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Montag, 12. Februar 2018

Playlist #234 vom 18.02.2018 - R.I.P. Jóhann Jóhannsson

Mit seinen Oscar-, Golden-Globes- und BAFTA-Awards nominierten Scores zu „The Theory Of Everything“ (2014), „Sicario“ (2015) und „Arrival“ (2016) avancierte der isländische Komponist Jóhann Jóhannsson in den vergangenen Jahren zu den interessanten Vertretern seiner Zunft. Kurz nach Veröffentlichung seiner Musik zu James Marshs biografischen Drama „Vor uns das Meer“ erschütterte die Nachricht vom Tod des 48-jährigen Ausnahmetalents am 09. Februar 2018 in seinem Berliner Apartment die Film- und Musikwelt.

Der am 19. September 1969 in Reykjavík geborene Jóhannsson lernte in seiner Kindheit Piano und Pausane zu spielen, wirkte während der Schulzeit in verschiedenen Bands mit. Nachdem er Literatur und Sprachen an der Universität studiert hatte, verbrachte er zehn Jahre damit, seine Musik in Indie-Rock-Bands zu spielen, wobei er sich darauf konzentrierte, mit mehreren Gitarren interessante vielschichtige Soundscapes zu kreieren.
„Als ich die Alben auf Enos Obscure Records Label aus den 70ern entdeckte, verlagerte sich mein Interesse zur Kreation von minimalistischen Ambient-Strukturen mit klassischen Instrumenten. Ich legte die Gitarre beiseite und begann, Musik für Streicher, Woodwinds und Kammer-Ensembles zu schreiben, indem ich akustische und elektronische Sounds miteinander verband.“
Indem er die Resonanzen von akustischen Instrumenten mit digitalem Processing verknüpfte, schuf Jóhannsson Musik, die akustische und elektronische Sounds zu etwas Einzigartigem und Neuem verband.
„Mein Ideal ist Musik, bei der elektronische und akustische Klänge nahtlos miteinander verschmelzen.“
1999 gründete Jóhannsson mit den drei Musikern Hörður Bragason, Músikvatur und Úlfur Eldjárn die Band Apparat Organ Quartet, zu der später noch der Drummer Þorvaldur Gröndal stieß, der allerdings 2001 durch Arnar Geir Ómarsson ersetzt worden ist. Nachdem die Formation die beiden Alben „Apparat Organ Quartet“ (2002) und „Pólýfónía“ (2010) veröffentlicht hatte, verließ Jóhannsson 2012 die Band, als seine Solo-Aktivitäten zu viel Zeit beanspruchten.
Im Jahre 2002 veröffentlichte das britische Touch-Label Jóhannssons Debütalbum „Englabörn“, das auf dem Theaterstück gleichen Namens basiert und klassische Streicher mit Electronics verbindet. „Ich nahm die Streicher auf, ließ sie durch digitale Filter laufen, um die Sounds zu extrahieren, und setzte diese neu zusammen. Ich mag es, zum mikroskopischen Kern der Musik vorzudringen, um die Essenz zu extrahieren und aus ihr Schichten von Klängen zu kreieren.“
Bereits zwei Jahre zuvor debütierte Jóhannsson als Filmkomponist, als er die Sportkomödie „Íslenski draumurinn“ von Róbert I. Douglas vertonte. Doch sein Hauptaugenmerk lag in den folgenden Jahren auf Eigenkompositionen, die er auf dem Album „Virthulegu Forsetar“ mit Blechbläsern, Orgel, Keyboards und Electronics umsetzte.
2006 veröffentlichte er auf dem 4AD-Label das Album „IBM 1401, A User’s Manual“, bei dem er sich von dem ersten Computer inspirieren ließ, der 1964 nach Island kam und auf einer Aufnahme basierte, die Jóhannssons Vater von einem IBM Computer gemacht hatte.  
