtig-percussiver Score zu ‚Seven Days In May‘.
Eine besondere Herausforderung für Carter Burwell stellte sich sein Engagement in der Verfilmung der Bestseller-Verfilmung von Stephenie Meyers Vampir-Romanze „Twilight“ dar. Als er im April 2008 in Oregon mit der Regisseurin Catherine Hardwicke zusammentraf, erfuhr er, dass dem Film noch eine Szene hinzugefügt werden sollte, die zwar im Buch vorkam, aber ursprünglich nicht für den Film vorgesehen war, nämlich um die, in der Edward am Piano Bella ein Lied vorspielt.
„Meine Aufgabe als Komponist besteht darin, einen Film als Ganzes zwingend, dramatisch, emotional und cinematisch zu machen. Aber in diesem Fall drängte sich eine weitere außergewöhnliche Herausforderung auf, die durch die Fans des Buches hervorgerufen wurde. Die Piano-Szene wurde hinzugefügt, weil die Produktionsfirma Summit realisierte, dass die Fans Edward am Piano die Melodie spielen hören wollten, die als ‚Bella’s Lullaby‘ bezeichnet wurde, und jeder der Fans hatte seine eigene Idee dazu im Kopf. Da ich noch nicht angefangen hatte, etwas zu schreiben, existierte ein musikalisches Vakuum, in das andere Musik eingefügt wurde. Edward-Darsteller Rob Pattinson improvisierte etwas für den Dreh. Matthew Bellamy von Muse sandte seine Idee für ‚Bella’s Lullaby‘ ein. Und unzählige Leser und Musiker schickten ihre eigenen Ideen oder veröffentlichten sie im Internet. Nichts davon machte meinen Job einfacher“, resümiert der Komponist.
„Als ich schließlich anfing, im frühen Juli Musik für ‚Twilight‘ zu schreiben, zog ich mit meiner Familie und meinem Studio von New York nach Los Angeles, um enger mit Catherine und dem editorischen Team zusammenzuarbeiten, mit Nancy Richardson als Film Editor und Adam Smalley als Music Editor. Ich begann den Score mit Bella und Edward, speziell mit der Szene, als er sie in die Baumwipfel trägt. Ich wollte die Aufregung aber auch die Herausforderung dieser Liebe einfangen, die Grenzen von Zeit und Spezies überschreitet. Als der Film geschnitten wurde, folgte die Piano-Szene der Baumwipfel-Szene, und die ganze Montage wies nur sehr wenig Dialog auf, so dass es eine gute Leinwand darstellte, auf der Bella und Edwards Liebes-Thema gemalt werden konnte.“
Carter Burwell probierte daraufhin verschiedene Sachen aus – mit mäßigem Erfolg, wie er meint -, bis er eine Melodie aufgriff, die er vor Jahren für eine Frau geschrieben hatte, die ihm das Herz gebrochen hatte. Die Regisseurin fand das Thema aufregend und außergewöhnlich, worauf dieses ganz spezielle Liebes-Thema im Film als ‚Bella’s Lullaby‘ Verwendung fand. Allerdings gefiel einem der Verantwortlichen nicht der dissonante Anfang des Stücks. Die Teenager-Mädchen im Publikum würden etwas Süßeres, Simpleres wünschen. Burwell schrieb einige weitere Variationen. Am Ende konnte sich der Komponist so durchsetzen, dass das originale Love Theme als eröffnendes Piano-Thema zu hören ist, während Rob zum Ende hin die Variation spielt, die Summit schließlich abgesegnet hatte.
„Ich sollte erwähnen, dass Christine, die Frau, für die ich die Melodie vor Jahren geschrieben hatte, nun meine wunderbare Frau ist. In meinem Herzen wird das Thema immer unseres sein, aber es ist nun auch Eures (und Bella und Edwards ebenso).“
Im September wurde der Score in Londons Air Lyndhurst Studios eingespielt, wobei die beiden Stücke „Bella’s Lullaby“ und „Showdown in the Ballet Studio“ mit 24 Musikern eingespielt wurde, der Rest mit einem Kern aus vier Streichern, drei Woodwinds, Piano, Harfe, Bass, Gitarre und Percussion.

„Ich habe Musik mit Orchestern von über 80 Musikern aufgenommen, aber so ein kleines Ensemble ist viel herausfordernder für die Spieler. Sie spielen nicht dieselben Noten wie die Person neben sich, und jeder von ihnen kann sehr deutlich herausgehört werden. Es ist auch für den Orchestrator – in diesem Fall für mich selbst – aufregender, einen vollen, reichhaltigen Klang von zehn Instrumenten zu bekommen. Es ist erfüllender. Der Vocal-Part in der Mitte von ‚Who Are They?‘ wurde übrigens von Lizzie Pattinson gesungen, Robs Schwester, die eine wunderbare Sängerin-Songwriterin aus London ist.“
Zu den letzten Arbeiten von Carter Burwell zählen der neue Coen-Film „A Serious Man“, Spike Jonzes Verfilmung des Kinderbuch-Klassikers „Where The Wild Things Are“ und John Lee Hancocks Film „The Blind Side“. An dieser Stelle sei noch einmal auf die hervorragende Website des Komponisten verwiesen, auf der viele persönliche Anekdoten und Download-Samples zu finden sind.
Weitere Infos: www.carterburwell.com

