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Sonntag, 22. Mai 2011

Playlist # 59 vom 22.05.11 - NEUHEITEN 2011 (1)

Zur Abwechslung gibt es in der zweiten Stunde der heutigen Sendung mal kein Special zu einer Filmreihe, einem Komponisten, Regisseur oder Schauspieler, sondern ein Potpourri aktueller Soundtrack-Veröffentlichungen.

Den Anfang macht der wunderschöne Score zu Peter Weirs Ende Juni in Deutschland anlaufenden Drama „The Way Back“ des gebürtigen Frankfurters Burkhard Dallwitz, der im Alter von zwanzig Jahren nach Australien ausgewandert ist und mit Peter Weir bereits 1999 an dessen Film „The Truman Show“ zusammengearbeitet hat, in den letzten Jahren aber vor allem fürs australische Fernsehen tätig gewesen ist („Underbelly Files“).
Auch von Rachel Portman war in der jüngsten Vergangenheit wenig zu hören. Für die Bestseller-Verfilmung „Never Let Me Go“, die hierzulande unter dem Titel „Alles was wir geben mussten“ seit April in den Kinos läuft, hat die britische Komponistin wieder einen sehr gefühlvollen, minimalistisch instrumentierten, von Streichern und Piano getragenen Score produziert, der in bester Tradition ihrer Meisterwerke wie „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ oder „Die Legende von Bagger Vance“ steht.
Weitaus umtriebiger ist dagegen Hollywoods Top-Komponist James Newton Howard. Nach seinen eindrucksvollen Zusammenarbeiten mit seinem ebenso illustren Freund Hans Zimmer an den beiden „Batman“-Reboots „Batman Begins“ und „The Dark Knight“ war er zuletzt mit der Agenten-Action-Komödie „The Tourist“, den beiden Comic-Verfilmungen „The Green Hornet“ und „Green Lantern“ ebenso zu hören wie nun in der Bestseller-Verfilmung von Sara Gruens „Water For Elephants“, die den versierten Komponisten erneut mit Regisseur Francis Lawrence („I Am Legend“) zusammenbrachte. Dabei bettete er seine einfühlsamen Melodien in ein Geflecht von konventionellen Orchester-Arrangements und einem Zirkus/Jazz-Ensemble ein, womit Howard einmal mehr ein außergewöhnliches Album gelungen ist.
Animationsfilme erfreuen sich seit Jahren schon großer Beliebtheit an den Kinokassen, und oftmals war Hans-Zimmer-Adept John Powell bei der musikalischen Untermalung mit von der Partie („Ice Age 2+3“, „Horton hört ein Hu!“, „Robots“). Wie bereits bei „Kung Fu Panda“ kreierten John Powell und Hans Zimmer den Score zu „Kung Fu Panda 2“ gemeinsam und bringen eine erfrischende chinesische Note in das putzige Dreamworks-Animationsabenteuer. In Eigenregie verzaubert John Powell auf seinem Score zu „Rio“ mit brasilianischen Klängen, in die er Fragmente von den Songs „Favo Del Mel“, „Funky Monkey“ und „Ararinha“ eingebettet hat.
Hans Zimmer selbst überrascht auf dem Soundtrack zum neuen „Fluch der Karibik“-Abenteuer „Fremde Gezeiten“ derweil mit ungewöhnlich zurückhaltenden Tönen. Zwar ist auf dem Soundtrack immer mal wieder der Zimmer-typische Soundwall-Bombast zu hören, wie er bei Jerry-Bruckheimer-Action-Blockbustern Konvention geworden ist, aber es überwiegen auf angenehme Weise die Klänge des mexikanischen Gitarrenduos Rodrigo y Gabriela. Abgerundet wird das Soundtrack-Album mit diversen DJ- und Electro-Remixen.
Brian Tyler ist gleich mit zwei neuen Action-Filmen im Kino zu sehen und zu hören. Während er auf dem fünften „The Fast & The Furious“-Abenteuer „Fast Five“ ein interessant brodelndes Gemisch aus coolen Electro-Klängen und satten Orchester-Arrangements präsentiert, bietet er beim apokalyptischen Kriegsdrama „Battle: LA“ das ganze Kontingent des Hollywood Studio Symphony Orchesters auf und lässt dabei vertraute Americana-Harmonien durchdringen.
Vom britischen Komponisten Paul Leonard-Morgan war hierzulande noch nicht viel zu hören. Das könnte sich mit seinem ersten Blockbuster-Film „Limitless“ demnächst ändern. Auf vitale Weise verbindet er hier chillend groovende Electro-Sequenzen mit feinen Orchester-Sounds, die man sich durchaus einmal öfter anhören mag.
Noch elektronischer geht es natürlich bei The Chemical Brothers und ihrem Score zu „Wer ist Hanna?“ zu. Mit ihren progressiven Electro-Tracks war das Duo aus Manchester bereits auf etlichen Soundtracks wie „The Jackal“, „Lara Croft: Tomb Raider“, „The Saint“ oder „Gone In Sixty Seconds“ vertreten, nun legen sie mit „Hanna“ ihren ersten eigenständig produzierten Score vor, das mit einem herrlich verträumt-verspielten Hauptthema aufwartet, oft aber die typisch Electro-Rhythmen präsentiert, für die Ed Simons, Tom Rowlands bekannt sind.
Zum Abschluss geht es aber wieder groß orchestral zu. Christopher Young hat in Hollywood den mühsamen Weg über unzählige Horror- und Psychothriller-B-Produktionen nehmen müssen, bis er zu dem gefragten Meisterkomponisten der heutigen Tage geworden ist und Major-Produktionen wie „Untraceable“, „The Informers“, „Spider-Man 3“ und „Schiffsmeldungen“ mit seinen brillanten Kompositionen veredelt. Aber Young, der durch Horror-Filme wie „Hellraiser“, „Hellbound“, „Species“ und „The Fly II“ bekannt geworden ist, kehrt auch heute noch immer wieder gern in dieses Genre zurück. Nach Sam Raimis „Drag Me To Hell“ und „Der Exorzismus der Emily Rose“ präsentiert er mit seinem Score zur Manga-Verfilmung „Priest“ wieder einen gotisch anmutenden, stark chorallastigen Soundtrack, der Horror-Herzen höher schlagen lässt.
Auch Shakespeare-Experte Kenneth Branagh („Viel Lärm um nichts“, „Henry V.“) hat sich überraschender weise für seinen neuen Film eine Comic-Vorlage ausgesucht, nämlich Stan Lees 1962 gestartete „Thor“-Serie, die Branagh nun bildgewaltig auf die Leinwand gebracht hat. Sein Stamm-Komponist Patrick Doyle schuf dazu die passend heldenhaft-pompöse musikalische Untermalung.

Playlist:
1 Burkhard Dallwitz - Tibet (The Way Back) - 05:26
2 Rachel Portman - Main Titles (Never Let Me Go) - 02:58
3 James Newton Howard - Circus Fantasy (Water For Elephants) - 03:45
4 John Powell und Hans Zimmer - Save Kung Fu (Kung Fu Panda 2) - 03:41
5 John Powell - Bedtime Flyers (Rio) - 02:58
6 Hans Zimmer feat. Rodrigo y Gabriela - South of Heaven's Chanting Mermaids (Pirates of The Caribbeans: On Stranger Tides) - 05:50
7 Brian Tyler - We Are Still Here (Battle: Los Angeles) - 03:15
8 Brian Tyler - Turning Point (Fast Five) - 03:47
9 Paul Leonard-Morgan - Trippy (Limitless) - 03:45
10 The Chemical Brothers - Hanna’s Theme (Vocal Version) (Hanna) - 05:27
11 Christopher Young - A World Without End (Priest) - 07:38
12 Patrick Doyle - The Compound (Thor) - 07:42