„Fordlandia“ (2008) wurde von Henry Fords fehlgeschlagenen Versuch inspiriert, eine Gummi-Plantage in Brasilien aufzubauen. Ein Jahr später tourte der isländische Komponist durch die USA, wobei der Soundtrack zu dem Animationsfilm „Varmints“ unter dem Albumtitel „And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees“ als limitierter Tour-only-Release verkauft wurde. Erst ab 2011 wandte sich Jóhannsson wieder verstärkt der Filmmusik zu. So komponierte er 2011 die Musik zu Bill Morrisons Dokumentation „The Miners' Hymns“, 2012 zu Max Kestners Film „Copenhagen Dreams“ und zu Phie Ambos Dokumentarfilm „Free The Mind“, ehe er 2013 mit den Soundtracks zu Josh C. Wallers „McCanick – Bis in den Tod“ und vor allem zu Denis Villeneuves Thriller „Prisoners“ auch außerhalb der postklassischen und experimentellen Musikszene auf sich aufmerksam machen konnte.
„Denis wollte die Musik als poetische Stimme etablieren, die als Gegenpol zur Handlung im Film agierte. Auch wenn der Film ein Thriller ist, ist die Musik lyrisch und schön, im starken Kontrast zum Horror, der Hässlichkeit und Grausamkeit in dem Film.“
Jóhannsson komponierte den Score, während er eine frühe Fassung des Films sah, und reagierte auf die verstörenden Bilder auf der Leinwand. Er schrieb die Musik für ein Orchester mit großen Streicher- und Woodwind-Sektionen und integrierte die Klänge von zwei eher unbekannten Instrumenten, dem Cristal Baschet, das einer Glas-Harmonika ähnelt, und dem Ondes Martenot, einem dem Theremin verwandten alten elektronischen Instrument.
Für das Krimi-Drama „McCanick“ wählte Jóhannsson wiederum einen gänzlich anderen Ansatz.
„Es ist ein psychologisches Drama, also verwendete ich ein kleines Streichorchester als Percussion-Instrument. Ich nahm zwanzig Spieler auf, wie sie ihre Instrumente mit der Rückseite ihres Bogens schlugen, manipulierte diese Texturen und verwob sie mit elektronischen Klängen.“
In den vergangenen Jahren veröffentlichte Jóhannsson, der von Künstlern wie Kraftwerk, Steve Reich, Einstürzende Neubauten, Swans, Arvo Part, Ennio Morricone, Morton Feldman und Bernard Herrmann inspiriert wird, ganz unterschiedliche Werke und hat in der Vergangenheit mit Künstlern wie Marc Almond, Barry Adamson, Pan Sonic, The Hafler Trio, Can-Drummer Jaki Liebezeit und vielen anderen zusammengearbeitet.
„Ich mag es, aus meinem Studio herauszukommen und mit anderen Leuten zu arbeiten. In einem Raum mit jemandem zu sein, der eine andere Herangehensweise verfolgt, inspiriert mich. Sich von jemand anderer Musikalität zu ernähren bringt immer interessante Resultate hervor.“
Seit dem internationalen Erfolg von Villeneuves Rache-Drama „Prisoners“ ist auch der Name von Jóhann Jóhannsson in Hollywood bekannt. Bereits für James Marshs biografisches Drama „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ (2014) gewann der Isländer einen Golden Globe und erhielt seine erste Oscar-Nominierung, die zweite folgte ein Jahr darauf für seinen Score zu Villeneuves Drogen-Thriller „Sicario“.
Nach „Prisoners“, „Sicario“ und „Arrival“ wollte Denis Villeneuve auch das mit Spannung erwartete Sequel von Ridley Scotts Sci-Fi-Klassiker „Blade Runner“ mit Jóhann Jóhannsson verwirklichen, doch dann kam Hollywoods Filmmusik-Star Hans Zimmer stattdessen an Bord, um den Score zu „Blade Runner 2049“ zu realisieren. Auch aus der geplanten Zusammenarbeit mit Darren Aronofsky an dessen umstrittenen Drama „Mother!“ wurde nichts. Jóhannsson empfahl dem visionären Filmemacher, ganz auf Musik zu verzichten.