Filmographie:
1984 – Lensman (Animation), Regie: Kazuyuki Hirokawa/Yoshiaki Kawajiri
1985 – Blood Simple, Regie: Joel und Ethan Coen
1986 – Psycho III, Regie: Anthony Perkins
1986 – A Hero Of Our Time, Regie: Michael Almereyda
1987 – Raising Arizona, Regie: Joel und Ethan Coen
1990 – Miller’s Crossing, Regie: Joel und Ethan Coen
1991 – Barton Fink, Regie: Joel und Ethan Coen
1991 – Doc Hollywood, Regie: Michael Caton-Jones
1992 – Storyville, Regie: Mark Frost
1992 – Waterland, Regie: Stephen Gyllenhaal
1993 – This Boy’s Life, Regie: Michael Caton-Jones
1993 – And The Band Played On, Regie: Roger Spottiswoode
1993 – Kalifornia, Regie: Dominic Sena
1994 – Airheads, Regie: Michael Lehmann
1994 – It Could Happen To You, Regie: Andrew Bergman
1994 – The Hudsucker Proxy, Regie: Joel und Ethan Coen
1994 – Mother (Theater), Regie: John Edward McGrath
1995 – A Goofy Movie, Regie: Kevin Lima
1995 – Rob Roy, Regie: Michael Caton-Jones
1996 – Junky (Audiobook), gelesen von William S. Burroughs
1996 – Fear, Regie: James Foley
1996 – Joe’s Apartment, Regie: John Payson
1996 – The Celluloid Closet, Regie: Rob Epstein
1996 – The Chamber, Regie: James Foley
1996 – Fargo, Regie: Joel und Ethan Coen
1997 – Kiss The Girls (rejected), Regie: Gary Fleder
1997 – The Locusts, Regie: John Patrick Kelley
1997 – Assassin(s), Regie: Mathieu Kassovitz
1997 – Picture Perfect, Regie: Glenn Gordon Caron
1997 – Conspiracy Theory, Regie: Richard Donner
1997 – The Jackal, Regie: Michael Caton-Jones
1998 – The Big Lebowski, Regie: Joel Coen
1998 – The Spanish Prisoner, Regie: David Mamet
1998 – Velvet Goldmine, Regie: Todd Hayens
1998 – Gods & Monsters, Regie: Bill Condon
1998 – The Hi-Lo-Country, Regie: Stephen Frears
1999 – The General’s Daughter, Regie: Simon West
1999 – The Corruptor, Regie: James Foley
1999 – Mystery, Alaska, Regie: Jay Roach
1999 – Three Kings, Regie: David O. Russell
1999 – Being John Malkovich, Regie: Spike Jonze
2000 – What Planet Are You From?, Regie: Mike Nichols
2000 – Blair Witch 2: Book of Shadows, Regie: Joe Berlinger
2000 – Hamlet, Regie: Michael Almereyda
2000 – Before Night Falls, Regie: Julian Schnabel
2001 – A Knight’s Tale, Regie: Brian Helgeland
2001 – The Man That Wasn’t There, Regie: Joel und Ethan Coen
2002 - Lumiere et Ombre, Regie: Alfred Sandy (1928)
2002 – Simone, Regie: Andrew Niccol
2002 – The Rookie, Regie: John Lee Hancock
2002 – Adaption, Regie: Spike Jonze
2003 – The Return Of Lot’s Wife (Dance), Regie: Sara Pearson und Patrik Widrig
2003 – Cara Lucia (Theatre), Regie: Sharon Fogarty
2003 – Intolerable Cruelty, Regie: Joel und Ethan Coen
2004 – The Ladykillers, Regie: Joel und Ethan Coen
2004 – The Alamo, Regie: John Lee Hancock
2004 – Kinsey, Regie: Bill Condon
2005 – Theater Of The New Year (Theatre: "Sawbones," Regie: Joel und Ethan Coen,
"Hope Leaves the Theater," Regie: Charlie Kaufman, "Anomalisa," Regie: Francis Fregoli)
2006 – Fur: An Imaginary Portrait of Diane Arbus, Regie: Steven Shainberg
2006 – The Hoax, Regie: Lasse Hallström
2006 – Moving Gracefully Toward The Exit, Regie: Patrice Regnier
2007 – No Country For Old Men, Regie: Joel und Ethan Coen
2007 – Before The Devil Knows You Are Dead, Regie: Sidney Lumet
2008 – In Bruges, Regie: Martin McDonagh
2008 – Burn After Reading, Regie: Joel und Ethan Coen
2008 – Twilight, Regie: Catherine Hardwicke
2009 – A Serious Man, Regie: Joel und Ethan Coen
2009 – Where The Wild Things Are, Regie: Spike Jonze
2009 – The Blind Side, Regie: John Lee Hancock
2010 - The Kids Are All Right, Regie: Lisa Cholodenko
2010 – Howl, Regie: Rob Epstein und Jeffrey Freidman

Playlist # 38 vom 01.08.10 - CARTER BURWELL

1 Carter Burwell - Chain Gang (Blood Simple) - 04:47
2 Carter Burwell - Overture (Conspiracy Theory) - 04:21
3 Carter Burwell - Exercise In Darkness (The General's Daughter) - 04:28
4 Carter Burwell - Jackal Followed & Parking Garage (The Jackal) - 06:25
5 Carter Burwell - The Corruptor (The Corruptor) - 02:57
6 Carter Burwell - Adaption -Fatboy Slim Remix (Adaption) - 04:50
7 Carter Burwell - When The World Was Wet (Storyville) - 04:00
8 Carter Burwell - The Trial Of Ed Crane (The Man That Wasn't There) - 03:48
9 Carter Burwell - We Love You So (Where The Wild Things Are) - 04:40
10 Carter Burwell - Showdown In The Ballet Studio (Twilight) - 04:50
11 Carter Burwell - A Serious Man (A Serious Man) - 02:48
12 Carter Burwell - Blood Trail Edit (No Country For Old Men) - 03:55
13 Carter Burwell - Rock Water Wind (Blair Witch 2: Book Of Shadows) - 07:06