Sonntag, 8. Mai 2011

Playlist # 58 vom 08.05.11 - WES CRAVEN Special

Wes Craven – am 2. August 1939 in Cleveland, Ohio, unter dem Namen Wesley Earl Craven geboren – zählt neben John Carpenter und George Romero zu den bekanntesten Filmemachern des Horror-Genres, der bereits mit seinen Frühwerken „Das letzte Haus links“ (1971) und „Hügel der blutigen Augen“ (1977) neue Maßstäbe gesetzt hat, vor allem aber mit „A Nightmare On Elm Street“ 1984 eine der erfolgreichsten Horror-Serien in Gang setzte. Dieses Kunststück gelang Craven 1996 auf eindrucksvolle Weise ein weiteres Mal, als er mit „Scream“ für eine neue Art des Schreckens auf der Leinwand sorgte. Anfang Mai startet Teil 4 der erfolgreichen Reihe auch in den deutschen Kinos.
Wes Craven wuchs in einer strenggläubigen Baptisten-Familie auf, doch seine Eltern ließen sich scheiden, als der junge Wes gerade mal sechs Jahre alt war, was tiefe Wunden in der Seele des kleinen Jungen hinterließ und erklärt, warum die kleinbürgerliche amerikanische Durchschnittsfamilie oft eine so große Rolle in Cravens Filmen spielt. Nach seinem Studium der Literatur und Psychologie am Wheaton College in Illinois, seinen erfolgreichen Abschlüssen in Philosophie und „Writing“ an der John Hopkins Universität und seiner anschließenden Lehrertätigkeit am Clarkson College in Potsdam, New York, stellte er nämlich in seinem Debütfilm „Das letzte Haus links“ eine intakte Familie in den Mittelpunkt, die von einem gesuchten Mörder heimgesucht wird, der bereits die vermisste Tochter auf dem Gewissen hat. Doch bis zu seinem ersten Film war es ein langer Weg. Als Kind strenggläubiger Eltern waren ihm Ablenkungen, die die Populärkultur bot, verboten. Er heiratete jung und trug schnell die Verantwortung für eine Familie, die er ernähren musste.
Als er während seiner Lehrtätigkeit 1968 mit seinen Studenten den 45-minütigen Kurzfilm „The Searchers“ fertigstellte, merkte Craven, dass er seine Profession wechseln möchte. Er verließ das College, nachdem er in den Semesterferien eine Filmschule in Manhattan besucht hatte. Mit Filmschnitt-Jobs bei Sex-Produktionen und als Taxi-Fahrer hielt sich Craven leidlich über Wasser, musste dann die Trennung von seiner Frau verkraften. Doch das Schicksal wendete sich zum Besseren, als Wes Craven den jungen Filmemacher Sean S. Cunningham kennenlernte, für dessen Sex-Drama „Together“ er 1971 zunächst den Schnitt, dann auch die Co-Regie übernahm. Der Film wurde so erfolgreich, dass das Studio Cunningham 90000 Dollar für einen Film seiner Wahl zur Verfügung stellte. Da dieser aber mit anderen Projekten beschäftigt war, trug er Wes Craven den Job an, der an einem Wochenende das Skript zu „Das letzte Haus links“ verfasste. Inspiriert von Ingmar Bergmans Klassiker „Die Jungfrauenquelle“ wollte Craven allerdings nicht wie Bergman über die Existenz Gottes diskutieren und keine philosophische Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne inszenieren, sondern den Akt der Gewalt und seine moralischen Implikationen beleuchten. Für Cunningham fiel der Film allerdings zu hart aus. Entsetzt musste er feststellen, dass Craven nicht wie die meisten seiner Kollegen über eine Schere im Kopf verfügte. Für Craven bedeutete der Film allerdings auch die Verarbeitung all der Enttäuschungen und Entbehrungen der letzten Jahre. Obwohl der Film in oft um 15 bis 20 Minuten gekürzten Versionen in den Kinos zu sehen war, wurde „Das letzte Haus links“ zu einem großen Erfolg und stempelte Wes Craven als Horrorfilmregisseur ab.
So sehr er sich das auch wünschte, andere Möglichkeiten, als im Horror-Genre zu arbeiten, ergaben sich für Craven nicht. So nahm er 1977 etwas widerstrebend das Angebot an, für seinen Freund, den B-Movie-Produzenten Peter Locke „Hügel der blutigen Augen“ zu inszenieren. Der Film handelt von einer Familie, die mit ihrem Wohnmobil in der Wüste eine Panne hat und von einer Kannibalenfamilie, die durch Atomtests in den 50er Jahren degeneriert ist, konsequent dezimiert wird.
„Ein großer Teil des Horrors steckt in den rauen Bildern, einer Mischung aus cinéma verité und Exploitation, und in der musique concrete der Wüste, einer seltsamen Geräuschsymphonie. (…) Zudem haben Cravens Monster Überzeugungskraft. Man hat Angst vor ihnen, und man hat Mitleid. Sie sind eine tatsächlich schreckliche, grausame Addams-Familie der Wüste, Punks eines nuklear verseuchten Wasteland, Techno-Kannibalen mit Walkie-Talkies, verwildert auf dem Müllplatz der Zivilisation“, urteilt Hans Schefferle in seinem Buch „Die 100 besten Horror-Filme“ (Heyne, S. 78).
Bei der Auftragsarbeit „Eine tödliche Bedrohung“ fürs Fernsehen musste sich Wes Craven ein Jahr später allerdings in Sachen Gewaltdarstellung stark zurücknehmen. 1981 durfte er mit „Tödlicher Segen“ erstmals einen Film für ein Major Studio realisieren. Der Film handelt von einer religiösen Sekte, deren Anführer seine Jünger mit fanatischem Eifer zu einem gottgefälligen Leben anhält.
Als zwei hübsche Mädchen vom College in der texanischen Stadt auftauchen, wird die Gemeinde durch eine Reihe offenbar religiöser Morde erschüttert. Wie seine Vorgänger erwies sich auch „Tödlicher Segen“ als gewinnträchtig, aber Craven musste feststellen, dass er im Studiosystem von Hollywood nur bestehen konnte, wenn er sich auf Änderungswünsche der Produzenten einließ.
Für seinen nächsten Film, eine Verfilmung des erfolgreichen DC-Comics „Das Ding aus dem Sumpf“, konnte der Regisseur mit dem höchsten Budget seiner bisherigen Karriere arbeiten, immerhin drei Millionen Dollar. Der Film erzählt die Geschichte des Arztes Alec Holland, der im Kampf gegen den Hunger ein Pflanzenwachstumsmittel herstellen wollte, aber einem Anschlag des Milliardärs Arcane mit dem Mittel infiziert wurde und zu einer grässlichen Kreatur - halb Mensch, halb Pflanze - mutierte. Cravens in den Sümpfen angesiedelte Version von „Das Schöne und das Biest“ scheiterte allerdings kläglich an den Kinokassen.
Als eine ebenso unglücklich erwies sich Cravens Entscheidung, mit „Im Todestal der Wölfe“ 1983 eine Fortsetzung von „Hügel der blutigen Augen“ zu drehen.
Erst mit „Nightmare – Mörderische Träume“ gelang Craven der große Coup, mit dem er zu einem Meister des Genres avancierte. Im Gegensatz zu den humorfreien Teenie-Slashern „Halloween“ und „Freitag, der 13.“ wollte Craven mit „A Nightmare On Elm Street“ ein breites Publikum ansprechen und seine Hauptfigur Freddy Krueger als verunstaltete Kreatur die Träume seiner Opfer heimsuchen lassen. Zu den Erfolgsfaktoren des Films zählen nicht nur die gelungene Inszenierung und die starken Schockmomente. Craven bewies ein gutes Gespür für die Befindlichkeiten des jugendlichen Publikums. Statt sie zu verklären oder zu verharmlosen, setzte er sich ernsthaft mit ihren Problemen und Ängsten auseinander und bereitete damit gewissermaßen den Weg für die populären Teenager-Dramen „The Breakfast Club“, „Pretty In Pink“ oder „Ist sie nicht wunderbar?“.
„Freddy ist der Geist eines Kinderschänders, den die Eltern in der Elm Street bei lebendigem Leib verbrannt haben. Der Dämon also spricht nicht nur von seiner eigenen Schuld (von einer furchtbaren Drohung, die uns in die Welt der Kindheit schien), sondern auch von der lange verdrängten Gegenschuld der Eltern. Die Gestalt von Freddy Krueger, sein zynischer, böser Humor, seine Mischung aus Schrecken und Groteske wurde zu einem ungemein verbreiteten Ikon in der Teenager-Kultur. (…) Die primäre Erfahrung der jugendlichen Heldinnen und Helden in den ‚Nightmare‘-Filmen ist Einsamkeit und Verlassenheit, die Unfähigkeit der Erwachsenen, der Gesellschaft, der Religion, der Wissenschaft, sie gegen das selbst erzeugte Böse zu beschützen. So können die jugendlichen Zuschauer Freddy gar nicht wirklich hassen; der eigentliche Zorn der Filme richtet sich gegen die Ignoranz der Erwachsenen, gegen ihre Weigerung, Schuld und Gegen-Schuld zu verarbeiten“, fassen Georg Seeßlen und Fernand Jung in „Horror – Grundlagen des populären Films“ (Schüren, S. 653) zusammen.
Trotz des riesigen Erfolgs von „A Nightmare On Elm Street“ gab es erhebliche Differenzen zwischen Craven und dem Studio New Line Cinema, die zwar eine Fortsetzung planten, aber Craven gar nicht erst fragten, ob er daran irgendwie beteiligt sein wollte. Stattdessen inszenierte Craven für CBS zunächst mit „Chiller – Kalt wie Eis“ (1985) seine eigene Frankenstein-Variante und dann einige Folgen für die Neuauflage der erfolgreichen Horror-Serie „Twilight Zone“, die zwischen 1959 und 1965 große Erfolge in den USA feierte. Mit „Die Superdetektive“ entstand 1986 ein familienfreundlicher Fernsehfilm über zwei Kinder und ihren Großvater, die gemeinsam eine Geldfälscherbande auffliegen lassen. Noch im selben Jahr griff Craven das Frankenstein-Motiv für seinen nächsten Kinofilm auf.
In „Der Tödliche Freund“ wird die Frankenstein-Figur von einem 14-jährigen Computergenie verkörpert, der zunächst einen Roboter kreiert und dessen Hauptchip schließlich in den Körper seiner getöteten Freundin implantiert.
Nachdem er mit „Tödlicher Segen“ bereits einen Film mit religiöser Thematik abgeliefert hatte, wandte Craven sich mit „Die Schlange im Regenbogen“ dem Voodoo-Phänomen zu und formte den gleichnamigen Sachbuch-Bestseller des Ethnobotanikers Wade Davis zu einem atmosphärisch dichten Horror-Thriller vor dem Hintergrund der haitianischen Diktatur um. „Terminator“-Komponist Brad Fiedel trug mit seinem großartigen rhythmischen Score sehr zum Gelingen des auf Tatsachen beruhenden Thrillers bei, der vor allem in Japan, aber auch in Frankreich und Großbritannien wie eine Bombe einschlug.
Sehr radikal ging Craven bei seinem nächsten, programmatisch „Shocker“ betitelten Film vor, in dem ein Mörder aus dem Reich der Toten zurückkehrt und sich auf einen niemand verschonenden Rachefeldzug begibt. „Shocker“ ist darüber hinaus aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien, wenn Cravens Protagonisten ins Innere eines Fernsehgeräts geschickt werden und dabei meist bei Sendern landen, die Gewaltfilme zeigen.
„Die entscheidende Gefahr des Fernsehens ist, dass es passiv macht. Ich habe mich in meinem Shocker mit der Vorherrschaft des Fernsehens in unserer Kultur befasst und den düsteren Ausblicken, die diese Tatsache mit sich bringt“, wird Wes Craven in „Teen Scream – Titten & Terror im neuen amerikanischen Kino“ von Rüdiger Dirk und Claudius Sowa (Europa, S. 50) zitiert.
1989 kehrte Craven wieder zum Fernsehen zurück, fungierte zunächst erfolglos als Executive Producer für die Serie „The People Next Door“ und scheiterte auch drei Jahre später mit der Anthologie-Serie „Nightmare Café“, in der Freddy-Krueger-Darsteller Robert Englund Menschen die Möglichkeit eröffnete, sich ihren düstersten Albträumen zu stellen.
Mit „Night Vision“ entstand 1990 eine Art Vorläufer zu Serien wie „Millennium“ und „Profiler“. Doch NBC wollte die Geschichte um eine Polizeipsychologin, die in Trancezuständen fähig ist, sich in die Psyche von Mördern hineinzuversetzen, nicht in Serie gehen lassen.
1991 kehrte Craven mit „Das Haus der Vergessenen“ auf die Kinoleinwand zurück, und zwar auf die kompromisslose Weise seiner Frühwerke. Er erzählt die Geschichte eines namenlosen weißen Hausbesitzer-Paars in einem Ghetto, aus dem die Schwarzen vertrieben werden sollen.
Als der schwarze Fool und seine Mutter aus ihrer Wohnung geschmissen werden, bricht der Junge mit seiner Schwester und zwei Freunden aus Verzweiflung in das Haus seiner Peiniger ein, um Geld für die Operation seiner krebskranken Mutter zu besorgen. Doch die Hausbesitzer entpuppen sich als Psychopathen, die verstümmelte Kinder im Keller gefangen halten und alles töten, was sich ihnen in den Weg stellt. Einzig die hübsche Alice lebt wie ein halbwegs normales Mädchen in dem Haus, darf aber keinen Kontakt zur Außenwelt unterhalten.
Craven verband in diesem Film gleich mehrere Märchenmotive – z.B. aus „Hänsel und Gretel“, „Frau Holle“ und „Aschenputtel“ – und lässt in diesem durchaus mit schaurigen Effekten garnierten Sozialmärchen am Ende die Guten über die Bösen siegen.
„Der Film ist ein Sinnbild dafür, wie sich viele Kinder zuhause fühlen – als Gefangene“, erklärte der Regisseur dazu.
Die Musik zu dem schauderhaften Horror-Märchen lieferten gleich zwei Komponisten, zum einen Don Peake, der für Craven bereits „Hügel der blutigen Augen“ vertont hatte, und Graeme Revell, der seine ersten Credits für Horrorfilme wie Tobe Hoopers „Fire Syndrome“ und „Chucky 2“ verdient hatte.
1991 fand auch die erfolgreiche „Nightmare“-Reihe ihr vorläufiges Ende. Doch der sechste Teil „Freddy’s Dead: The Final Nightmare“ bescherte Freddy Krueger einen mehr als enttäuschenden Abgang. Rechtzeitig zum zehnten Jubiläum des ersten „Nightmare“-Films wollte Wes Craven 1994 etwas Neues zur Serie beisteuern und entschied sich für eine Parodie auf sich selbst. Er ließ in „Freddy’s New Nightmare“ die drei Hauptdarsteller des originalen Films – Robert Englund, John Saxon und Heather Langenkamp – sich selbst spielen und entwickelte eine intelligente Film-im-Film-Thematik, in der die Dreharbeiten zu einem siebten „Nightmare“-Teil von Albträumen, Freddys Rückkehr und entsetzlichen Todesfällen überschattet werden.
Seeßlen/Jung resümieren in „Horror – Grundlagen des populären Films“:
„Während das Slasher Movie der Familie ein Zerrbild der eigenen Widersprüche zwischen Sexualität, Familie und Wahn entgegenhält, drehen sich die Filme der Nightmare-Art förmlich in den Familienroman. Als Zustandsbeschreibung werden sie zugleich genauer und milder, und so wie das Slasher Movie eine furchtbare Art der fundamentalen Moralisierung betreibt, erzeugt der Horrorfilm der Nightmare-Art eine Art der negativen Ideologie. Den Slasher kann man, allenfalls, überleben, Freddy Krueger muss bezwungen werden, indem man soziale und psychische Kompetent mobilisiert, er ist ein sehr schräger Pädagoge, der das seine tut, die amerikanische, bürgerliche Person zu formen. Das Mainstreaming dieser Horror-Figur beschreibt Robert Englund: ‚Die frühen Fans waren Punk-Rocker und Heavy-Metal-Freaks. Heute kommen sie aus allen Schichten: Rechtsanwälte, Star-Trek-Fans, Hardcore-Horror-Fans und Eltern, die 1984 ihr erstes Date im Autokino hatten und vor lauter Angst ein Baby produzierten.‘“ (Schüren, S. 660)
Zwar fuhr „Freddy’s New Nightmare“ einen Gewinn ein, enttäuschte aber alle Erwartungen der Beteiligten. Offensichtlich war das Zielpublikum mit der selbstreflexiven wie selbstironischen Geschichte noch überfordert. Zwei Jahre später ging ein ganz ähnliches Konzept mit „Scream“ allerdings wunderbar auf.
Zuvor sollte tat sich Craven keinen großen Gefallen, die Regie der Eddie-Murphy-Vampirkomödie „Vampire in Brooklyn“ zu übernehmen.
Als Wes Craven das Angebot bekam, für das kleine Major-Studio Miramax einen Horrorfilm mit Drew Barrymore in der Hauptrolle und vielen weiteren Jungschauspielern zu drehen, war er mehr als interessiert. Schließlich unterzeichnete Craven einen Deal über drei Filme, der neben einem möglichen Sequel zu „Scream“ auch einen Film ohne Genrebegrenzung enthielt.
Nachdem die ersten beiden „Scream“-Filme fett an den Kinokassen abgeräumt hatten, wollte Miramax natürlich gern gleich den dritten „Scream“-Film produzieren, doch Craven bestand auf der Einhaltung der Vertragsklausel, einen Film ohne Genrebegrenzung drehen zu dürfen, und erfüllte sich mit „Music Of The Heart“ einen Traum, nämlich eine zu Herzen gehende Geschichte über eine engagierte Geigenlehrerin (Meryl Streep), die schwarzen Kindern im Elendsviertel East Harlem mit ihrem Musikunterricht half, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln.
Zwar kehrte Wes Craven anschließend mit „Scream 3“ umgehend zu seinem Erfolgskind zurück, ließ sich anschließend aber Zeit, um den Werwolf-Flop „Verflucht“ (2005) zu inszenieren, der wie die komplette „Scream“-Reihe und alle weiteren Craven-Werke von Horror-Spezi Marco Beltrami („Mimic“, „The Faculty“) vertont wurde. In dem modernen Werwolf-Film spielen Christina Ricci und Jesse Eisenberg ein verwaistes Geschwisterpaar, das bei einer nächtlichen Heimfahrt in einen Autounfall gerät und von einem großen Tier angegriffen wird, das von dem Jungen gleich als Werwolf identifiziert wird. Tatsächlich verspürt das Mädchen bald Lust auf rohes Fleisch …
Das seit der „Scream“-Trilogie eingespielte Team Williamson/Craven kreierte mit „Verflucht“ einen ansehnlichen Schocker, bei dem auch der schwarze Humor nicht zu kurz kommt.
Mit „Red Eye“ drehte Craven zeitgleich einen Suspense-Thriller, in dem die aufstrebende Hotel-Managerin Lisa (Rachel McAdams) während der Wartezeit auf ihren Rückflug von Dallas nach Miami mit dem charismatischen Jackson (Cillian Murphy) flirtet. Doch während des Flugs lernt sie Jacksons dunkle Seite kennen, als ihr Sitznachbar sie nötigt, telefonisch ein einen Zimmertausch in ihrem Hotel anzuordnen, um so einen Anschlag auf einen Geschäftsmann zu ermöglichen – ansonsten löscht ein Killer das Leben ihres Vaters (Brian Cox) aus …
Mit seinem Beitrag „Père Lachaise“ zur Kurzfilm-Anthologie „Paris Je t’aime“ durfte sich Wes Craven anschließend von seiner romantischen Seite präsentieren. Ein Spaziergang über den berühmten Pariser Friedhof führt Frances (Emily Mortimer) vor Augen, dass ihr Verlobter William (Rufus Sewell) völlig humorlos ist. Als sie die Hochzeit platzen lassen will, lehrt der Geist von Oscar Wilde dem verschmähten Mann eine Lektion in Sachen Liebe und Poesie.
Mit dem in 3D gefilmten Teenie-Horror-Streifen „My Soul To Take“ kehrte Wes Craven im vergangenen Jahr zum Slasher-Genre zurück, indem er eine Gruppe 16-Jähriger an einem Seeufer niedermetzeln lässt. Bei der Kritik kam der Slasher nicht so gut weg:
Wes Craven ist seit den 70ern eine feste Größe im Slasher-Kino. ‚Das letzte Haus links‘ und ‚Hügel der blutigen Augen‘ haben sich tief ins Genre-Gedächtnis gebrannt, vor allem aber hat Craven mit Freddy Krueger (‚Nightmare - Mörderische Träume‘) eine Metzel-Ikone geschaffen, die neben haltlosen Sequels und Spin-Offs selbst das Platinum-Dunes-Remake ‚A Nightmare on Elm Street‘ überstanden und sich fest in der Popkultur etabliert hat. Wenn Wes Craven aber eines nicht ist, dann eine feste Größe im zeitgenössischen Horrorfilm. Die Themen heute, das sind die Vampir-Metapher (‚So finster die Nacht‘, ‚True Blood‘), der liebevolle Zombie-Ulk (‚Shaun of the Dead‘, ‚Zombieland‘), kontrovers diskutierter Torture Porn (‚Saw‘, ‚Hostel‘) und das neue Spiel mit Authentizität (‚Paranormal Activity‘, ‚Cloverfield‘). Es braucht schon eine zündende Idee, um dem überrumpelten Slasher-Genre in diesem Chor Gehör zu verschaffen. Seit 1994 (‚Freddy's New Nightmare‘) ist Craven nicht mehr als Regisseur und Autor zugleich aktiv gewesen. Mit dem 3D-Teenie-Horror ‚My Soul to Take‘ steigt er wieder ein und offenbart, dass er keinen Schimmer hat, wie er das Slasher-Motiv noch variieren oder zumindest engagiert inszenieren soll“, kanzelt Jan Hamm Wes Craven in seiner Kritik auf filmstarts.de ab.
Zum Glück hat Wes Craven mit „Scream 4“ wieder zu alten Tugenden zurück gefunden, aber dazu mehr in dem „Scream“-Special in der kommenden Stunde.