,Mother!‘ ist ein Film, in dem halbe Maßnahmen nichts zu suchen haben, und nachdem Darren und ich viele verschiedene Ansätze erforscht haben, riet mir mein Instinkt, den Score komplett zu entfernen. Auslöschung ist ein großer Teil des kreativen Prozesses und in diesem Fall wussten wir, dass wir diesen Ansatz in sein logisches Extrem führen mussten.“
2016 komponierte er mit Hildur Gudnadóttir die Musik zur BBC-Serie „Trapped“ und wechselte wie sein Kollege Max Richter zur Deutschen Grammophon, wo nicht nur der Score zu „Arrival“ erschien, sondern auch Jóhannssons erstes Solo-Album seit sechs Jahren, „Orphée“, das vom Mythos des Orpheus und Jean Cocteaus gleichnamigen Film inspiriert wurde.
„Ich will auf keinen Fall nur Soundtracks schreiben – die Hälfte der Zeit möchte ich meine eigenen Sachen schreiben. Die Filme, die ich mache, suche ich mir sehr sorgfältig aus: Ist das Drehbuch interessant? Die Story? Kann ich etwas zu diesem Projekt beitragen? Sind die Leute nett und talentiert? Wenn all das zusammenpasst – dann werde ich den Auftrag höchstwahrscheinlich übernehmen“, erzählte der Komponist im Interview mit deutschlandfunkkultur.de.
„Für mich gehört beides einfach zusammen, da sich die Filmkompositionen auch aus meiner früheren Solo-Arbeit entwickelt haben. Irgendwie geht es für mich also wieder so ein bisschen zurück zu meinen Wurzeln; ich war ja viele Jahrelang als Solist auch auf Tour unterwegs, bis die Filmaufträge überhandnahmen. Aber das heißt nicht, dass ich nicht weiter an meinen eigenen Sachen gearbeitet hätte – sie waren nur nach außen hin nicht mehr so sichtbar!“
Für Jóhannsson stellte instrumental vielschichtige und klanglich virtuose „Orphée“ auch eine Art Tagebuch der persönlichen Wandlung dar, die der Komponist mit seinem Umzug von Kopenhagen nach Berlin vollzog, wo er am 09. Februar in seinem Apartment tot aufgefunden wurde.
„Musik ist wichtig für mich, aber das ist es nicht, wie ich definiere, was ich tue“, meint er. „Ich bin von der Textur von Klängen besessen und interessiere mich für minimale Formen, um Dinge so einfach wie möglich auszudrücken, um sie in ihrer ursprünglichen Form zu destillieren. Je einfacher der Ausdruck, desto einfacher sind Ideen zu kommunizieren.“ 
Jóhann Jóhannson, von dem wenigstens noch die Soundtracks zu „Mandy“ und Garth Davis’ „Maria Magdalena“ zu hören sein werden, hat die Welt der Filmmusik in den letzten Jahren durch seine einzigartige Verbindung außergewöhnlicher akustischer Instrumente und oft verstörender elektronischer Soundscapes, die den Zuschauer zum Mitdenken anregten, nachhaltig geprägt.
Mit ihm ist eine visionäre Stimme der Filmmusikwelt verloren gegangen.