Sonntag, 18. Juli 2010

Playlist # 37 vom 18.07.10 - JOHN POWELL

Spätestens mit seinen fulminanten Action-Scores zu den drei bislang inszenierten „Bourne“-Filmen hat sich John Powell in die erste Liga der Hollywood-Komponisten gespielt. Und seine Arbeiten für Filme wie „Jumper“, „Mr & Mrs Smith“, „D-Tox“, „The Italian Job“, „Green Zone“ und „Hancock“ haben immer wieder Powells Virtuosität im Action-Genre unter Beweis gestellt. Schließlich feierte er 1997 mit dem Score zu John Woos Psycho-Thriller „Face/Off“ auch einen imponierenden Einstand in Hollywood.

Seine musikalische Laufbahn begann er im Alter von 13 Jahren im Spannungsfeld zwischen Rock’n’Roll und Jazz, bevor er 1986 seine klassische Musikausbildung am Londoner Trinity College of Music begann. Zu jener Zeit trat er der Performance-Art-Gruppe Media Arts bei, wo er mit seinem langjährigen Partner Gavin Greenaway Musik und Klänge für konzeptionelle Aufführungen komponierte. Ab 1988 fing Powell an, bei der ebenfalls in London ansässigen Firma Air-Edel Music für Werbung und TV-Produktionen zu komponieren, wo er mit seinen Kollegen Hans Zimmer („White Fang“) und Patrick Doyle („Into The West“) zusammenarbeitete. 1995 gründete Powell mit Greenaway die Firma Independently Thinking Music (ITM), wo sie mehr als 100 britische und französische Werbeclips und Independent-Filme vertonten. Zwei Jahre später zog es John Powell in die USA, wo er gleich für Steven Spielbergs Fernsehserie „High Incident“ angeheuert wurde. Mittlerweile ist John Powell als extrem vielseitiger Komponist bekannt. Neben den erwähnten Action-Thrillern sind es vor allem Trickfilme wie „Antz“, „Ice Age 2 + 3“, „Chicken Run“, „Shrek“, „Robots“, „Bolt“, „Horton hört ein Hu!“ und (Liebes-)Komödien wie „Gigli“, „Evolution“, „Rat Race“, „Auf die stürmische Art“, „Be Cool“ und aktuell der Tom-Cruise-Film „Knight And Day“, die John Powells Filmographie und seine musikalische Vielseitigkeit auszeichnen.

Filmographie
1994: Les Escarpins sauvages
1996: High Incident (TV-Serie)
1997: Im Körper des Feindes (Face/Off)
1998: Die menschliche Bombe
1998: With Friends Like These
1998: Antz
1999: Endurance
1999: Auf die stürmische Art (Forces of Nature)
1999: Der Chill Faktor (Chill Factor)
2000: Der Weg nach El Dorado (The Road to El Dorado)
2000: Chicken Run – Hennen rennen (Chicken Run)
2001: Just Visiting – Mit Vollgas in die Zukunft (Just Visiting)
2001: Shrek (mit Harry Gregson-Williams)
2001: Evolution
2001: Rat Race – Der nackte Wahnsinn (Rat Race)
2001: Ich bin Sam (I Am Sam)
2002: D-Tox – Im Auge der Angst (D-Tox - Eye – See You)
2002: Die Bourne Identität (The Bourne Identity)
2002: Drumline
2002: Pluto Nash – Im Kampf gegen die Mondmafia (The Adventures of Pluto Nash)
2002: Ein Chef zum Verlieben (Two Weeks Notice)
2003: Stealing Sinatra
2003: Agent Cody Banks
2003: Ein ungleiches Paar (The In-Laws)
2003: The Italian Job – Jagd auf Millionen (The Italian Job)
2003: Liebe mit Risiko – Gigli (Gigli)
2003: Paycheck – Die Abrechnung (Paycheck)
2004: Die Bourne Verschwörung (The Bourne Supremacy)
2004: Alfie
2004: Mr. 3000
2005: Miss Undercover 2 (Miss Congeniality 2)
2005: Robots
2005: Be Cool
2005: Mr. & Mrs. Smith
2006: Ice Age 2: Jetzt taut's (Ice Age: The Meltdown)
2006: X-Men: Der letzte Widerstand (X-Men: The Last Stand)
2006: Flug 93 (United 93)
2006: Happy Feet
2007: Das Bourne Ultimatum (The Bourne Ultimatum)
2007: P.S. Ich liebe Dich (P.S. I Love You)
2008: Jumper
2008: Horton hört ein Hu! (Horton Hears a Who!)
2008: Kung Fu Panda (zusammen mit Hans Zimmer)
2008: Stop-Loss
2008: Hancock
2008: Bolt – Ein Hund für alle Fälle
2009: Ice Age 3: Die Dinosaurier sind los
2010: Green Zone
2010: Drachenzähmen leicht gemacht (How to Train Your Dragon)
2010: Knight And Day
2010: Fair Game

Playlist
1 John Powell - Ready For The Big Ride (Face/Off) - 03:53
2 John Powell - On Bridge Number 9 (The Bourne Identity) - 03:41
3 John Powell - To The Roof (The Bourne Supremacy) - 05:32
4 John Powell - Golden (The Italian Job) - 04:05
5 John Powell - Foggy Balance (Ice Age: The Meltdown) - 03:53
6 John Powell - Horton Suite (Horton Hears A Who!) - 06:52
7 John Powell - Starbucks & Hospital (I Am Sam) - 05:04
8 John Powell - Kitchen Waltz (P.S. I Love You) - 04:56
9 John Powell - Goodbye (Gigli) - 04:23
10 John Powell - Chaos/Email (Green Zone) - 04:17
11 John Powell - Trouble On I-93 (Knight And Day) - 04:06