Filmographie:
1971: Together
1972: Das letzte Haus links (The Last House on the Left)
1975: Angela, the Fireworks Woman
1977: Hügel der blutigen Augen (The Hills Have Eyes)
1978: Night Kill - Eine tödliche Bedrohung (Stranger in Our House)
1981: Gesichter des Teufels/Tödlicher Segen (Deadly Blessing)
1982: Das Ding aus dem Sumpf (Swamp Thing)
1984: Exit - Ausgang ins Nichts (Invitation to Hell)
1984: Nightmare: Mörderische Träume (A Nightmare on Elmstreet)
1985: Chiller - Kalt wie Eis (Chiller)
1985: Im Todestal der Wölfe (The Hills Have Eyes Part II)
1985: The Twilight Zone (Unbekannte Dimensionen, Fernsehserie)
1986: Die Superdetektive/Eine Schnapsidee (Casebusters, Fernsehfilm)
1986: Der Tödliche Freund (Deadly Friend)
1988: Die Schlange im Regenbogen (The Serpent and the Rainbow)
1989: Shocker
1990: Das Grauen hat viele Gesichter (Night Visions, TV-Pilotfilm)
1991: Das Haus der Vergessenen (The People Under the Stairs)
1992: Nightmare Cafe (Fernsehserie)
1994: Freddy’s New Nightmare (Wes Craven’s New Nightmare)
1995: Vampire in Brooklyn
1996: Scream – Schrei! (Scream)
1997: Scream 2
1999: Music of the Heart
2000: Scream 3
2005: Verflucht (Cursed)
2005: Red Eye
2006: Paris, je t’aime (Segment „Père Lachaise“)
2010: My Soul to Take
2011: Scream 4

Playlist:
1 Charles Bernstein - Main Title (A Nightmare On Elm Street) - 03:29
2 Don Peake - M1-1 (The Hills Have Eyes) - 03:20
3 James Horner - Finale/End Credits (Deadly Blessing) - 04:05
4 Charles Bernstein - BB's Theme (Deadly Friend) - 02:05
5 Brad Fiedel - End Credits (The Serpent And The Rainbow) - 05:10
6 Graeme Revell - Suite Part One (The People Under The Stairs) - 02:42
7 Don Peake - Suite (The People Under The Stairs) - 05:29
8 J. Peter Robinson - Prologue/Theme From Nightmare Cafe (Nightmare Cafe) - 02:52
9 J. Peter Robinson - The Park (Freddy's New Nightmare) - 03:38
10 Marco Beltrami - Trouble In Woodsboro/Sidney's Lament (Scream) - 03:27
11 Marco Beltrami - Stage Fright Requiem (Scream 2) - 02:07
12 Marco Beltrami - Sid Wears A Dress (Scream 3) - 02:48
13 Marco Beltrami - Love Theme (Cursed) - 02:39
14 Marco Beltrami - Takeoff (Red Eye) - 02:52
15 Marco Beltrami - The Ripper Talks (My Soul To Take) - 04:03

Playlist # 58 vom 08.05.11 - "Scream"-Special

„Was ist dein Lieblingshorrorfilm?“ Mit einem Anruf und einer Stimme, die man nie mehr vergisst, begann die grausame Mordserie in Woodsboro, die „Scream“ 1996 zu einem der erfolgreichsten Horrorfilme aller Zeiten machen sollte. In seiner ironischen „Halloween“-Variante ließ Freddy-Krueger-Erfinder Wes Craven gut aussehende Mädchen und hübsche Jungs durch irre Serienkiller niedermetzeln.
Zuvor fristete das Teenie-Slasher-Genre bereits seit Jahren ein Schattendasein in den Videotheken. Nachdem Freddy Krueger, Michael Myers, Jason Vorhees und andere Masken tragende Psychopathen in den 80ern grausame Schrecken auf den Kinoleinwänden verbreiteten , zu Ikonen ihres jugendlichen Publikums wurden und den Teen-Horror als ernstzunehmendes Genre etablierten, haben sich die ewig gleichen Geschichten mit meist talentfreien Jungdarstellern und uninspirierten Autoren/Regisseuren ausgelebt.
„Scream“ war erfrischend anders, gleichzeitig eine Horror-Hommage und Erneuerung des Genres. Kevin Williamson, der das Drehbuch in nur drei Tagen verfasste, nachdem er das Haus eines Freundes gehütet und dort ein gruseliges Geräusch vernommen hatte, ist im Gegensatz zu Wes Craven von Jugend an ein begeisterter Filmfreak gewesen, der eine große Bewunderung für Schocker wie „Das Grauen kommt um 10“, „Prom Night“, „Monster im Nachtexpress“ und natürlich John Carpenters wegweisenden Slasher „Halloween“ hegte. 
Williamson ignorierte jedes übernatürliche Element und siedelte den Horror ganz real in einer idyllischen High-School-Umgebung an, in der ein psychopathischer Killer mit stilisierter Edvard-Munch-Maske und schwarzem Gewand bis zum Schluss seine Identität zu verbergen versteht und bis dahin unter den Jugendlichen Angst, Schmerz und Tod verbreitet.
In der beeindruckenden Eröffnungssequenz muss die hübsche Casey (Drew Barrymore) am Telefon ein Horrorfilm-Ratespiel über sich ergehen lassen, an dessen Ende sie selbst und ihr Freund auf grausame Weise ums Leben kommen. Als die Morde an der nahe gelegenen High School weitergehen, gerät vor allem Caseys beste Freundin Sidney Prescott (Neve Campbell) ins Visier des Killers. Was „Scream“ dabei von seinen Vorgängern unterscheidet, ist seine enorme Selbstreflexion. Nachdem die Eingangsszene eine Reminiszenz an Fred Waltons „When A Stranger Calls“ (1978) darstellte, werden immer wieder ganz offen Genrefilme zitiert, und die jugendlichen Protagonisten kennen ganz genau die Regeln des Genres: Regel Nummer eins - Du darfst keinen Sex haben, denn Sex bedeutet Tod. Regel Nummer zwei – Kein Alkohol und keine Drogen! Das alles fällt unter Sünde. Regel Nummer drei – Sag‘ nie: „Ich komme gleich wieder!“ Denn du kommst nicht wieder!
Am Ende bricht Wes Craven auf überraschende Weise die Konventionen des Genres, als er keinen psychopathischen Außenseiter oder eine bösartige Kreatur aus der Hölle als Killer präsentiert, sondern mit Billy und Stuart zwei bodenständige Jungs aus der High-School-Clique, die Vergeltung für die Affäre zwischen Billys Vater und Sidneys Mutter üben wollten, die Billys Familie auseinanderbrechen ließ.
„Dass der Mörder ein durchgeknalltes Scheidungskind ist (das die denkwürdige Aufarbeitung seines Verlustes mit der Vergewaltigung und Ermordung von Sidneys Mutter begann), dass sich der Mithilfe eines kichernden (und seinerseits einigermaßen Mutter-geschädigten) Horrorfans versichert, ist zugleich Fortsetzung der Genre-Mythologie und Desillusionierung. Die Bedrohung, soviel ist sicher, kommt weder von einem metaphysischen noch einem sozialen Jenseits, sondern aus der Mitte der weißen mittelständischen Jugendkultur selber“, resümieren Georg Seeßlen und Fernand Jung in „Horror – Grundlagen des populären Films“ (Schüren, S. 788).
„Scream“ spielte in kurzer Zeit das Zehnfache seines Produktionsbudgets von 12 Millionen Dollar ein und rehabilitierte Wes Craven nach etlichen durchwachsenen Filmen wieder als ernstzunehmenden Horror-Regisseur. Schon ein Jahr später ließen Craven und Williamson das obligatorische Sequel folgen.
Die Reporterin Gale Weathers (Courteney Cox) hat ihre Erlebnisse um die Woodsboro-Morde in einem Buch verarbeitet, das nun für das Kino adaptiert werden soll. Währenddessen studieren Sidney und Randy, die das Massaker von Woodsboro überlebt haben, an der Filmhochschule und müssen erleben, dass erneut ein Serienkiller sein Unwesen treibt.
Williamson/Craven statteten „Scream 2“ wieder mit etlichen Selbstbezügen aus, arbeiteten mit Gaststars aus populären TV-Serien wie „Dawson’s Creek“ (Joshua Jackson) und „Buffy“ (Sarah Michelle Gellar) und ließ seine Protagonisten über den Sinn von Sequels diskutieren.
„Wir wollten uns von der Idee des Originals verabschieden, Kommentare über andere Schocker und Thriller abzugeben. Gleichzeitig war es uns wichtig anzuerkennen, dass wir mit ‚Scream 2‘ eine Fortsetzung drehen. Eines der Themen mussten also Sequels selbst sein“, meint Wes Craven dazu.
Zwar erreichte „Scream 2“ längst nicht mehr die Qualität des Vorgängers, spielte aber ebenso viel ein und ließ natürlich ein weiteres Sequel folgen, bei dem Kevin Williamson nur noch als Executive Producer tätig war, weil er an seinem Regiedebüt „Tötet Mrs. Tingle“ arbeitete. Das Drehbuch überließ er mit seinem eigenen 30-Seiten-Treatment Newcomer Ehren Kruger.
Auch im dritten Teil darf sich die tugendhafte Sidney glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Ihre Mitmenschen haben oft weniger Glück.
Während in den Sunrise Studios der dritte „Stab“-Film realisiert wird, metzelt ein Killer die Crew nieder. Wes Craven inszenierte mit „Scream 3“ sowohl ein Prequel, das die Geschichte von Sidneys ermordeter Mutter Maureen aufarbeitet, als auch eine wieder vor Ironie strotzende Fortsetzung, die einen Blick hinter die Kulissen der Horrorindustrie wirft.
Mit dem Erfolg der „Scream“-Reihe erblickte eine Vielzahl von ähnlichen Filmen das Licht der Leinwand. „Scream“-Autor Kevin Williamson schrieb auch die Drehbücher zu „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ (1997) und „The Faculty“ (1998), andere Highlights waren „Düstere Legenden“ (1998) und „Dich kriegen wir auch noch!“ (1998).
„Der Teen-Horrorfilm der Jahrtausendwende ist die ironisch-milde Mischung aus den expliziten Leinwandgrausamkeiten der Vorjahrzehnte und dem schäbigen Charme des frühen Gruselkinos, wo Türen in Schlössern rütteln, Vorhänge wehen, Frauen in riesige Spinnennetze stolpern und plötzlich das Kerzenlicht erlischt. Das moderne Schauerkino ist abgebrühter als seine klassischen Vorbilder und plündert respektlos Motive und Storyelemente aus der kurvenreichen Geschichte des internationalen Gruselfilms. Zwar schreien sich die Kiddies immer noch mit weit aufgerissenen Augen die Lunge aus dem Hals, auf den Filmplakaten wirken sie jedoch ruhig und gefasst: Fast könnte es sich um Werbung für Unterwäsche handeln, wäre da nicht noch ein Killer im verschmierten Regelmantel mit einem Messer abgebildet. Im Gegensatz zu frühen Kreischdarstellerinnen wie etwa Tippi Hedren in ‚Die Vögel‘ oder Janet Leigh in ‚Psycho‘ wirken die neuen ‚Scream Queens‘ Neve Campbell und Jennifer Love Hewitt kühl und abgeklärt. Die Plakate spielen mit ‚soften‘ Sex- und Erotikfantasien und präsentieren die Darstellerinnen in weißer Spitzenunterwäsche mit leicht geöffnetem Mund“, stellen Rüdiger Dirk und Claudius Sowa in ihrem Buch „Teen Scream“ (Europa, S. 11) fest.
2009 wurde bekannt, dass Wes Craven eine neue „Scream“-Trilogie plant. Mit „Scream 4“ knüpft der Horror-Meister zwar nicht nahtlos an den Erfolg der ursprünglichen „Scream“-Trilogie an, aber solide Horror-Unterhaltung bietet der Film allemal.
In Woodsboro ist nach den schrecklichen Ereignissen von vor fünfzehn Jahren wieder Ruhe eingekehrt. Mittlerweile haben (wie ihre Darsteller im wirklichen Leben) Dorfpolizist Dwight Riley (David Arquette) und die ehemalige Reporterin Gale Weathers (Courteney Cox) geheiratet, Sidney Prescott (Neve Campbell) kehrt zum Jahrestag der Morde als gefeierte Buch-Autorin in ihre Heimat mit sehr gemischten Gefühlen zurück. Wie berechtigt ihre Sorgen sind, müssen Woodsboros Bewohner und Sidneys noch lebenden Verwandten bald am eigenen Leib erfahren, als ein neuer Killer für Schrecken sorgt.