Diskographie/Filmographie: 
2000 Íslenski draumurinn
2000 Óskabörn þjóðarinnar
2002 Maður eins og ég
2002 Englabörn
2004 Dís
2005 Ashes and Snow (Dokumentarfilm)
2004 Virðulegu Forsetar
2006 IBM 1401, A User’s Manual
2007 Opium – Tagebuch einer Verrückten (Ópium: Egy elmebeteg nö naplója)
2007 Voleurs de chevaux
2008 Schädlinge (Varmints)
2008 Svartir englar (TV-Serie)
2009 Drømme i København (Dokumentarfilm)
2008 Fordlandia
2009 And In The Endless Pause There Came The Sound Of Bees
2009 Gemeinsam stärker – Personal Effects
2010 Live Recordings
2010 De día y de noche
2011 Junk Love (Kurzfilm)
2011 The Miners’ Hymns
2012 Fu cheng mi shi
2012 Sort hvid dreng (Dokumentarfilm)
2012 Copenhagen Dreams
2012 Free The Mind (Dokumentarfilm)
2012 For Ellen
2013 Prisoners
2014 Tui na
2014 Die Entdeckung der Unendlichkeit (The Theory of Everything)
2014 McCanick
2014 Um jeden Preis (I Am Here)
2014 Viel Gutes erwartet uns (Så meget godt i vente) (Dokumentarfilm)
2015 Sicario
2015 Trapped (TV-Serie)
2015 End of Summer (mit Hildur Gudnadottir & Robert Aiki Aubrey Lowe) (Dokumentarkurzfilm)
2016 Arrival
2016 I blodet
2016 In the Dark Room (Kurzfilm)
2016 Orphée
2016 A Man Returned (Dokumentarkurzfilm)
2017 A hentes, a kurva és a félszemü
2018 Mandy
2018: Vor uns das Meer (The Mercy)
Playlist: 
01. Jóhann Jóhannsson - The Mercy (The Mercy) - 06:03
02. Jóhann Jóhannsson - Salfraedingur (Englaborn) - 03:49
03. Jóhann Jóhannsson - A Memorial Garden on Enghavevej (Copenhagen Dreams) - 04:10
04. Jóhann Jóhannsson - Bankok Norðursins (Dís) - 04:57
05. Jóhann Jóhannsson - The Rocket Builder (Lo Pan!) (Fordlandia) - 06:25
06. Jóhann Jóhannsson & BJ Nilsen - I Am Here [Salve Regina] (I Am Here) - 03:43
07. Jóhann Jóhannsson - End [Snowing] (And In The Endless Pause There Came The Sound Of Bees) - 06:39
08. Jóhann Jóhannsson - McCanick (McCanick) - 03:08
09. Jóhann Jóhannsson - The Candlelight Vigil (Prisoners) - 05:10
10. Jóhann Jóhannsson - Desert Music (Sicario) - 05:08
11. Jóhann Jóhannsson - Radio (Free The Mind) - 03:51
12. Jóhann Jóhannsson - The Sun's Gone Dim And The Sky's Turned Black (IBM 1401, A Manual's Guide) - 05:41
13. Jóhann Jóhannsson & Hildur Godnadottir & Robert Aiki Aubrey Lowe - End of Summer, Pt. 2 (End Of Summer) - 05:57
14. Jóhann Jóhannsson - Heptapod B (Arrival) - 03:43
15. Jóhann Jóhannsson - Flight From The City (Orphée) - 06:31
16. Jóhann Jóhannsson - Domestic Pressures (The Theory Of Everything) - 02:37
17. Jóhann Jóhannsson - Odi Et Amo - Bis (Englaborn) - 04:01
18. Jóhann Jóhannsson - Dying City (And In The Endless Pause There Came The Sound Of Bees) - 03:42
19. Jóhann Jóhannsson - Love After Love (Free The Mind) - 05:38
20. Jóhann Jóhannsson - Here, They Used to Build Ships (Copenhagen Dreams) - 03:37
21. Ryuichi Sakamoto - solari [Jóhann Jóhannsson Rework] (Async - Remodels) - 06:31
22. Jóhann Jóhannsson - Good Morning, Midnight (Orphée) - 03:18
23. Jóhann Jóhannsson - A Pile Of Dust (The Mercy) - 04:50
24. Jóhann Jóhannsson - Cambridge, 1963 (The Theory Of Everything) - 01:42
25. Jóhann Jóhannsson - Passacaglia (The Sun's Gone Dim And The Sky's Turned Black) - 06:03

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