Sonntag, 4. Juli 2010

Playlist # 36 vom 04.07.10 - SIMON FISHER TURNER

Simon Fisher Turner wohnt nicht in Hollywood und zählt auch nicht zu den größten Filmkomponisten seiner Zeit, aber er wird all denen ein fester Begriff sein, die die außergewöhnlichen Filme von Derek Jarman kennen. Er hat den Traum-Allegorien und melancholisch-wütenden Filmessays des am 19. Februar 1994 Jahres an AIDS verstorbenen Kultregisseurs stets das entsprechende musikalische Sujet verliehen.

Sein musikalischer Werdegang ist dabei ebenso obskur wie seine surrealistisch anmutende, äußerst feinsinnig inszenierte Musik. Turner studierte am Betteshanger in Kent Piano, Violine, Gitarre, Klarinette und Gesang, arbeitete bei Plattenfirmen wie UK Records, Cherry Red, London Records (USA), war Mitglied von Portsmouth Symphonia, war als Musiker in verschiedenen Galerien tätig, gründete das Label Papier Mache, produzierte zwei Alben von Deux Filles, spielte Gitarre und Bass bei The The (1981/82) und begann 1978 seine langjährige Zusammenarbeit mit Derek Jarman.
"Ich wurde ihm zu einem Zeitpunkt vorgestellt, als ich kein Geld und keinen Job hatte. Er fragte mich, ob ich ihm beim Umzug helfen, ob ich fahren könnte, und ich sagte, ja natürlich. Er hatte gerade 'Jubilee' abgedreht, und ich begann in der Produktionsfirma als künstlerischer Berater zu arbeiten", erinnert sich Simon.
"Danach machte er 'The Tempest', wobei ich wieder in der Produktion tätig war. Aber während der Dreharbeiten zu 'The Tempest' hatten wir am Drehort musikalische Abende, wo ich Piano und Gitarre spielte, ein Tänzer namens Orlando tanzte und H. Williams, der Prospero spielte, seine Gedichte vorlas. Es waren fast kleine Shows, und wir hatten eine Menge Spaß dabei.
Für 'Caravaggio' war ich überraschenderweise als Schauspieler integriert, aber nur in einer Nebenrolle. Während der Dreharbeiten wurde man darauf aufmerksam, dass wir den Film machten, und Komponisten schickten Tapes, um den Job für die Musik von 'Caravaggio' zu bekommen. Derek meinte, ich sollte sie mir alle anhören, und nachdem ich das getan hatte, trafen wir auch einige Leute, aber wir konnten uns für niemanden, der die Musik machen sollte, so richtig entscheiden. Als Derek eines Tages aus Italien zurückkam, fragte er mich, ob ich die Musik machen wollte. Ich nahm begeistert an. Ich wusste nichts über Filmmusik, ich hatte keine Idee, wie ich sie aufnehmen sollte, es war eine völlig neue Welt für mich. Aber es ermöglichte mir auf einmal, mit klassischen Musikern zu arbeiten, alte Instrumente zu benutzen. Ich denke, die Musik zu 'Caravaggio' war die Musik, die ich als Kind hörte, eine simulierte religiöse Musik, die ich ohne Synthesizer, nur mit Instrumenten einspielen wollte.
Heutzutage arbeite ich mit einer Verbindung aus Musikern, die richtige Instrumente wie Cello und Trompete spielen, und Tapes, Samples, Piano, Gitarre."
Simons ausgiebigen, oft siebzigminütigen Scores zu Filmen wie "The Last Of England", "Edward II", "The Garden" und schließlich "Blue" (alle bei Mute erschienen) zählen zu den außergewöhnlichsten Filmmusiken überhaupt, brechen sie doch mit fast allen Konventionen des Genres, und der Enthusiasmus, der dabei in der vielschichtigen Musik zum Ausdruck kommt, resultiert fraglos auch aus der Begeisterung, die Simon seinem Freund entgegenbrachte.
"Die Qualität von Dereks Filmen ist unvorstellbar weit, sie verfügen über eine besondere künstlerische Konzeption von Bildern. Derek war ursprünglich ein Maler und ein Dichter, bevor er eine Super 8-Kamera in die Hand bekam, aber er hatte eine unbeschreibliche Tiefe in den Visionen und der Ehrlichkeit. Er benutzte fast die ganze emotionale Breite. Ich mag nicht alle seine Filme. Ich denke, er brachte zu sehr seine Sexualität mit ein, aber als Regisseur kann er das tun. Dadurch verärgerte er aber auch Teile des Publikums, weil er wegen seiner Sexualität stets sagen wollte: Ich bin homosexuell; ich glaube, dies ist richtig, das ist falsch. Seine Filme waren politisch, außergewöhnlich. Derek hat immer mit einem Kollektiv von Freunden zusammengearbeitet und ließ den Dingen freien Lauf. Es machte immer Spaß, einen Film zu machen, obwohl er sehr ernsthaft war. Spaß war stets dabei, weil die Arbeit um Derek herum passierte, und Derek trieb uns alle an. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich ihn vermisse. Wir müssen den Geist seiner Arbeit weiterführen, den Enthusiasmus über das Leben."
Als Jarman seinen letzten Film "Blue" realisierte, war er, bedingt durch seine AIDS-Infektion, erblindet und hatte seinen Tod bereits vor Augen. Der Film stellte, da er nur blau war und allein von der Poesie Jarmans und der Musik lebte, auch für Simon eine besondere Herausforderung dar.
"Ich musste den Worten lauschen, die Musik entstand aus den Gedichten, mit denen ich mich sehr vertraut fühlte. Alles, was wir für 'Blue' versuchten, war, allein die Worte zu illustrieren. Das war meine Hauptaufgabe. Wir waren sehr glücklich darüber, mit einem Mann namens Markus Dravius aus Frankfurt zusammenzuarbeiten, der ein Mitarbeiter von Brian Eno ist. Er nahm die Sachen ganz toll auf. Wir hielten uns einen Monat bei Brian auf und entspannten uns einfach. Wir frühstückten und hörten nur den Worten zu und überlegten, welche Musik dazu passen würde. Derek kam immer mal ins Studio, um zu sagen, was ihm gefiel und was nicht. Aber ich wusste von diesem Projekt schon seit Jahren und machte in Italien einige 'Blue'-Konzerte, um das Interesse an dem Film zu wecken.