Wes Craven und der zur Serie zurückgekehrte Autor Kevin Williamson spielen auch in ihrem neusten Streich mit den Regeln und Strukturen des Slasher-Genres, halten die Identität des Killers bis zum Schluss geheim, doch haben sie auch etliche interessante Neuerungen eingeführt. So wird der Kreis der Verdächtigen viel schneller dezimiert, und es geht weitaus härter zur Sache, als man es aus der ersten „Scream“-Trilogie gewohnt ist.
In allen „Scream“-Filmen spielt natürlich Musik eine große Rolle, schließlich sind Teenager zugleich Protagonisten und Zielpublikum. Insofern überrascht weniger, dass zu allen bisher erschienenen „Scream“-Filmen Song-Compilations mit sehr bunt gemischten Rock-Songs veröffentlicht wurden, als der Umstand, dass auch alle Scores von Cravens Stamm-Komponist Marco Beltrami („Red Eye“, „Verflucht“, „My Soul To Take“) erhältlich sind.
Für den ersten „Scream“-Soundtrack vereinten die Filmemacher noch so unterschiedliche Tracks wie die eher unbekannten Coverversionen von Alice Coopers „School’s Out“ durch The Last Hard Men und The Icicle Works‘ „Whisper To A Scream“ durch SoHo, sphärischen Pop von Julee Cruise, Electro von Moby, Alternative Pop/Rock von Nick Cave, Gus und Republica bis hin zu härteren Tönen von Sister Machine Gun und Birdbrain. Teil 2 wies da schon eine etwas homogenere Mixtur auf, vereinte Rock-Größen wie Foo Fighters, Everclear und erneut Nick Cave, darüber hinaus etliche Newcomer wie Less Than Jake, Ear2000 und Collective Soul.
Den dritten Teil produzierten die Hardrocker von Creed, die selbst mit den beiden Songs „What If“ und „Is This The End“ auf dem Soundtrack vertreten waren und sich ein Stelldichein mit angesagten Metal- und harten Rock-Acts wie Slipknot, Staind, Powerman 5000, Godsmack und System Of A Down gaben. Dagegen fällt der Soundtrack zu „Scream 4“ enttäuschend unspektakulär aus. Einzig die schwedischen Indie-Rocker The Sounds können mit ihren beiden Tracks „Something To Die For“ und „Yeah Yeah Yeah“ punkten, der Rest ist meist nicht weiter hörenswert.

Playlist:
1 Birdbrain - Youth Of America (Scream) - 03:00
2 Collective Soul - She Said (Scream 2) - 04:50
3 System Of A Down - Spiders (Scream 3) - 03:35
4 Creed - What If (Scream 3) - 05:18
5 Foo Fighters - Dear Lover (Scream 2) - 04:32
6 SoHo - Whisper To A Scream (Scream) - 05:13
7 Eels - Your Lucky Day In Hell (Scream 2) - 04:25
8 The Sounds - Something To Die For (Scream 4) - 03:42
9 Creed - Is This The End (Scream 3) - 06:15
10 Marco Beltrami - The After-After Party (Scream 4) - 03:15
11 The Sounds - Yeah Yeah Yeah (Scream 4) - 03:31
12 Nick Cave & The Bad Seeds - Red Right Hand (Scream 2) - 08:22

Sonntag, 24. April 2011

Playlist # 57 vom 24.04.11 - IN THE NURSERY Special (1)

Die Sheffielder Zwillingsbrüder Klive und Nigel Humberstone zählen mit ihrer Band In The Nursery seit über 25 Jahren zu den musikalisch eigenständigsten Acts der Independent-Szene und haben sich mit ihren stimmungsvollen, atmosphärischen, zwischen Neoklassizismus, modernen Soundtrack-Klängen und organisch wirkenden Elektro-Arrangements mittlerweile auch einen respektablen Ruf als Komponisten von vor allem Stummfilm-Scores erspielt.
Nachdem die Zwillingsbrüder Klive und Nigel Humberstone bereits seit dem zarten Alter von 15 Jahren gemeinsam Musik gemacht hatten, wobei sie ihren frühen Enthusiasmus in Garagen und auf Schulfeten auslebten, zogen sie zum Studieren nach Sheffield und trafen dort mit Anthony Bennet zusammen, der sie in ihrem Bemühen unterstützte, ihre musikalischen Ambitionen stärker auszuformen.
1981 wurde In The Nursery mit der Idee gegründet, Musik mit dem Interesse für Psychologie, Kunst, Literatur und Film zu verbinden.
Das 83er Debüt-Mini-Album „When Cherished Dreams Come True“ bot noch ein unausgewogenes Konglomerat aus rauen Wave- und Punk-Rock-Klängen, wobei der Einsatz von Drums, Bass, Gitarre, Gesang und Military Drums noch sehr ungeschliffen und minimalistisch klang.
Doch schon auf der 1985 veröffentlichten EP „Temper“ haben In The Nursery den Großteil der akustischen Arrangements gegen elektronisches Instrumentarium eingetauscht, um vor allem filmmusikalische Stimmungen wie bei „Arm Me Audacity“, Industrial-Sounds und Streicherimitate zu erzeugen.
Es dauerte bis 1986, ehe ITN ihr Debütalbum "Twins" veröffentlichten, ein Album, das eine kuriose, aber erfrischende Mischung aus neoklassizistischen, Punk- und Rock-Elementen bot, krachige Bass- und Gitarrenriffs mit leisen Pianoklängen und vielschichtige Rhythmen mit facettenreichen Vocals verband. 
"Wenn ich zurückblicke, muss ich im Nachhinein zustimmen, dass da eine Menge an Einflüssen mitspielte. Wir haben ständig versucht, unsere Ideen zu einer originellen Ausdrucksform zu bringen", versucht Klive das eigenwillige Konglomerat an musikalischen Stilen zu erklären. "Kurz vor den Aufnahmen zu `Twins´ entschied sich Anthony, die Band zu verlassen und an seinen eigenen Ideen zu arbeiten, so dass wir erstmals die Möglichkeit hatten, die Freiheit zu genießen, als Brüder, als Zwillinge zusammenzuarbeiten. Ich erinnere mich, dass wir gerade die Hälfte der Songs geschrieben hatten, so dass viel von dem Album im Studio selbst entstanden ist. Die Unschuld und die Lust am Experimentieren ist auf dem Album dokumentiert."
Aber auch der für In The Nursery später so charakteristische Military-Percussion-Sound erfuhr hier bereits seine ersten markanten Ausprägungen.
"Wir haben die Military Snare Drums schon für unsere allerersten Aufnahmen benutzt", erzählt Klive. "Der anfängliche Reiz dabei wurde dadurch ausgelöst, dass eine in einem Second Hand-Laden zum Verkauf stand. Wir waren nie mit dem konventionellen Drum-Set-up zufrieden, also benutzten wir die stehende Snare Drums als Alternative. Ähnlich verhielt es sich mit den Pauken. Wir sahen den kraftvollen Effekt, den sie klassischer Musik verliehen, und wollten diesen mit unserer Musik verbinden, indem wir orchestrale Percussions in das Zentrum unserer Rhythmen stellten. Die klassischen Einflüsse hielten Einzug, als wir die Frustration bei dem Versuch verspürten, die Musik, die wir in unseren Köpfen hörten, allein mit Bass und Gitarre umzusetzen. Eines Tages legten wir uns ein Logan Streichermaschinenkeyboard zu - und die Möglichkeiten erschienen nun weitaus größer. Wir wurden ins digitale Sampling und die Möglichkeiten, authentische Sounds eines ganzen Orchesters mit dem Keyboard zu erzeugen, eingeführt, und die Aussichten waren grenzenlos!"
Das 87er Album "Stormhorse" präsentierte dann den voluminösen, überwiegend neoklassizistischen Orchestersound, den In The Nursery danach nur noch auszufeilen und zu akzentuieren brauchten, aber das Konzept, auf elektronischer Basis satte Streicherarrangements zu kreieren und sie mit dichten Percussionryhthmen zu verbinden, stand.
Mit der Sängerin Dolores Marguerite C. und dem Drummer Q. , zwei alten Freunden, vervollständigte sich nicht nur das Set-up, das über Jahre hinweg Bestand haben sollte, sondern wurde auch der Sound perfektioniert.
Nicht von ungefähr haben In The Nursery das Album als „original soundtrack to the film“ untertitelt, denn die oft rein instrumentalen Kompositionen waren mit den eindringlichen Harmonien und den gefühlvollen, mystisch-sinfonischen Arrangements aus satten Streichern, vielschichtigen Percussions und sanft wogenden Keyboard-Sequenzen von subtiler Imaginationskraft gezeichnet.
Obwohl In The Nursery mittlerweile gerade auf Grund ihrer Stummfilmneuvertonungen gerne in das Filmmusikgenre abgelegt werden, steht doch nach wie vor der rein atmosphärisch dichte und so assoziative Charakter ihrer Musik im Vordergrund.
„Der wichtigste Grund für uns, Musik zu machen, ist es nicht, Soundtrack-Scores zu schreiben“, wehrt sich auch Klive. „Ich denke, der Musikstil, der uns am meisten inspiriert, ist das Filmscore-Genre, weil es eine Vielzahl von Emotionen umfasst und perfekt ist, um Atmosphären auszudrücken, die von epischer Pracht bis zum traurigsten und romantischsten Moment reichen. Musik stellt für uns eine Sprache zur Beschreibung unserer Gefühle dar, um solche Momente festzuhalten, die uns Tag für Tag berühren.“
Mit dem Motto von "Stormhorse" - "Man has to believe in myths. Like wisdom, myths foretell the destiny of man." - wurde zudem deutlich, in welchen Rahmen ITN ihre musikalischen Ideen stellen. "Mythologie ist ein Mittel zur Kommunikation", meint Klive. "Geschichten werden über Jahre hinweg erzählt; sie erinnern uns auch an die Kraft, die wir alle besitzen: die Fähigkeit des Verstandes, sich Erinnerungen zurückzurufen. Einbildungskraft ist die größte menschliche Gabe, die wir besitzen, und Musik kann ein Kanal für diese Vorstellungen sein."
Mit dem 88er Album "Köda" legten ITN ein fast schon sinfonisches Konzeptalbum vor, wobei die Intensität, mit der die Band ihre Emotionen musikalisch umsetzte, ihr bald das Image von Neo-Romantikern einbrachte, obwohl Klive wenig mit dieser Etikettierung anfangen kann: "Der Ausdruck  'Neo-Romantiker' hat uns verblüfft, auch wenn  wir mit unserer Musik höhere Gefühlsebenen erreichen wollen. Sicher weist viel von unserem Material eine zeitlose Qualität auf, die die Erfahrungen und das Streben der frühen romantischen Poeten reflektiert. Aber der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die Gründe für uns, Musik zu machen, nicht für sich beanspruchen, eine gottähnliche Erfüllung zu leisten, sondern allein, die Seele zu erfreuen."
Mit ihren Folgealben "L´ Esprit" (1990) und "Sense" (1991) vervollkommnten In The Nursery ihren Weg zu feinfühligen klassischen Inhalten und Ausdrucksformen mit sorgfältig inszenierter atmosphärischer Dichte.
"Unsere Musik ist momentan wie ein Filmsoundtrack angelegt, deshalb klingt sie so klassisch. Denk nur an die vielen Filmmusiken mit Streichern. Wir wollten immer 'independent music' im eigentlichen Sinne machen und darin wollten wir klassische Elemente so gut wie möglich miteinbeziehen", meint Klive. "Ein Orchester kann  eine  Sinfonie von vielleicht über vierzig Minuten einspielen, wobei sie in drei oder vier Abschnitte eingeteilt wird. Diese Leidenschaft, diese emotionale Intensität wollten wir auch in unsere Musik übertragen.
Wir schreiben allerdings keine Sinfonien, sondern nur kurze Stücke."
Obwohl In The Nurserys Musik viel von einem Orchestersound hat, kommt die Band nicht ganz ohne Elektronik aus. Nigel erläutert, wie Technologie und originale Instrumente bei In The Nursery zusammenwirken: "Wir benutzen die Technologie, um exakt das auszudrücken, was wir empfinden. Natürlich würden wir lieber mit einem Orchester arbeiten, aber unsere finanziellen Mittel sind leider begrenzt. Mit Samples ist man keinerlei Beschränkungen unterworfen und es lässt sich live besser reproduzieren."
Ihr Album "Sense" wurde mit einem langen Untertitel versehen: "To cure the soul by means of the senses and the senses by means of the soul".
"Wir wollen damit ausdrücken, was mit einem passiert, wenn man Musik  macht und der Musik von anderen Leuten zuhört. Es ist ein plötzliches Gefühl von Freude, das einen dabei durchströmt. Um sich richtig wohlzufühlen, braucht man Eindrücke von außen, das, was man mit Fingern, Augen, Mund und Ohren aufnimmt. Bei uns steht das Hören von Musik natürlich im Vordergrund, aber darüber hinaus sind auch die Imaginationen gemeint, die damit einhergehen."
Nachdem In The Nursery mit ihren Studio-Alben ihre Qualitäten in dieser Hinsicht weitreichend unter Beweis gestellt hatten, bekamen sie 1993 tatsächlich den Auftrag, mit „An Ambush Of Ghosts“ den Soundtrack zu einem Film von Everett Lewis mit Stephen Dorff, Genevieve Bujold, Anne Heche und David Arquette in den Hauptrollen zu komponieren. Das Psycho-Drama, in dem ein Teenager versucht, die Ermordung seines Bruder durch seine Mutter, bei der er Zeuge gewesen ist, zu verarbeiten und weiterhin den Familiensegen zu wahren, unterlegten die beiden Zwillingsbrüder mit einem elegisch-melancholischen Score, der erstmals ausgiebig von der Oboe Gebrauch machte, die bis heute zu den beliebtesten Akustik-Instrumenten der Band zählt. Für In The Nursery ging mit diesem Soundtrack auf jeden Fall ein lang gehegter Traum in Erfüllung.