Die Konzerte waren völlig anders als der Film, aber sie gaben uns eine Idee davon, wie die Musik sein sollte. Danach war es eine Sache des Telefonierens, Freunde zu fragen, ob sie Gefallen an dem Projekt finden würden."
Und so nahmen neben Simon Turner, der die übrigen Musikbeiträge zu einer furiosen Collage zusammensetzte, u.a. Miranda Sex Garden, Coil, Momus, Vini Reilly und Brian Eno teil, die auf ihre Weise einem besonderen Freund huldigten.
Abgesehen von seinen Soloaktivitäten schrieb Simon aber auch für andere Regisseure die Filmmusik, meist für englische Produktionen, von denen Andi Engles "Melancholia" bei Silva Screen auf CD veröffentlicht wurde. Mittlerweile arbeitet er auch mal in Hollywood oder Australien, wobei er stets versucht, einen Kompromiss zwischen den Wünschen des Regisseurs und seinen eigenen Ideen zu finden.
"Mein Job als Soundtrackkomponist ist, das zu tun, was der Regisseur möchte, aber ich mache auch immer das, was ich möchte. Ich bin mir gegenüber in musikalischer Hinsicht nie unglaubwürdig geworden, weil ich von Filmemachern vermutlich gerade wegen meiner Ideen engagiert werde. Aber das ist eine Sache von Kommunikation und Vertrauen. Es wird viel Zeit mit Reden und Nachdenken verbracht. Ich neige dazu, in Filme involviert zu werden, während sie gedreht werden. Die meiste Filmmusik wird komponiert, wenn der Film fertig gestellt ist. Ich habe gerade einen Film gemacht, der in sechs Monaten entstanden ist. Meine Arbeit, den Soundtrack aufzunehmen, dauerte zwei Wochen, aber ich war jeden Tag am Set, wo ich Tape-Recorder, Sampler und Zugang zu allem hatte, was mit dem Film zusammenhing. Das ermöglicht mir einen viel besseren Einblick in den Film, wenn ich ihn vom ersten Tag an verfolge.
Die Leute fragen natürlich, wer ich bin, was ich mit einem Tape-Recorder mache, aber ich habe das immer sehr gemocht, stets am Drehort zu sein. Ich habe in erster Linie dem Regisseur und mir selbst zu gefallen, und ich bin nur dem Regisseur gegenüber verpflichtet, nicht der Produktionsfirma."
Nach dem Tod von Derek Jarman fällt es Simon allerdings schwer, sich für die Filme anderer Leute zu begeistern.
"Ich kam zufällig zur Filmmusik, und zwar durch Derek Jarman. Ich wollte nie ein Komponist werden, schon gar nicht für Filmmusik. Momentan möchte ich tatsächlich viel weniger Musik machen, weil es mir nach dem Tod von Derek und seinem außergewöhnlichen Film 'Blue' schwer fällt, Interesse an Filmen anderer Leute zu finden, obwohl ich gerade ständig an Filmmusik arbeite. Das ist ein ziemliches Problem, da muss ich für mich selbst sorgfältig auswählen. Ich möchte jetzt extreme Bilder haben, aber es gibt heutzutage nicht viele Filmemacher wie Derek einer war."
Tatsächlich ist Simon Fisher Turner in den vergangenen Jahren recht wenig filmmusikalisch tätig gewesen, für das schwarz-weiße Vampir-Drama „Nadja“ beispielsweise. Am liebsten betätigt sich der unkonventionelle Komponist auf den Gebieten experimenteller Musik. Sein 2002 veröffentlichtes Album „Swift“ war beispielsweise wie ein Mosaik konstruiert, bei dem Improvisationen von einem Musiker-Team mit anderen Klangquellen zusammengefügt wurden.
Für das 2004er Nachfolgealbum „Lana Lara Lata“ arbeitete Fisher Turner mit dem französischen Klangkünstler Rainier Lericolais und dem italienischen Electronica-Duo T um‘ zusammen.
'Lana' ist eine Art von Geistermusik. Es ist durch eine Vielzahl von Köpfen und Räumen auf eine Weise gegangen, die ich sehr interessant finde“, erklärt Turner und beschreibt damit einen kreativen Prozess, bei dem das ursprüngliche Material am Ende der musikalischen Verarbeitung nur noch rudimentär vorhanden gewesen ist. Auf dem Album ist der Komponist auch als Sänger zu vernehmen, wenn auch meist elektronisch verfremdet.
„Ob man nun versteht, was ich sage, oder nicht, spielt keine Rolle. Aber was ich sage, ist wahr für mich. Ich liebe es einfach, Songs auf den Punkt zu bringen. Ich liebe es zu singen. Das tue ich, seit ich als Achtjähriger in einem Kirchenchor gesungen habe.“
Wie schon bei „Swift“ ist auch „Lana“ mit einer DVD - „Lara“ - ausgestattet, zu denen Sebastian Sharples die Visuals beigesteuert hat, und mit „Lata“ gibt es zudem auch ein von Paul Farrington kreiertes Klangspielzeug, mit dem der Hörer verschiedene Auszüge aus dem Album manipulieren kann. „Es ist eines der schönsten Dinge, die ich je gesehen habe“, meint Fisher Turner. „Es ist einfach wild. Ich liebe es!”
Doch trotz der ausgefallenen Ideen, die das Schaffen von Simon Fisher Turner prägen, würde er gern auch mal ein Album mit konventionellen Songs produzieren.
„Ich würde es lieben, ein Album mit Songs zu machen, aber ich bräuchte einen Songschreiber-Partner.“ Wir sind gespannt, welche Überraschungen uns da noch ins Haus stehen …

Diskographie:
1973 – Simon Turner
1985 - The Bone of Desire
1986 - Caravaggio Original Soundtrack
1987 - The Last of England Original Soundtrack
1989 - Melancholia Soundtrack
1991 - Edward II Original Soundtrack
1991 - The Garden Original Soundtrack
1992 - I've Heard the Ammonite Murmur
1992 – Sex Appeal (Simon Turner vs. The King of Luxembourg)
1993 – Revox
1993 – The Many Moods of Simon Turner
1994 - Blue: A Film by Derek Jarman
1995 - Live Blue Roma (The Archaeology of Sound)
1995 - Nadja
1996 - Shwarma
1996 - Loaded Original Soundtrack
1999 - Still, Moving, Light
1999 - Oh Venus
1999 - Eyes Open
2000 - Travelcard
2002 - Riviera Faithful
2002 – Swift
2005 – Lara Lana Lata
2008 – Lifesounds
2009 – Music from Films You Should Have Seen

Playlist 
1 Simon Fisher Turner - The End Credits (Edward II) - 06:40
2 Simon Fisher Turner - Autumn Leaf (The Last Of England) - 03:27
3 Simon Fisher Turner - I Love You More Than My Eyes (Caravaggio) - 06:48
4 Simon Fisher Turner - Pure Blue (Live Blue Roma) - 04:26
5 Simon Fisher Turner - Series Of Cars (Lana) - 09:08
6 Simon Fisher Turner - Strung Out (Shwarma) - 07:34
7 Simon Fisher Turner - Virgin On The Rock/Stick Up/Warm (Melancholia) - 03:37
8 Simon Fisher Turner - Love, Death, Avoid It (Nadja) - 03:44
9 Simon Fisher Turner - Moist (Revox) - 09:48

Sonntag, 20. Juni 2010

Elliot Goldenthal (Teil 1) - Das Gewöhnliche trifft das Unerwartete

Wenn auch Elliot Goldenthals Name längst nicht so häufig auf der Leinwand zu sehen gewesen ist wie viele seiner bekannteren Kollegen, zählt er nicht nur durch seine Oscar-prämierte Musik zur Künstlerbiografie „Frida“ zu den anerkanntesten, hoffnungsvollsten und originellsten Filmkomponisten, die derzeit gehandelt werden. Für seinen Score "Interview With The Vampire" erhielt der am 2. Mai 1954 geborene New Yorker eine "Golden Globe"- und Academy-Award-Nomination, nachdem bereits seine Arbeiten zu "Drugstore Cowboy", "Friedhof der Kuscheltiere" und "Alien 3" hochgelobt wurden. 