„Ich denke, die größte Herausforderung und Spannung lag für uns darin, Musik zu komponieren, die mit realen Bildern funktionieren musste und nicht mit denen unserer Vorstellung“, meint Nigel. „Ich glaube, wir hatten wirklich Glück, mit ‚An Ambush Of Ghost‘ unseren ersten Filmscore komponieren zu dürfen – der Film ist ein intensives und tiefes psychologisches Drama, das viele Aspekte und Eigenheiten reflektiert, die in unserer Musik evident ist.
Als wir den Film gesehen hatten, war es offensichtlich, dass unsere Musik perfekt dazu passte, und wir mussten uns keine Sorgen machen, irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen. Der Regisseur hatte sehr präzise Ideen, wie der Film fotografiert werden sollte. Er wollte nur natürliches Licht verwenden und beschrieb Szenen, die, obwohl sie im modernen Los Angeles spielten, den malerischen Gebrauch von Licht und Schatten wie in den Werken Caravaggios herauf beschworen. Ein ähnlicher Stil wurde in den musikalischen Score eingebettet, indem die Gefühle von intensiver persönlicher Angst der Hauptdarsteller ausgedrückt wurden.“
"Für den Soundtrack arbeiteten wir größtenteils in der gleichen Weise, wie wir das sonst auch tun. Diesmal hatten wir nur den zusätzlichen Vorteil, mit einem bestimmten Bild zu arbeiten", erzählt Klive. "Die definitive Version des Films wurde uns auf Video zugeschickt, und wir mussten ihn auf die Musik in unserem Studio abstimmen. Vorher hatten wir Everett Lewis in Los Angeles besucht und besprachen mit ihm verschiedene Szenen durch, welche Stimmungen dazu benötigt wurden. Für uns war es ein frisches Herangehen, aber uns war der Umstand behilflich, dass Everett einen Film gemacht hatte, der quasi auf unseren Musikstil zugeschnitten war."
Den tanzbarsten Titel des Soundtracks, der neben neuem Material auch remixte Songs vom "Sense"- und "Duality"-Album enthielt, wurde als Maxi ausgekoppelt: "Hallucinations?" reflektiert schon thematisch den emotionalen Charakter des Films, musikalisch präsentieren sich ITN allerdings auf ungewohnt leichtfüßig-tanzbare Weise.
1994 erschien mit "Anatomy Of A Poet" ein musikalisch wie thematisch sehr in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk: "Das Konzept beruht auf der selbstzerstörerischen Natur von kreativen Künstlern. Mit dem Album versuchen wir die vielseitigen Aspekte von Künstlern, seien sie Poeten, Komponisten oder Schriftsteller, zu analysieren. Wir haben den Schriftsteller Colin Wilson zuhause in Cornwall besucht und ihn dabei aufgenommen, wie er einige seiner Lieblingspoesie rezitiert: Dowson, Yeats, Wilde und Byron. Die Rezitationen von romantischer Poesie sind besonders relevant für uns; sie verstärken eine Menge der Themen, die wir versuchen auszudrücken. Zum ersten Mal haben wir ein Konzept für unser Album formuliert und geplant."
Seitdem haben In The Nursery neben ihren immer öfter konzeptionell angelegten Werken wie „Anatomy of a Poet“, „Deco“ und „Lingua“ neue Filmmusiken gerade für expressionistische Stummfilmklassiker der 20er Jahre komponiert. Ihre erste Fingerübung war 1996 Robert Wienes „Das Cabinett des Dr. Caligari“.
Das Metro Cinema in Derby, einer ca. 50 km südlich von Sheffield liegenden Stadt, beauftragte Klive und Nigel, zu einer einmaligen Vorführung des 1919 inszenierten expressionistischen Stummfilmklassikers eine moderne Musik zu komponieren. Nicht nur die Geschichte über den bösen Rummelplatz-Magier Dr. Caligari, der den schlafwandelnden Cesare beauftragt, nachts Leute umzubringen, musste die beiden Musiker faszinieren, auch der Umstand, dass der Film erstmals die Möglichkeit des Mediums aufzeigte, entgegen des melodramatischen Realismus zu jener Zeit eine total subjektiv eingefärbte Welt zu kreieren. Die besondere Herausforderung musste für In The Nursery natürlich vor allem darin bestehen, einem Klassiker der Filmgeschichte, der vor allem das Horror- und Fantasy-Genre nachhaltig beeinflussen sollte und bislang sehr gut ohne musikalische Untermalung auskam, das adäquate musikalische Ambiente zu verleihen, das zwar auf seine Weise modern klingen sollte, aber nicht die dem Film eigene Faszination unterlaufen durfte.
„Zu ‚Caligari‘ wurde zu jener Zeit nie ein Score komponiert. Die Produzenten haben nur empfohlen, verschiedene Musikstücke dazu zu spielen, z.B. von Stravinsky und Schönberg. Wir haben uns mit dem Film und seiner Geschichte beschäftigt, und er war ziemlich revolutionär zu seiner Zeit, aber wir wollten uns nicht zu sehr in die musikalische Seite vertiefen, einfach weil wir ihm eine moderne Interpretation verleihen wollten, indem wir hypnotisches Summen und unterschwellige Sachen benutzten. Wir haben nicht viele orchestrale Sounds verwendet, stattdessen ist die Musik eher ambient und fast industrial, weil uns der Film diese Atmosphäre vermittelte“, erklärt Nigel. 
Tatsächlich ist der einstündige Soundtrack ein ungewöhnlich ruhiges ITN-Werk, selten rhythmisch, dafür gefühlvoll und sehr intensiv im schwebenden Ambiente von halluzinativen Synthi-Arrangements und expressiv-eindringlichen Sound-Collagen. Die beiden Musiker waren von ihrer Arbeit derart positiv überrascht, dass sie sich entschieden, den Soundtrack auch zu veröffentlichen und mit „Optical Music Series“ gleich eine Reihe auf ihrem Label zu gründen, die für die weiteren Filmprojekte von In The Nursery reserviert ist. Die Art und Weise, wie Klive und Nigel die Musik zum Film geschrieben haben, erklärt letzterer wie folgt:
„In Stummfilmen müssen die Emotionen und Intentionen durch das Handeln der Schauspieler transportiert werden. Das muss man in der Musik reflektieren. Wir mussten die Emotionen und den Handlungsablauf berücksichtigen, indem wir z.B. wiederkehrende Themen und Texturen verwendeten, die die Charaktere repräsentierten. Das wird auch in modernen Filmen gemacht, aber in Stummfilmen ist es offensichtlicher. Wir arbeiteten mit einer Video-Roh-Kopie, stellten uns einen Monitor in unser Studio und spielten zu den Szenen. Die aufgenommenen Stücke wurden dann zu einem zusammenhängenden Score zusammengesetzt. Mit einem Macintosh-Computer und Logic Audio Software wurde die Musik ‚fein abgestimmt‘.“
Dass sich der Score zu „The Cabinet of Doctor Caligari“ musikalisch an das ITN-Nebenprojekt Les Jumeaux anschließt, kommt dabei nicht von ungefähr.
„Wir haben mit der Arbeit an dem Score damit begonnen, dass wir einige Stücke von unserem Les-Jumeaux-Projekt verwendeten“, klärt Nigel auf. „Der Stil der Musik war eigentlich ideal dafür, benötigte nur einige Veränderungen und Neu-Arrangements. Überwiegend haben wir viele unterschwellige und hypnotische Sound-Texturen benutzt, wobei wir besonderen Gebrauch von der Modulation sowie wiederkehrenden Themen und Motiven machten. Die gesamte Atmosphäre des Films ist dunkel, aber mit traurigen Untertönen, die wir ebenso berücksichtigen mussten.“

Playlist:
1 In The Nursery - Arm Me Audacity (Counterpoint) - 03:40
2 In The Nursery - Portamento (Stormhorse) - 04:54
3 In The Nursery - Ascent (Köda) - 07:06
4 In The Nursery - L'Esprit (L'Esprit) - 03:46
5 In The Nursery - Seraphic (Scatter) - 04:26
6 In The Nursery - Blue Religion (Sense) - 04:23
7 In The Nursery - Corruption (Duality) - 04:58
8 In The Nursery - Hallucinations? (An Ambush Of Ghosts) - 03:11
9 In The Nursery - Paper Desert (An Anatomy Of A Poet) - 05:09
10 In The Nursery - Caprice (Deco) - 05:03
11 Les Jumeaux - Cuflo (Feathercut) - 05:09
12 In The Nursery - Crepuscule (Blind Sound) - 04:21

Playlist # 57 vom 24.04.11 - IN THE NURSERY Special (2)

Mit „Lingua“ präsentieren ITN 1998 ein außergewöhnliches Konzeptalbum, das einmal mehr von unwiderstehlichen Melodien und visuell anregenden Klang-Atmosphären geprägt ist. Doch obwohl die wundervoll leicht schwebenden Tracks überwiegend rein instrumentaler Natur sind, haben Klive und Nigel die Sprache in den thematischen Mittelpunkt des Werkes gestellt.

„Während unserer Karriere haben wir verschiedene Sprachen innerhalb der Musik von ITN in früheren Aufnahmen benutzt, vor allem Französisch, aber auch Italienisch ('Epigraph'), Mandarin ('Shin Tiao' mit Les Jumeaux) und etwas Japanisch ('Blind Me') und Deutsch ('And Your Eyes')“, erklärt Nigel. „Es ist schwierig zu sagen, wann genau die Idee entstand, aber ich kann mich noch genau erinnern, dass ich über das Konzept kurz nach Beendigung des 'Deco'-Albums nachgedacht habe. Von dem Augenblick an begann die Bedeutung und der Ansatz für das Album 'Lingua' zu wachsen, indem einige Ideen eingefügt und andere ignoriert wurden. Aber es ist schwierig, seine Aktionen zu analysieren, weil wir immer instinktiv gehandelt haben und das taten, was wir für richtig hielten.
Ich nehme an, ein Aspekt, den ich herausstellen wollte, war die enorme Bedeutung der Sprache und ihre Wichtigkeit in unserer Entwicklung, sowohl als Menschen als auch als Individuen, egal aus welchem Teil der Welt. Dabei sollte deutlich werden, dass die universale und globale Sprache der Musik eine der größten Ausdrucks- und Kommunikationsformen ist.“
Wie immer haben In The Nursery ihrem Album ein Motto („language makes thought possible, for language is thought“) vorangestellt, das dem Hörer schon vor dem Eintauchen in das akustische Universum, das In The Nursery stets eindrucksvoll zu kreieren wissen, eine Ahnung von dem vermittelt, vor welchem geistigen Hintergrund die Musik entstanden ist. 
„Die Integration einer kurzen Phrase ist ein wenig zur Tradition bei In The Nursery geworden und reicht bis zur 84er Single 'Witness (to a scream)' zurück, wurde aber erst seit dem 87er Album 'Stormhorse' mit 'Man has to believe in myths. Like wisdom, myths foretell the destiny of man' eingesetzt“, erläutert Nigel.
„Als ich die Entscheidung verfolgte, ein Album zusammenzustellen, das sich um die Sprache dreht, begann ich eine Menge Bücher zu lesen und zu studieren, die die Geschichte, Entwicklung, Phonetik und Semantik der Sprache behandelten. Eine der interessantesten theoretischen Debatten dreht sich dabei um die Ursprünge der Sprache an sich und ihrer Fähigkeit, Gedanken zu kommunizieren.“
Nachdem das theoretische Gerüst manifestiert war, machte man sich an seine musikalische Untermauerung. Es ging dabei für In The Nursery nicht darum, die gewohnt instrumentalen Kompositionen zwanghaft mit Texten zu versehen, sondern die Sprache als Inspiration für die eigene Musik zu verwenden. Dabei bedienten sich Klive und Nigel verschiedener Ansätze. So komponierten sie beispielsweise die Musik für „I Ask for Grace“ und „The Living Tongue“, bevor sie dann Tapes integrierten, die sie von Freunden aus Mexico City erhalten haben. Für „The Living Tongue“ verarbeitete man Texte aus dem „Popul Vuh“, einem der ältesten Schriftdokumente. Auch für „Poema“ und „Mute Harmony“ schrieb man erst die Musik, hatte aber bereits die Texte im Hinterkopf und arbeitete sie mit Dolores Marguerite C. zusammen aus.
Dagegen dienten bei „Shonen No Hi“ und „Biello Dumlo“ die vorliegenden Texte als Basis für die musikalische Umsetzung. Im Falle von „Biello Dumlo“ bekamen ITN ein Tape von einem italienischen Radio-DJ, der in seiner Sendung die alte Friulan-Sprache lebendig hält und quasi als Dokument einen Text namens "Biello Dumlo Di Valor“ in dieser Sprache rezitierte. Ähnlich verhielt es sich bei „Shonen No Hi“, einem japanischen Gedicht von Haruo Satou, das die ebenfalls japanische Band Beata Beatrix vertont hatte. Deren Sänger Tomoyasu, selbst ein großer Fan von ITN, schickte dem Duo ein Tape mit den extrahierten Vocals, zu denen die Band die passende Musik komponierte.
„Als wir erst einmal festgesetzt hatten, welchen Stil die Musik haben würde, begannen wir, die Instrumentation hinzuzufügen und herabzusetzen, bis beides auf natürliche Weise ineinander überging“, erklärt Klive die Arbeitsweise bei diesem Stück. „Die Poesie der Stimme wird hoffentlich in dem lyrischen Gebrauch der Oboe-Refrains reflektiert.“
„Die Leute fragen uns oft, warum wir nicht öfter auf unseren Platten singen, wie wir es bei unseren früheren Aufnahmen gemacht haben, aber wir haben realisiert, dass wir keine Texter sind und unsere Stärke in der Musik liegt “, wirft Nigel ein. „Wir schreiben, produzieren, arrangieren und mischen nun schon all unsere Musik, da wollen wir unsere Fähigkeiten nicht überstrapazieren.“
Zufälligerweise sind es einmal mehr ausgerechnet zwei Instrumentals, die den nachhaltigsten Eindruck beim Hörer hinterlassen - zum einen das kraftvolle, dynamisch sich steigernde „Salient“, zum anderen „Profundus“, das nicht nur auf einem Zitat von D.H. Lawrence basiert („They say that the sea is cold, but the sea contains the warmest blood of all“), sondern zu dessen musikalischen Illustration etwas wie Walgesänge in die Musik integriert hat.
„Die Sounds mögen sich wie Samples von Walgesängen anhören, doch es wurden wirklich keine benutzt“, meint Nigel.
"Eigentlich waren es die analogen Sounds im Track, die uns auf die Idee mit der Wal-Verbindung brachten, und als wir die Flötenparts für das Album aufnahmen, baten wir den Flöten-Spieler, Wal-Sounds mit einer Auswahl von verschiedenen Flöten (Bass-, Konzert- und Alt-Flöte) zu improvisieren. Diese Sounds sind unsere Interpretation der mysteriösen ozeanischen Klangwelt.“
Neben diesen fast mystisch anmutenden Klängen besteht „Lingua“ aus überwiegend leicht melancholischen, doch erhaben wirkenden Kompositionen, die ein intensives Eintauchen in die Klangkosmen des kreativen Duos nur erleichtern. Dabei legen es In The Nursery nicht darauf an, traurige Musik zu kreieren. Ganz im Gegenteil.
„Wir setzen uns nie hin und wollen melancholische Musik schreiben, aber ich denke, um emotionale Musik zu kreieren, benötigt man herzfühlende Elemente“, erklärt Nigel. „Emotionen können Tränen hervorrufen, aber nicht immer Tränen der Traurigkeit, und ich denke, unsere Musik als traurig zu bezeichnen, wäre irreführend. Sie soll aufbauend und positiv sein - reflexiv, ja, aber auch auf realistische Weise optimistisch.“
Mit „Lingua“ ist den beiden Humberstone-Zwillingen jedenfalls eines dieser großen Würfe gelungen, die den Hörer sofort gefangen nehmen, ihn auf eine Reise entführen, deren Stationen durch In The Nursery nur vorgezeichnet sind. Letztlich sind es die Imaginationskräfte des Hörers, die der wunderbaren Reise Konturen verleihen, die aus skizzenhaften Tagträumen bildgewaltige Impressionen gedeihen lassen. Gerade dieser Fähigkeit haben es Klive und Nigel zu verdanken, dass ihre Musik immer öfter dort zum Einsatz kommt, wo sich visuelle Einbildungskraft und Musik ganz nahe sind, im Kino. Offensichtlich wurden die ohnehin schon stark ausgeprägten Fertigkeiten der beiden Musiker durch ihre Auftragsarbeiten für Stummfilmvertonungen noch weiter sensibilisiert. Jedenfalls präsentierten sich ITN mit „Lingua“ auf der Höhe ihrer Schaffenskraft.
„Durch unsere Arbeit an den 'Optical Music Score' in den letzten zwei Jahren haben wir viel über die Verknüpfung von Musik und Bildern gelernt“, meint Klive. „Unsere Arbeit zu 'Asphalt' hat uns viel darüber gelehrt, wie man die richtige musikalische Sequenz wählt, um die beste Intention jeder Szene zu vermitteln. Bei 'Lingua' waren wir in der Lage, so ziemlich auf die Art und Weise zu schreiben, wie wir immer Musik gemacht haben - nur mit unserer Imagination als Regel für den kompositorischen Stil. Allerdings hatten wir diesmal den Vorteil, diese exquisiten und einzigartigen Vocal-Beiträge zu besitzen, die wir unserer Sound-Sammlung hinzufügen konnten.“
Ein Jahr später widmeten sich In The Nursery wieder einem Stummfilm, dem 1929 vom russischen Regisseur Vertov inszenierten Film “Man With A Movie Camera”.
Im Gegensatz zu ihren regulären ITN-Werken, die oftmals von der bombastischen Wucht kraftvoller Percussion-Arrangements und neoklassizistischen Klängen leben, weist der 65minütige Score diesem russischen Filmklassiker eine geradezu fragile Intimität auf, die nur zum Teil auf dem Verzicht von vordergründigen Percussion-Rhythmen basiert. Es sind vor allem die wundervoll ausgearbeiteten Melodien, die mit sanft schwebenden Keyboard-Sphären-Klängen, warmen Flöten und unaufdringlichen Streichern arrangiert worden sind. Dabei drängte sich der russische Film zunächst nicht unbedingt auf, um die Nachfolge der beiden deutschen Filme, die In The Nursery mit neuer Musik untermalt haben, anzutreten.
“Um einen Nachfolger für unseren Score zum wiederentdeckten deutschen Stummfilm 'Asphalt' zu finden, standen uns verschiedene Optionen zur Verfügung, darunter 'Nosferatu', 'Metropolis' und 'Variete'. 'Variete' mit Emil Jannings in der Hauptrolle ist großartig, aber stilistisch 'Asphalt' zu sehr ähnlich, während 'Metropolis' schon so oft gescored wurde, dass wir es für weise hielten, etwas anderes zu nehmen - obwohl Giorgio Moroders Score ein exzellenter Grund wäre, frühere Versuche zu korrigieren”, erklärt Nigel. “Es wurde auch in Erwägung gezogen, nicht noch einen weiteren deutschen Film zu nehmen - auch wenn es aufgrund unserer bisherigen Entscheidungen offensichtlich ist, dass wir große Fans des deutschen Kinos sind -, weil wir das Spektrum der Optical Music Series erweitern wollten.
Nach verschiedenen Überlegungen wurden wir letztes Jahr vom Bradford Museum of Film, Photography and TV gefragt, ob wir nicht einen neuen Score für den 70. Geburtstag der Aufführung von 'Man With A Movie Camera' beim 5. Bradford Film Festival im März schreiben wollten.”
Obwohl In The Nursery mit “An Ambush Of Ghosts” auch schon einen modernen Tonfilm mit ihrer Musik versorgt haben und sie mit ihren Songs in den Kinotrailern zu “Interview With The Vampire”, “The Sweet Hereafter” und “The Rainmaker” zu hören sind, scheint ihnen der Stummfilm besonders zu liegen.
“Musik für Stummfilme zu komponieren, ist eine spezielle Disziplin und erfordert deshalb einen anderen Ansatz als Filme, die Erzählstrukturen, Stimmungen und Soundeffekte besitzen. Wir bevorzugen es, an Projekten zu arbeiten, bei denen wir das Gefühl haben, dass wir ihnen unseren Charakter aufdrücken können, statt Scores zu komponieren, die im Prinzip zu jedem oder tatsächlich zu niemandem passen.”
Was In The Nursery an dem Film “Man With A Movie Camera” vor allem faszinierte, war sein natürliches Tempo und sein Fluss.
'Man With A Movie Camera' ist eine kaleidoskopartige Städte-Symphonie, die das Bombardement der Sinne im Leben des 20. Jahrhunderts zelebriert”, erläutert Nigel.
“Es ist auch ein Experiment, visuelle Phänomene ohne Hilfe von Titeln, Szenarien oder Theater zu vermitteln. Vertov nahm mit der Unterstützung seines Kameramanns - und Bruders - die Moskauer Leute bei der Arbeit, Erholung und beim Spiel auf, und zwar über den Zeitraum von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Das Ergebnis ist eine kraftvolle Roller-Coaster-Reise durch das sowjetische Leben zu jener Zeit - und das mit Kameraeffekten, Tricks und Schnitten, die erstaunlich für jene Zeit gewesen sind. Wie auch immer, für mich besteht die Essenz des Films darin, die Veränderungen zu betonen, die Film und Kino beim Publikum bewirken, gerade den Zuschauer als Voyeur herauszustellen.”
In The Nursery haben sich bei der Komposition der Filmmusik nicht auf einzelne Charaktere konzentriert, sondern auf natürliche Veränderungen, auf das Erwachen der Stadt am Morgen, das Einschalten der Maschinen, das Ende des Arbeitstages. Dabei haben Klive und Nigel außergewöhnlich ruhige, sphärische Klänge mit gefühlvollen akustischen Akzenten komponiert.
“Wir arbeiten ja nie nur mit elektronischen Sounds, selbst unsere Streicher-Sounds sind immer Samples von richtigen Instrumenten, zusammen mit Blechbläsern und orchestralen Percussions. Aber in Ergänzung zu diesem Score haben wir auch andere Quellen wie die Balalaika, Maschinengeräusche und verschiedene Filmkameraarbeiten gesamplet. Die Flöte ist für uns immer ein sehr emotionales Instrument gewesen und wir sind froh, mit Henrik Linnemann einen ausgezeichneten Spieler hier zu haben, den wir als Session-Musiker eingeladen haben. Sein Spiel ist so intuitiv und expressiv, dass wir von früh an wussten, dass wir ihn bei diesem Projekt dabeihaben wollten. Einige Teile wurden schon von uns geschrieben, aber viele wurden vollkommen improvisiert.”
Mit ihrem neuen Werk 2001 veröffentlichten Album „Engel“ betraten Klive, Nigel, Military Drummer Q und die nur einmal auftretende Sängerin Dolores etwas anderes Terrain.
‘Engel‘ ist ein Multi-Media-Projekt in dem Sinne, dass es einige miteinander zusammen hängende Veröffentlichungen gibt – eine Buch-Trilogie, Regelwerke für Rollenspiele, Comic-Bände, Poster und andere Merchandising-Sachen. Unser Album soll das ganze Projekt bedienen“, erläutert Klive die neue Inspirationsquelle.
© by Feder & Schwert
„Es geht natürlich vor allem um Engel. Die Spiele-Entwickler haben eine komplexe Fantasy-Welt in einer post-apokalyptischen Zukunft entworfen. Wir wurden vom deutschen Verlagshaus Feder & Schwert kontaktiert, die unsere Musik kannten. 'Engel' soll den Anwendern die Möglichkeit geben, Bilder, Musik und Texte zu einer neuen Vorstellungswelt zu vereinen. Für uns war dieses ganze Projekt sehr inspirierend – wir haben viele neue Tracks geschrieben.“
Man merkt dem vor Spielfreude, fetten Arrangements und gefühlvollen Atmosphären platzenden Werk hörbar an, dass ITN viel Spaß an dem Projekt hatten. Lag das eher an dem inspirierenden Hintergrund oder an der Möglichkeit, sich nicht mehr ganz so eng an visuelle Vorgaben halten zu müssen?
„Songs für ‚Engel‘ zu komponieren war insofern anders, als wir trotz der Inspiration durch Background und Story die Freiheit besaßen, die Stücke ohne visuelle Beschränkungen entwickeln zu können“, beantwortet Nigel meine Frage. „Die Songs sind wirklich neue ITN-Tracks, die auf der zentralen Idee und dem Konzept von ‚Engel‘ basieren, was dem Projekt Kontinuität und einen zentralen Fokussierpunkt gab.“
Neben den kraftvollen, vielschichtig mit Oboen und anderen Bläsern, Chören, Percussions, Synthesizern und Streicherklängen arrangierten Neu-Kompositionen fallen älteren ITN-Fans natürlich die neuen Versionen der klassischen Hits „Blue Religion“ und „To The Faithful“ auf.
„Eigentlich kamen die Spieleverleger mit dem Vorschlug zu uns, einige ältere Tracks auf das Album zu nehmen, und wir dachten, es sei eine hervorragende Möglichkeit, 'Blue Religion' - zu dem Nigel jetzt eine Live-Bass-Gitarre hinzufügte – und ‚To The Faithful‘ - mit neuen Vocals – zu überarbeiten“, meint Klive. „Für uns war es eine Chance, die Songs zu aktualisieren. ‚New Religion‘ - so der neue Titel – ist immer noch eine großer Live-Favorit, den wir jedes Mal spielen – für uns und für das Publikum.“
Bei In The Nursery darf man in dieser Hinsicht zwar nicht mehr überrascht sein, aber erfreut ist man doch wieder einmal, mit welchem Ideenreichtum, instrumentaler Fülle und emotionaler Wärme Klive und Nigel das neue Album arrangiert haben.
Was auf der einen Seite bei „New Religion“, „Engel – To The Faithful“ oder „Beutereiter“ machtvoll rhythmisch klingt, kommt bei Songs wie „Angelorum“ oder „Pandoramicum“ melancholisch und sanft und gefühlvoll rüber.
„Die Wahl der Instrumentation war durch unsere Interpretation der Sounds diktiert, die das Ambiente, die Charaktere, Szenarien und Einstellungen von ‚Engel‘ portraitieren mussten. Chorale Stimmen wurden ebenso ausgiebig eingesetzt wie Oboen. Aber darüber hinaus mögen wir beide den Sound einer guten French-Horn-Section – sie komplettiert natürlich die Streicher-Arrangements.“
Nach ihrem Soundtrack zum Fantasy-Rollenspiel „Engel“ von 2001 und dem 2002 veröffentlichten Remix-Album „Cause + Effect“ präsentierten In The Nursery mit „Praxis“ nach drei Jahren endlich wieder ein reguläres Studio-Album.
‘Engel‘ war ein spezielles Projekt, das konzipiert worden ist, um in die Erzählung des Rollenspiels ‚Engel‘ integriert zu werden und ihre Wirkung zu verstärken. Auch wenn es bestimmte Merkmale in der Art gibt, wie sich unsere Musik in den letzten paar Jahren entwickelt hat, sind die letzten beiden Alben sehr unterschiedlich“, meint Nigel. „‘Praxis‘ ist ein neues Studio-Album, das verstärkt auf Gesang basiert.“
Es ist dabei schon bemerkenswert, mit welcher Kontinuität die beiden Zwillingsbrüder fast im Jahrestakt eine Veröffentlichung auf die andere präsentieren, ohne qualitative Einbußen hinnehmen zu müssen. Offensichtlich scheint es für die Kreativität der Band von enormem Vorteil zu sein, dass man immer mal die Spielebenen wechseln kann, von der Filmmusik zum Rollenspiel-Soundtrack zu ganz eigenen Ideen und zurück zu funktionaler Musik.
„Es ist nie einfach, Musik zu machen. Ich denke, wir arbeiten gleichermaßen gut mit bildbezogenen Projekten wie mit unseren eigenen Studioalben. Aber wie du vermutest, ist es sehr erfrischend und hilfreich, zwischen verschiedenen Projekten hin- und herzuwechseln“, stimmt Nigel meiner Überlegung zu. „Das hilft uns, konzentriert, inspiriert und interessiert zu bleiben. Um ehrlich zu sein, ich denke, dass die Unterschiedlichkeit unserer Arbeiten in verschiedenen Gefilden uns überhaupt erst ermöglicht hat, in den letzten zwanzig Jahren so kontinuierlich kreativ gewesen zu sein.“
Mit diesem Album verhält es sich eigentlich wie mit allen Veröffentlichungen von In The Nursery. Man bekommt die vertrauten Elemente wie wuchtige Percussions, ausgefeilte Elektronik-Arrangements, sanfte Streicherklänge und intime Oboen- und Flöten zu hören, doch der Cocktail fällt jedes Mal anders aus, mal energischer, mal entspannter, mal mit mehr Vocal-Einsätzen, dann wieder mit weniger.