Was all seine Werke für den Film auszeichnet, ist die offensichtlich seltene Gabe, die Möglichkeiten des Orchesters voll auszuschöpfen, das Gewöhnliche mit dem Unerwarteten zu verknüpfen, wundervolle Melodien mit experimentellen Sounds zu unterlegen, intime Momente mit bombastischen Orchestereskapaden und minimalistischer bis verfremdender Elektronik zu verbinden. Das hat Goldenthal größtenteils seinem Lehrer John Corigliano zu verdanken, während er bei Aaron Copland eher praktische Erfahrungen sammelte.
"Ich denke, dass gerade mein Studium mit John Corigliano extrem wichtig war, weil ich ihm jede Woche meine Arbeiten brachte, er sie analysierte, vor allem die Orchestration und die Idee der Melodie. Er achtete sehr darauf, dass ich nicht immer wieder auf das 19. Jahrhundert zurückgriff. Es war sehr aufregend für mich, wie man die Tradition des 19. Jahrhunderts mit großen Teilen des 20. Jahrhunderts verbinden konnte, wie man die Unterschiede einer Zeit, in der man lebt und in der Jimi Hendrix und Richard Wagner gespielt werden, miteinander aussöhnen, wie man beides simultan zusammenbringen kann", blickt Goldenthal auf seine Zeit an der Manhattan School of Music in New York zurück. "Aaron Copland war ein sehr alter Mann, der am Ende seines Lebens stand. Die große Freude, mit ihm zu arbeiten, war, seine Scores durchzuspielen, mit ihm sehr langsam vierhändig am Piano zu spielen und ihm Fragen über das zu stellen, was er in den 20er, 30er, 40er Jahren komponiert hat. Aber es war alles in slow motion. Es war sehr fördernd für mich, wenn er mir erzählte, wie gut es ihm tat, Sachen für den Film zu machen. Für ihn war es eine unglaubliche Sache, in verschiedene Gebiete außerhalb der Konzertmusik zu gehen, außerhalb des Lebens zwischen den Endpunkten. Er liebte das Radio, den Film und all die Dinge."
Mit Copland teilt Goldenthal das Interesse für interdisziplinäres Arbeiten. Vor allem seine Arbeiten für Orchester, Theater und Oper sind preisgekrönt. Für die Theaterproduktion "Juan Darién", die er 1988 mit der Regisseurin Julie Taymor inszenierte, erhielten beide den Obie Award. Für das Musical "The Transposed Heads" gewann er den ersten American Music Theatre Festival’s Stephen Sondheim Award. Außerdem erhielt er den Edinburgh Festival Critic’s Choice Award, den Toscanini Award for musical composition und den New Music for Young Ensembles composition prize.
1988 wurde er von ASCAP mit einem Orchesterwerk ("Shadow Play Scherzo") anlässlich des 70sten Geburtstags von Leonard Bernstein beauftragt, später mit einer Arbeit für das Haydn-Mozart Chamber Orchestra ("Pastime Variations - An Ebbets Field Memorial") sowie Scores für drei Shakespeare-Stücke.
"Ich war sehr am Kino und Theater interessiert. Mich faszinierte das Theater und die wechselseitige Beziehung zwischen Handlung und gesprochenem bzw. gesungenem Wort, zwischen Songtexten und Musik, wie Musik zu Gesang führt, wie Musik zu solchen Emotionen führt. So schien es mir nur natürlich, in diesem Bereich zu arbeiten", erklärt Goldenthal sein starkes Engagement für Theaterproduktionen. "Meine erste Musik für einen Film war die zu einem Film von Andy Warhol und einem deutschen Regisseur, der viel mit Rainer Werner Fassbinder zusammengearbeitet hat, in Hollywood Fuß fassen wollte, es aber nicht schaffte. Leider machte er Filme, die keiner sehen wollte. Aber ich machte einen Film mit ihm, ‚Blank Generation‘, welcher wirklich ganz gut war und in dem Andy Warhol und er selbst mitwirkten. Das war 1979 und der erste Film, den ich machte."
Eine große Umstellung von der Arbeit fürs Theater zu einer für den Film scheint es für Goldenthal grundsätzlich nicht zu geben.
"Es gibt eigentlich keine großen Unterschiede zwischen der Arbeit für die Leinwand oder für das Theater, wenn man in der glücklichen Lage ist, mit einem Regisseur zusammenzuarbeiten, der einem darin vertraut, was man macht, der gut versteht, was man zu erreichen versucht. Beim Film ist die Arbeit sehr technisch. Wie man weiß, bestehen Filme aus 24 Bildern pro Sekunde. Wenn jemand im elften Bild ein Messer ins Herz gestoßen bekommt und dies der wichtigste Moment ist, muss man seine ganze Musik darauf abstimmen. Man ist also ein Sklave der Zeit, wenn man für einen Film die Musik schreibt. Im Theater ist das natürlich anders, und in der Konzertmusik besteht die Schwierigkeit darin, dass es keine Grenzen gibt. Ohne Beschränkungen wird es viel schwieriger. Für mich ist es jedenfalls so, dass ich mich total unabhängig fühle, wenn man mir eine Beschränkung fortnimmt, und Freiheit ist eine schwierige Sache, um damit umzugehen. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum Leute wie Alban Berg sich wohl dabei fühlten, innerhalb gewisser Grenzen zu arbeiten, oder Bluesmusiker, die nur sechs oder sieben Noten zur Verfügung haben."
Da für Goldenthal diese Beschränkungen nicht bestehen, sieht er nicht die Notwendigkeit, sich welchen zu unterwerfen, wie es die meisten seiner Kollegen tun. Wann immer Goldenthal engagiert wird, versucht er, ungewöhnliche Arbeiten zu produzieren, die auch für das Ensemble des jeweiligen Orchesters eine besondere Herausforderung bedeuten.
"Viele Sounds entstehen auf ganz natürliche Weise, wenn man versucht, mit einem traditionellen Orchester zu arbeiten. Sehr oft müssen die Bläser tiefere Töne in Verbindung mit Clustern oder Klangfarben spielen, was sehr ungewöhnlich für sie ist. Dann muss ich sehr oft erklären, was ich brauche, das das Orchester ausdrücken soll.