Der instrumentale Opener und Titeltrack von „Praxis“ bietet die schon obligatorischen schweren Percussion-Beats, düstere Elektronik-Soundscapes, Stakkato-mäßige und warme Streicher, Military Drums und verführerische Oboen-Harmonien. Doch schon mit dem nächsten Track, dem von Dolores gesungenen „Vocopolis“ ändert sich die Szenerie mit ganz ruhigen Piano-Tönen, die dann aber auch von mächtigen Bläsern und pulsierenden elektronischen Grooves dynamischer gestaltet wird. In The Nursery haben mit vielen Arten von Beats und mit ebenso vielen Stimmungen und Gesangs-Einsätzen auf „Praxis“ gearbeitet.
„Auf dem Album geht es darum, wie man eine kreative Identität definiert, wie man sich selbst durch die Arbeit, die man macht, zum Ausdruck bringt. Es ist auch ein Lernprozess, bei dem man Perioden von intensiver Action und Produktivität erlebt, die von Zeiten der Reflexion und Betrachtung gefolgt werden“, erläutert Nigel die stilistische wie atmosphärische Vielfalt des Albums. „In vielerlei Hinsicht spiegelt dieser Prozess unsere Arbeitsweise im Studio wider, und daraus entwickelten wir schließlich das Konzept.“
Ähnlich wie bei „Lingua“ haben In The Nursery mit vielen Vocals gearbeitet. Dolores verlieh nicht nur „Vocopolis“, sondern auch „Memento“, „Amer“ und „Argent“ ihre eindringliche Stimme. Bei „Concept“ und „Ethics Of Belief“, deren Rhythmik jeweils bemerkenswert elektronisch ausfällt, greifen Klive und Nigel sogar selbst zum Mikrophon. „Eigentlich wollten wir es einfach nur noch mal wieder ausprobieren“, meint Nigel lapidar. „Ich habe auf unserer Version von ‚Love Will Tear Us Apart‘ gesungen und es sehr genossen, also war es nur eine logische Weiterentwicklung.“
Mit Katz Kiely taucht beim balladesken „Outburn“ schließlich eine ganz neue Stimme auf, die dem melancholischen Track die nötige emotionale Tiefe verleiht.
„Katz ist eine gute Freundin von uns und wir wollten schon immer mal mit ihr zusammenarbeiten. Sie verfügt über eine erstaunliche Stimme mit unglaublicher Kraft und Kontrolle. Nachdem wir entschieden hatten, welchen Track sie singen sollte, schrieben Klive und ich ein paar Gesangsideen auf, quasi eine Auswahl an Phrasen und Worten. Katz kam dann ins Studio und nahm den Song in zwei Takes auf, ohne vorher der Track gehört zu haben. Das geschah also sehr plötzlich und spontan.“
Überhaupt schien die Produktion von „Praxis“ eher ein Ergebnis von Zufällen gewesen zu sein. Selbst der verstärkte Vocal-Einsatz war nicht wirklich vorher geplant.
„Da wir so sehr mit der Komposition der Musik beschäftigt sind, fällt es uns immer schwer, Gesangs-Melodien zu schreiben – was ein Grund dafür sein mag, warum wir seit so langer Zeit nicht mehr auf unseren Alben gesungen haben“, meint Nigel. „Aber irgendwie schien es diesmal wieder an der Zeit zu sein. Es gibt eigentlich keinen bestimmten Grund, warum es jetzt wieder mehr Vocals auf dem Album gibt. Es passierte einfach, die Musik schien es zu brauchen. Wir haben ein ziemlich gutes Gespür dafür, wenn ein Track fertig ist.“
„Alle Songs auf ‚Praxis‘ haben ihr Leben als Instrumentals begonnen“, ergänzt Klive. „Das ist die Art und Weise, in der wir arbeiten. Es gibt ganz verschiedene Ausdrucksformen in den Songs des Albums, aber es gibt auch eine Einfachheit in ihrer Präsentation. Das bedeutet nicht, dass wir nicht Stunden damit verbringen, die Komposition zu verfeinern. Wir haben letztlich Soundscapes kreiert, die den Raum für den Gebrauch von Vocals hatten und sie rechtfertigten.“
Nachdem In The Nursery „The Cabinet Of Dr Caligari“ (1919) und „Asphalt“ (1929) sowie den russischen Film „Man With A Movie Camera“ (1929) und die britische Arbeit von Maurice Elvey, „Hindle Wakes“ (1927), vertont haben, bewegten sie sich mit ihrem 2004er Album in den fernen Osten, als sie sich nämlich des japanischen, 1927 von Teinosuke Kinugasa inszenierten Films „A Page Of Madness“ angenommen haben.
„Als wir für unseren fünften Optical Music Score recherchierten, haben wir viel über ‚A Page Of Madness‘ gelesen und viel davon gehört, und als expressionistischer japanischer Avantgarde-Film ist er sicherlich einzigartig, vor allem, wenn man bedenkt, dass er 1927 gemacht wurde“, erklärt Nigel die ungewöhnliche Wahl. „Als wir den Film gesehen haben, war es offensichtlich, dass dies ein Film ist, mit dem wir arbeiten müssen – die Bilder und der Stil waren einfach so inspirierend. Es war einfach auch interessant, an einem Film von einem anderen Kontinent zu arbeiten.“
Der Film handelt von einem pensionierten Seemann, der einen Job als Hausmeister in einer Irrenanstalt annimmt, um dort nach seiner verrückten Frau zu schauen, die versucht hatte, ihr Kind zu ertränken.
“Aber die Synopsis des Plots kann nicht die Kraft des Films erklären, der bahnbrechende Schnitttechniken verwendet, die auch heute noch bemerkenswert sind“, merkt Nigel dazu an.
Bemerkenswert an der Musik dabei ist, dass In The Nursery entsprechend der Herkunft des Films natürlich japanische Instrumente in ihrer ruhigen, synthetischen Musik eingearbeitet und so ihrem umfangreichen Oeuvre eine neue Farbpalette hinzugefügt haben.
„Wie bei den früheren Optical Music Scores haben wir den Film gesehen und bestimmte Punkte für die Musiksequenzen gesetzt. Dann haben wir eine Sammlung oder eine Palette von Sounds zusammengetragen, mit der wir die Musik geschrieben haben. Es ist oft hilfreich, wenn wir uns selbst auf ein spezifisches Soundspektrum limitieren, aber die Typen von Sounds, Samples und Stimmungen sind gewöhnlich durch den Film diktiert. Für ‚A Page Of Madness‘ haben wir Samples von traditionellen japanischen Instrumenten benutzt wie das Koto und die ausdrucksvolle Shakuhachi-Flöte. Wir haben diese Sounds editiert und übereinander gelegt, um ihnen eine eigene Identität innerhalb der Kompositionen zu verleihen, und kombinierten sie mit anderen elektronischen und perkussiven Elementen. Gewisse Sounds funktionierten ganz offensichtlich nicht mit der Atmosphäre, die wir für den Film zu kreieren versuchten, zum Beispiel sinfonische Streicher. Stattdessen verwendeten wir eine sehr dünn klingende Solo-Streicher-Harmonie“, erläutert Nigel den musikalischen Prozess.
„Viele der Szenen spielen sich im oder um die Irrenanstalt herum ab, also musste die Musik die Klaustrophobie des Eingesperrtseins einfangen. Einige der schwierigsten Szenen, zu denen die Musik geschrieben werden musste, waren jene, die die häufigen Sprünge in die Realität und aus ihr heraus beschreiben. Manchmal sind diese Bilder sehr zwiespältig, so dass man fast einen Traum innerhalb eines Traums zu sehen glaubt.“
Vom British Film Institute wurden In The Nursery beauftragt, die Musik zu einer Sammlung von Filmen aus der Jahrhundertwende zu komponieren.
Mit „Electric Edwardians“ erschien 2005 bereits sechste Album im Rahmen ihrer „Optical Music Series“.
In The Nursery produzierten unter Mithilfe von Studiomusikern eine Reihe von sehr intim klingenden Soundtracks zu Kurzfilmen, die das Leben im England zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Straße, in den Straßenbahnen, in den Häfen, auf den Bahnhöfen und auf der Arbeit zeigen. 833 Filme liegen in dieser Form in der „Mitchell & Kenyon Collection“ vor, 35 davon sind vom British Film Institute restauriert und bereits auf DVD veröffentlicht worden und erfolgreich als TV-Serie auf BBC gelaufen.
Mit sehr warmen akustischen Klängen von verschiedenen Flöten, Klarinetten, Oboe und Cello entstanden sehr eindringliche Kompositionen, die wunderbar auch ohne visuellen Background funktionieren.
„Die Filme sind jeweils nur zwischen zwei und drei Minuten lang. Die über 800 Filme wurden für ‚Showmänner‘ gedreht, die Arbeiter dabei beobachten, wie sie die Fabriken und Arbeitsplätze verlassen, Familien in der Freizeit, geschäftiges Treiben auf den Straßen“, beschreibt Klive den Charakter der Filme. „Das wurde nicht gemacht, um den Alltag der Leute zu dokumentieren, die im Nordengland der Edward-Ära lebten, sondern aus reiner Profitgier. Die ‚Showmänner‘ bewarben die Filme, zeigten sie in Hallen und Theatern und verlangten Geld von den Leuten, damit sie sich selbst auf der ‚großen Leinwand‘ sehen konnten. Kino gab es in den 1910er-Jahren noch nicht.“
Mit dem British Film Institute verbindet In The Nursery eine lange Beziehung, und so wurde die Band vom BFI vor zwei Jahren angefragt, ob sie die Sammlung von Filmen mit Musik untermalen würden. Aus einem geplanten zwei- bis sechsjährigen Engagement wurde ein Unterfangen, das bis heute andauert.
„Was einzigartig an diesen Filmen ist, ist die Tatsache, dass es kaum bewegte Bilder von normalen Leuten - keinen Schauspielern – aus dieser Zeit gibt. Wir alle haben Bilder und Drucke gesehen, aber diese Menschen atmen und leben zu sehen ist etwas ganz spezielles. Als Dokument unserer Geschichte sind sie unbezahlbar, eine wertvolle Erinnerung“, meint Nigel. „Die Edward-Ära war eine Zeit großen ökonomischen und sozialen Wandels, teilweise durch die Elektrifizierung begründet. Der Erste Weltkrieg lag nur um die Ecke, und man muss sich schmerzlich daran erinnern, dass die Mehrheit der Leute, die man auf der Leinwand sieht, innerhalb weniger Jahre in den Krieg ziehen musste.“
Insofern überraschen die melancholischen Züge des Albums kaum. Erstaunlich ist eher, dass In The Nursery nach all den Jahren ihrer mehr als produktiven Tätigkeit einmal mehr ihren musikalischen Ausdruck erweitert haben.
„Mit diesem Projekt haben wir eine Art musikalischen ‚Leitfaden‘ initiiert, dass wir festgelegt haben, mit welchen Instrumenten wir die Stücke einspielen. Wir haben eine ‚Palette an Sounds‘ auch in früheren Optical Music Scores verwendet, aber diesmal war es klarer, dass bestimmte Instrumente und Sounds besonders gut passen und eine Menge anderer auf keinen Fall Verwendung finden würden“, erläutert Klive die Herangehensweise an „Electric Edwardians“. „Wir wollten eine emotionale Verbindung mit den hunderten Gesichtern schaffen, die wie Geister auf diesen bemerkenswerten Filmen wandeln“, ergänzt Nigel. „Wir waren uns aber auch bewusst, die Musik nicht allzu melancholisch werden zu lassen, sondern vielmehr das Vibrieren auf den Straßen damals zu reflektieren.“
„In den Filmen liegt eine gewisse schmerzliche Traurigkeit. Weil sich die Bilder bewegen, ist die emotionale Bindung weit stärker als bei Fotografien aus derselben Periode“, versucht Klive das besondere Element bei den Filmen nochmals herauszuarbeiten. „Und weil sich die Leute in ihrem alltäglichen Leben bewegen und nicht als Schauspieler in einem Stück oder Film agieren, ist mein Mitgefühl viel stärker ausgeprägt als normal. Ich bin mir mehr bewusst, dass diese Gesichter existiert, ihr Leben gelebt, gearbeitet und geliebt haben und gestorben sind.“
Im Jahre 2007 feierten In The Nursery ihr 25-jähriges Jubiläum mit einem neuen Album namens „Era“.
„ ‚Era‘ entwickelte sich aus dem Arbeitstitel ‚Material & Form‘ und war von Anfang dazu bestimmt, sich mit dem Konzept der Architektur auseinanderzusetzen. Die Beziehung zwischen Architektur und Musik ist schon immer etwas gewesen, das ich erforschen wollte“, erklärt Nigel das Album-Konzept.
„ Wir wollten ‚Era‘ wie ein klassisches ITN-Album klingen lassen, mit all den Markenzeichen-Elementen - schrille Orchester/Percussion-Kompositionen, aber auch liebliche und warme Momente schierer Schönheit“, ergänzt Klive. „Wir waren uns bewusst, Material zu schreiben, das sowohl live dargeboten werden könnte als auch Tracks zu komponieren, die mehr emotional und zurückhaltend ausfallen. Das ursprüngliche Konzept des Albums bestand darin, Musik zu kreieren, die direkt von Architektur beeinflusst ist. Musik und Architektur sind durch den Geist der Kreativität, den menschlichen Geist und eine persönliche kreative Entwicklung miteinander verbunden. Also erforschten wir dieses Thema mit verschiedenen architektonischen Gebäuden im Kopf, machten Bilder von Tempeln und Altären, als wir im August 2005 Japan besuchten. Wir schauten uns Statuen und Monumente an, besannen uns unserer Besuche in Mexiko und der wundervollen alten und neuen Architektur, die wir dort sahen.“
© by Daniela Vorndran www.black-cat-net.de
Neben der langjährig vertrauten Dolores gab es mit Sarah Jay Hawley eine neue Stimme zu vernehmen. Aber sie ist bei weitem keine Unbekannte in der Szene.
„Sarahs Name ist in Unterhaltungen gefallen, dann traf ich sie einige Male und wir diskutierten die Möglichkeit, ob sie ins Studio kommen möchte, um einige Tracks auszuprobieren. Ich habe ihre Arbeit mit Massive Attack gehört, zusammen mit einigen ihrer neuen Tracks, und war sehr beeindruckt“, blickt Nigel zurück. „Mit ihr zu arbeiten war ein wirklich simpler und produktiver Prozess. Sie kam herein, ohne die Tracks gehört zu haben, und dann präsentierten wir ihr Worte, Phrasen, Teile der Lyrics und Themen, während sie die Songs anhörte. Daraufhin schrieb sie weitere Lyrics, arbeitete Melodien aus, und alles, was wir tun mussten, war die Ergebnisse aufzunehmen.“
Nach diesem Studioalbum folgte 2008 ein weiterer Stummfilm-Soundtrack, diesmal zu Carl Theodore Dreyers fast dokumentarisch anmutenden Film „The Passion of Joan of Arc“ aus dem Jahre 1928, der jahrzehntelang verschollen war und erst 1981 wieder aufgetaucht ist. In The Nursery reflektierten mit ihrem Score die dramatischen Hoch- und Tiefpunkte, vor allem die eindringlichen Close-ups der Hauptdarstellerin Rene Falconetti und die fieberhaften Szenen rund um Joans Todeskampf.
Nach der im vergangenen Jahr veröffentlichten Compilation „Aubade“, die die frühe Schaffensphase der Band aus den Jahren 1983 bis 1985 repräsentierte, erscheint nun mit „Blind Sound“ ein neues Studioalbum, mit dem die Sheffielder Zwillinge nicht nur ihren 50. Geburtstag, sondern auch ihr 30-jähriges Bandjubiläum feiern, nachdem sie im Juni 1981 ihr Live-Debüt am Sheffielder Art College gegeben haben.
„Ich bin wirklich stolz darauf, dass wir uns treu in dem geblieben sind, woran wir glauben. Musik zu machen ist immer auf fundamentale Weise etwas gewesen, das wir mit Freude getan haben, und der Schaffensprozess geschieht allein zu unserem Vergnügen und Befriedigung. Die Tatsache, dass andere an dieser Kreation teilhaben können, ist ein zusätzlicher Bonus“, fasst Klive die Essenz der vergangenen 30 Jahre Bandgeschichte zusammen. „Ich bin jetzt genauso aufgeregt, die erste Box der ‚Blind Sound‘-CDs zu öffnen, frisch vom Presswerk, wie damals im Jahr 1983, als wir per Hand die Covers zu unserer Debüt-Mini-LP ‚When Cherished Dreams Come True‘ fertigten. Das ist etwas, worauf ich auf einem künstlerischen Level immens stolz bin“.
Mit ihrem neuen Album fassen In The Nursery quasi die Qualitäten zusammen, die sich die Band über die Jahrzehnte angeeignet und perfektioniert hat.
‘Blind Sound‘ hat sehr viel damit zu tun, zurück zur Essenz dessen zu gehen, was uns angetrieben hat, Musik zu machen. Natürlich haben wir in all den Jahren viel darüber gelernt, wie man einen Song komponiert und fertigt. Aber ich denke, wir haben uns bewusst dazu entschieden, uns zu versichern, dass das Übergewicht der Technologie in der heutigen Musikproduktion nicht das kontrolliert, was wir kreieren wollen“, betont Klive. „Manchmal können Computer die künstlerische Herrschaft über das Komponieren übernehmen und leblose Musik ohne Seele kreieren. Wenn man sich nicht der technologischen Macht bewusst ist, kann sie die einfachsten Ideen verzehren. Wir wussten, dass wir ein Album machen wollten, das man live aufführen kann, das frisch klingt und all die verschiedenen Elemente unseres charakteristischen Sounds vereint, und ich glaube, mit ‚Blind Sound‘ haben wir das auch erreicht.“
„Anders als Alben wie ‚Anatomy of a Poet‘ und ‚Deco‘ gibt es allerdings kein ausgeprägtes Konzept hinter ‚Blind Sound‘. Nichtsdestotrotz ist die Sammlung der Tracks miteinander verbunden und erforscht als Ganzes unsere künstlerischen Erfahrungen und Auffassung von der Musik“, ergänzt Nigel.
© by Gay J Brown
Bereits der „Blind Sound“-Opener „Artisans of Civilisation“ weist mit kraftvollem Sound und akustischen Finessen den Weg. Zum Gelingen des sehr organisch klingenden Albums haben einige Gastmusiker wie Liz Hanks (Cello), Graham McEleamey (Harfe), Rob Skeet (Klarinetten) und Matt Howden (Violine, Treatment) beigetragen.
„Es war großartig, mit Matt Howden von Sieben zusammenzuarbeiten. Wir sind schon seit einiger Zeit gute Freunde gewesen und haben bei einigen Optical Music Events zusammengespielt. Wir haben ihn eingeladen, eines Abends mal ins Studio zu kommen und zu einigen Tracks die Violine beizusteuern. Wir gaben ihm dann einen Freibrief, dass er, wo immer er mochte, etwas zu den Tracks spielen konnte. Das ist eine witzige Art zu arbeiten. So machten wir es auch mit Liz Hanks und Rob Skeet. Sie alle sind Musiker/Freunde, die in Sheffield leben und mit denen wir über die Jahre gearbeitet haben und deren Fähigkeiten wir sehr schätzen“, erläutert Klive.
„Um ehrlich zu sein, hat es sich nicht so angefühlt, als hätten wir mit mehr zusätzlichen Musikern als sonst gearbeitet, vielleicht einer oder zwei, aber vielleicht lag es an der Art, wie wir sie eingesetzt haben und die Tracks um ihren Input herum aufgebaut haben, dass sich das ganze Projekt so lebendig anfühlte“, fügt Nigel hinzu.
Auch nach 30 Jahren werden In The Nursery nicht müde, ihre ganz eigene künstlerische Vision immer wieder neu zu verwirklichen, demnächst auch wieder für einen Stummfilm-Soundtrack.
„Eine Idee für einen zukünftigen Score ist, einen Stummfilm-Projekt zu finden, bei dem wir Live-Drumming mit unserer üblichen Keyboard- und Controller-Präsentation verbinden können. Wir haben schon einen Titel im Kopf, aber leider können wir dazu noch nichts erzählen“, gibt sich Nigel zum Abschluss des Interviews kryptisch. Aber zu gegebener Zeit gibt es an dieser Stelle dazu mehr zu berichten.

Diskographie:

1983: When Cherished Dreams Come True (EP)
1986: Twins
1987: Stormhorse
1988: Köda
1989: Counterpoint (Compilation)
1989: Prelude (Compilation)
1990: L'Esprit
1991: Sense
1992: Duality
1993: An Ambush of Ghosts (Soundtrack)
1994: Anatomy of a Poet
1995: Scatter (Compilation)
1996: Praha 1 (Live)
1996: Deco
1996: Feathercut (Les Jumeaux)
1996: The Cabinet of Dr. Caligari (Soundtrack)
1997: Composite (Compilation)
1997: Asphalt (Soundtrack)
1997: Cobalt (Les Jumeaux)
1998: Lingua
1999: Man With a Movie Camera (Soundtrack)
2000: Groundloop
2000: Exhibit (Compilation)
2001: Hindle Wakes (Soundtrack)
2001: Engel (Game-Soundtrack)
2002: Cause + Effect (Remix-Album)
2003: Praxis
2003: A Page of Madness (Soundtrack)
2005: Electric Edwardians (Soundtrack)
2006: ERA
2008: The Passion of Joan of Arc (Soundtrack)
2010: Aubade (Compilation)
2011: Blind Sound

Playlist:
1 In The Nursery - Coloured Silence (Blind Sound) - 03:03
2 In The Nursery - Police Station (The Cabinet of Doctor Caligari) - 05:58
3 In The Nursery - Bergen's (Asphalt) - 04:49
4 Les Jumeaux - Strange (Cobalt) - 06:06
5 In The Nursery - Salient (Lingua) - 06:25
6 In The Nursery - Paralysed Time (Man With A Movie Camera) - 04:28
7 In The Nursery - Displaced (Groundloop) - 04:43
8 In The Nursery - Hindle Theme 1 (Hindle Wakes) - 03:59
9 In The Nursery - Pandoramicum (Engel) - 04:24
10 In The Nursery - Futurebuild (Era) - 06:05
11 In The Nursery - Resonate (Blind Sound) - 03:58
12 In The Nursery - I Have Lied (The Passion Of Joan Arc) - 05:41

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