Ich denke, es gibt da noch viel, was man nutzen kann, was die Komponisten des 21. Jahrhunderts am Orchester erforschen können, weil noch so viele Texturen und Farben vorhanden sind, die bislang nicht verwendet wurden. Außerdem macht es die Computer- und Sampletechnik sehr einfach, hausgemachte Sounds zu produzieren und eine ganze Welt zu kreieren, die sehr gut mit dem Orchester zusammenwirken kann, wenn man nach vorn schaut. Ich verlasse mich auf den Computer und das Orchester, um diese Sounds zu kreieren."
Wie alle Filmkomponisten hat natürlich auch Elliot Goldenthal mit den besonderen Zeitbeschränkungen zu kämpfen, die den Komponisten zwingen, oftmals sehr kurzfristig Musik um- oder neu zu schreiben.
"Egal, wie früh ich in ein Projekt involviert werde, letztlich bleiben mir drei bis fünf oder sechs Wochen für die Musik, weil sich am Ende noch so viel ändert. Die Regisseure ändern ihre Meinung, tragen Kämpfe mit den Produzenten aus, so dass es zum Ende hin eine große Herausforderung wird. Man muss also sehr flexibel am Schluss sein. Man kann sich kaum vorstellen, wie viel sich ändern kann. Als ich die Musik für `Alien 3’ schrieb, musste ich am letzten Tag die letzten elf Minuten des Films neu aufnehmen, weil sie sich noch nicht entschieden hatten, ob das Monster aus Sigourney Weavers Körper kommt oder Selbstmord begeht. Es ist sehr schwierig, unter solchen Umständen zu arbeiten, wenn sich am Ende so viel verändert. Egal, wie früh man also in den Film hineinbezogen wird, was zählt, ist der vom Regisseur abgeschlossene Film. Das machte ‘Interview With The Vampire’ einfach, obwohl ich nur drei Wochen Zeit hatte, um achtzig Minuten Musik zu komponieren. Dafür war der Film bereits fertig. Sie änderten nichts mehr, und ich konnte Tag und Nacht die Musik komponieren."
Dass Elliot Goldenthal bislang verhältnismäßig wenig für den Film gearbeitet hat, liegt nicht nur an seinen intensiven Aktivitäten außerhalb Hollywoods, sondern auch an den Voraussetzungen, die Goldenthal an den Film stellt, bevor er sich entscheidet, ihn zu machen.
"Ich lese das Skript und beim Lesen versuche ich festzustellen, ob es Stellen und Möglichkeiten gibt, Musik auf unterschiedliche Weise einzusetzen, ob die Musik eine wichtige Rolle spielt. Z.B. war für ‘Alien 3’ die Musik sehr wichtig. Leider waren auch Sound Effects sehr wichtig. In ‘Drugstore Cowboy’ versuchte ich in der Musik die Drogenzustände auszudrücken, die sehr zentral in dem Film waren. Wo ich mich ausdrücken kann, wo man versteht, was ich mache, das sind die Kriterien, nach denen ich einen Film aussuche.
Ich bekomme viele Angebote, aber das Lesen des Skripts ist wichtig für mich, um zu sehen, dass die Musik eine entscheidende Rolle spielt und der Regisseur und ich keine Zeit verschwenden. Manche Komponisten nehmen alles, was sie kriegen können und gehen dabei in eine Falle. Es gibt sehr viele solcher Fallen. Ich wäre z.B. nicht sehr gut darin, eine romantische Komödie zu machen.
Wenn ich das tun würde, käme vielleicht jemand, der mir eine weitere Komödie anbietet und dann eine weitere, so dass ich zwei Jahre meines Lebens verloren hätte. Ich brauche Filme, in denen es andere Formen von Realität gibt. ‘Demolition Man’ war der letzte Action-Film, den ich je gemacht habe. Ich habe mich einmal an einem Action-Film versucht und würde so etwas nie wieder machen. Zu viele Sound Effects. Aber es war ein Film, der in der Zukunft spielte und mir die Möglichkeit bot, eine Musik zu komponieren, die andere Schichten von Realität aufwies. Ich muss sehr vorsichtig sein bei der Wahl meiner Projekte sein, weil es so viele Fallen gibt, mit denen man seine Zeit verschwenden kann."
Hat er sich aber für ein Projekt erst einmal entschieden, besteht für Goldenthal allerdings oft die Schwierigkeit, sich mit den Regisseuren über die Musik zu unterhalten.
"Die Regisseure haben zwar eine genaue Vorstellung von der Musik, die sie haben wollen, aber sie haben keine von mir. Sie können nicht in musikalischen Begriffen reden, sondern nur über dritte Personen oder andere Musik, also nur indirekt. Neil Jordan spricht z.B. über die Musik nur auf abstrakte Weise, indem er andere Komponisten erwähnt. Es wird dann immer schwierig, wenn ich die Musik vorlege, die ich komponiert habe. Für Neil Jordan habe ich eine Stunde Musik komponiert, die ich ihm zum Anhören vorgelegt habe, damit er seine Kommentare anbringen konnte. Von diesem Punkt an konnten wir zusammenarbeiten. Es ist sehr schwierig, mit einem Regisseur zusammenzuarbeiten, der kein Spezialist ist, der nicht den Musikprozess versteht, der sich nicht vorstellen kann, dass die Musik, die man mit einem Synthesizer eingespielt hat, anders klingt, wenn man sie von einem Orchester spielen lässt."
Die ungewöhnlich intensive Einheit, die Goldenthals Musik mit den Filmen eingeht, und sein ständiges Bemühen, neue Ausdrucksformen für die Filmmusik zu finden, haben nicht nur Vergleiche mit seinem Mentor John Corigliano ("Altered States", "The Ghost of Versailles") heraufbeschworen, sondern ihn als neuen Bernard Herrmann feiern lassen.
"Ich fühle mich sehr geehrt. Historisch gesehen kann man Bernard Herrmann als ersten Minimalisten bezeichnen. Man braucht nur Phillip Glass mit ihm zu vergleichen. Es ist einfach unglaublich, was er natürlich für ‘Psycho’, aber auch für ‘Cape Fear’ komponiert hat. Seine Art der Orchestration war völlig persönlich. Er folgte nicht der Tradition von Konzertkomponisten, die in Hollywood erfolgreich wurden, Leuten wie Max Steiner, die brillante Musiker waren. Aber dann kam Bernard Herrmann und führte vor, wie Musik im Kino klingen sollte. Er definierte nicht nur die Musik neu, sondern schuf ganz neue Welten mit Mr. Hitchcock. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, in seine Fußstapfen zu treten."

  © Blogger template Brooklyn by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP