Der in Deutschland geborene und in England aufgewachsene Pianist, Komponist und Produzent Max Richter zählt zu den interessantesten zeitgenössischen Stimmen und macht sich in letzter Zeit vor allem als Filmkomponist einen Namen. Allein in diesem Jahr hat Richter die Musik zu den Filmen „Die Nonne“, „The Congress“, „Lunchbox“, „The Last Days on Mars“ und „Miserere“ komponiert.
Max Richter studierte klassische Komposition und Klavier an der
University of Edinburgh und an der
Royal Academy of Music, bevor er am
Tempo Reale in Florenz bei
Luciano Berio in die Lehre ging. Er war Mitbegründer des aus sechs Pianisten bestehenden Ensembles
Piano Circus, das sich mit zeitgenössischen Werken von Komponisten wie
Arvo Pärt, Brian Eno, Philip Glass und
Steve Reich auseinandersetzte und in zehn Jahren fünf Alben produzierte.
1996 wirkte er als Pianist und Co-Komponist am Album
„Dead Cities“ der britischen Electro-Formation
The Future Sound of London ebenso mit wie an den Folgewerken
„The Isness“ und
„The Pepperment Tree and Seeds of Superconsciousness”.
“
,Dead Cities’ ist eine wirklich interessante Platte. Es war der Anfang meiner Zeit mit
Future Sound of London und gerade für
‚Dead Cities‘ jammte ich einfach in einer Nacht etwas Zeugs zusammen. Sie drückten einfach stundenlang die Record-Taste und ich spielte das Piano, mehr war es nicht. Der Track
‚Max‘ war das Ergebnis. Das ist insofern interessant, weil es zwei Ströme an Improvisation in diesem Track gibt, der eine ist mein Piano-Part, der andere ist das Saxophon. Es sind zwei völlig unabhängig voneinander aufgenommene Performances an verschiedenen Tagen, ohne die jeweils andere Darbietung zu hören. Gary und Brian schnitten und würzten sie, bis sie zusammenpassten. Auf ihrem nächsten Album
‚The Isness‘ (2002), das eine dreijährige chaotische Phase umfasste, war ich mehr auf der Produktionsebene involviert, und ich arbeitete auf ganz unterschiedliche Weise mit ihnen zusammen. Dabei verbrachte ich viel Zeit am Telefon mit Gary, der zu der Zeit in Indien weilte. Es war eine merkwürdige Zusammenarbeit über das Telefon, durch das Gary mit seine Mixes schickte. Diese Platte nahm über einen langen Zeitraum eine seltsame, chaotische Form an, es war ein wilder Ritt“, rekapituliert
Richter in einem Interview mit
cyclicdefrost.com.
Im Jahr 2000 arbeitete
Richter mit
Roni Size am
Reprazent-Album
„In The Mode“ mit und produzierte 2005 das Comeback-Album
„Lookaftering“ der legendären englischen Folksängerin
Vashti Bunyan – 35 Jahre nach ihrem erst über die Jahre hinweg geschätzten Debütalbum
„Just Another Diamond Day“.
In der Zwischenzeit hat
Max Richter mit
„Memoryhouse“ im Jahr 2002 sein Solodebüt veröffentlicht, das er mit dem
BBC Philharmonic Orchestra und dem Violinisten
Alexander Balanescu aufnahm. Darin werden Textpassagen und Gedichtlesungen mit Ambient-Collagen unterlegt, von denen fünf Stücke in der sechsteiligen BBC-Dokumentation
„Auschwitz: The Nazis and the Final Solution“ verwendet wurden.
Für das Nachfolgealbum
„The Blue Notebooks“ (2004) ließ
Richter die Schauspielerin
Tilda Swinton Tagebuchaufzeichnungen von
Franz Kafka lesen. Zwei Jahre später waren es auf
„Songs from Before“ die Texte des japanischen Schriftstellers
Haruki Murakami, vorgetragen von
Robert Wyatt.
„Ich bin von Murakami fasziniert; ich denke, er ist ein wirklich interessanter Autor, er verfügt über eine magische Art, mit sehr gewöhnlichen Dingen umzugehen. Du denkst, du liest über etwas sehr Gewöhnliches, aber unter der Oberfläche geschehen sehr ergreifende und ernsthafte Dinge. Ich bin fasziniert von seiner Fähigkeit, die Natur der Dinge zu thematisieren, ohne direkt die großen Themen zu verarbeiten“, erinnert sich Richter in dem besagten Interview mit cyclicdefrost.com. „Mit ‚Memoryhouse‘ und ‚The Blue Notebooks‘ habe ich sehr perfekte, abgeschlossene Stücke zu kreieren versucht. Bei ‚Songs from Before‘ wollte ich irgendwie etwas Raueres schaffen, ich wollte die Enden etwas mehr hervorscheinen lassen – so denke ich, es ist mehr eine punkige Platte.“
2008 erschien
Richters viertes Album
„24 Postcards in Full Colour“, eine Sammlung von 24 meist nur einminütigen Stücken, die auch als Klingeltöne konzeptioniert worden sind. Dabei sind Stücke entstanden, die von den Musikern
Louisa Fuller (Violine),
Robert Mc Fall (Violine),
Natalia Bonner (Violine),
John Metcalfe (Viola),
Ian Burdge (Cello),
Chris Worsey (Cello),
Sua Lee (Cello),
Preston Reed (Gitarre) und
Max Richter selbst am Piano eingespielt und von Klängen und Geräuschen von Vinyl-Platten und aus dem Radio ergänzt wurden.
Parallel dazu wurde eine Mikro-Website mit 24 Postkartenmotiven kreiert, die jeweils einem Track zugeordnet sind.
„Wenn man darüber nachdenkt, wie wir heutzutage Musik hören, wundere ich mich, warum man Klingeltöne bislang als unangemessen für kreative Musik betrachtet hat. Wer sagt, dass Klingeltöne so schlecht sind? Das ist so, als würde man sagen, LPs oder CDs sind schlecht – es ist nur ein Medium“, erklärt Max. „Weil das Stück eine Sammlung von Tönen ist, bei denen ich keine Kontrolle über die Anordnung habe, schuf ich eine Struktur, die das Ganze durch den Gebrauch des geteilten Materials zusammenhält – wie eine Wolke von Stücken oder eine Handvoll Konfetti oder eine Konstellation von Fragmenten, die so geführt wird, wie du es wünschst.“
Im selben Jahr schrieb
Richter in Zusammenarbeit mit dem Tänzer
Wayne McGregor und dem Künstler
Julian Opie die Musik zum Ballettstück
„Infra“, das im
Royal Opera House in London uraufgeführt wurde und 2010 als Album erschienen ist.
Nach einigen kleineren Filmen, zu denen Richter seit 2006 die Musik komponierte („Soundproof“, „Hoffnung“, „Henry May Long“ und „Frankie Howerd: Rather You Than Me“) feierte er 2008 auch in dieser Disziplin seinen Durchbruch, als er für seinen Score zum israelischen Dokumentarfilm „Waltz With Bashir“ von Ari Folman mit dem Europäischen Filmpreis und der Film selbst mit diversen internationalen Preisen ausgezeichnet worden ist.
Richter verarbeitete in seiner Arbeit zwei bekannte Piano-Motive,
Schuberts D.959 und den „Funeral March“ aus
Chopin Op.35.
„Ich habe diese Fragmente in dem Film verwendet, nachdem ich mit Ari über die Gründe diskutiert hatte, warum er
Schubert im Trailer benutzt hat. Es stellte sich heraus, dass seine Mutter Pianistin war und dass diese Stücke ihm persönlich viel bedeutet haben. Also machte es absolut Sinn, sich auf dieses Material in einigen Szenen zu beziehen“, erzählt
Max Richter im Interview mit
theplaylist.blogspot.de und berichtet seine weitere Herangehensweise an das Projekt. „Ari temptrackte einige Szenen mit teilweise sehr guter Musik, Stücke von
Sigur Ros, Brian Eno etc. So bekam ich durch dieses Material ein gutes Gespür für einen möglichen Weg, aber ich entschied mich, das vorübergehende Zeugs beiseite zu legen und stattdessen einfach ein erstes Set mit Sketchen aus dem Skript zu schreiben. Ich begann damit, das Gefühl zu verscheuchen, das ich durch dieses Material bekommen hatte, und schrieb ‚The Haunted Ocean‘ direkt aufs Papier. Als ich dieses Stück fertig hatte, fiel alles andere an seinen Platz. Ari selbst ist sehr musikalisch, so dass er ein idealer Regisseur zum Zusammenarbeiten war. Es war einfach eine großartige Erfahrung, das Material alle paar Wochen zwischen uns hin- und herzuschlagen, so dass die Bilder und der Score sich parallel entwickeln konnten.“
Seither hat
Max Richter für eine Vielzahl von Filmen die Musik komponiert, zusammen mit
Stéphane Moucha den Score zu
Feo Aladags Drama
„Die Fremde“, der 2010 den Preis der deutschen Filmkritik für die beste Filmmusik erhielt, außerdem für das französische Drama
„Sarahs Schlüssel“ (2010) von
Gilles Paquet-Brenner,
David Mackenzies Thriller
„Perfect Sense“ (2011),
Henry Alex Rubins Drama
„Disconnect“ (2012) und
Ari Folmans neuen Film
„The Congress“ (2013).
Außerdem erschien mit
„Recomposed by Max Richter: Vivaldi’s Four Seasons“ ein Klassiker in neuem Gewand: „Als Kind habe ich mich darin verliebt. Es ist schöne, charmante Musik mit einer großartigen Melodie und wunderschönen Farben. Später, als ich musikalisch gebildeter war und viel Musik gehört hatte, fand ich es schwieriger zu lieben. Wir hören es überall – in der Warteschleife, im Einkaufszentrum, in der Werbung, es ist überall. Für mich bedeuteten die Aufnahme und das Projekt, den Frieden zurückzugewinnen zu versuchen, mich wieder in das Stück zu verlieben“, erklärt
Max Richter auf
npr.org die Hintergründe für seine Neuinterpretation.
Was
Max Richter auszeichnet, ist nicht nur sein klassischer Hintergrund, sondern auch alles an Musik, die der Komponist in jungen Jahren konsumiert hat, Electronica, frühe Dance Music, Punk und Psychedelia. Den Einfluss von zeitgenössischen Komponisten wie
Arvo Pärt, John Tavener, Henryk Górecki und
Michael Nyman verbindet
Richter mit der Verwendung von Samples, Kammermusik, Ambient-Soundscapes, Spoken-Words-Fragmenten und experimenteller Electronica.
„Ich strebe nach der unglaublichen Intensität und Klarheit und verwende das Minimum an Noten, die nötig sind. Es ist definitiv ein Fall von weniger ist mehr, Dinge wirklich zu konzentrieren. In diesem Sinne bin ich ein Minimalist.“
Discographie:
2002 - Memoryhouse
2004 - The Blue Notebooks
2006 - Songs from Before
2008 - 24 Postcards in Full Colour
2010 - Infra
2012 - Recomposed by Max Richter. Vivaldi's Four Seasons
Filmographie:
2003 Geheime Geschichten (Fernsehfilm)
2003 Gender Trouble (Kurzfilm)
2006 A Storm and Some Snow (Kurzfilm)
2006 Soundproof (Fernsehfilm)
2006 Work (Kurzfilm)
2007 Butterfly (Video-Dokumentar-Kurzfilm)
2007 Hoffnung
2008 Frankie Howerd: Rather You Than Me (Fernsehfilm)
2008 Henry May Long
2008 Lost and Found (TV Kurzfilm)
2008 Waltz with Bashir (Dokumentarfilm)
2009 Die wilde Farm (Dokumentarfilm)
2009 La prima linea
2009 Like Father Like Son (Kurzfilm)
2009 Lila, Lila
2009 Penelopa
2010 Die Fremde
2010 My Trip to Al-Qaeda (Dokumentarfilm)
2010 Sarahs Schlüssel
2010 Womb
2011 Gangsters
2011 How to Die in Oregon (Dokumentarfilm)
2011 Impardonnables
2011 Nach der Stille (Dokumentarfilm)
2011 Perfect Sense
2011 More Than Meets the Eye (Kurzfilm)
2012 Anton tut ryadom (Dokumentarfilm)
2012 Baek Ya
2012 Das Mädchen Wadjda
2012 Lore
2012 Spanien
2012 Disconnect
2012 The Gift (Kurzfilm)
2013 A Matter of Time (Kurzfilm)
2013 Die Nonne
2013 Lunchbox
2013 Miserere
2013 The Congress
2013 The Last Days on Mars
2013 Prison Terminal: The Last Days of Private Jack Hall (Dokumentar-Kurzfilm)
Playlist:
1
Max Richter - Wadjda's Journey (
Wadjda) - 02:39
2
Max Richter - Europe, After The Rain (
Memoryhouse) - 06:14
3
Max Richter - On The Nature Of Daylight (
The Blue Notebooks) - 06:12
4
Max Richter - Sarajewo (
Memoryhouse) - 04:03
5
Max Richter - Trees (
The Blue Notebooks) - 07:53
6
The Future Sound Of London - Elysian Fields (
The Isness) - 04:50
7
The Future Sound Of London - Max (
Dead Cities) - 02:50
8
The Future Sound Of London - Divinity (
The Isness) - 07:28
9
Max Richter - On The Road To Alabama, Pt. 1 (
The Congress) - 04:14
10
Max Richter - Haunted Ocean 4 (
Waltz with Bashir) - 03:45
11
Max Richter - Running (
Disconnect) - 07:04
12
Max Richter - A Sudden Manhattan Of The Mind (
24 Postcards In Full Colour) - 02:51
13
Max Richter - Beginning And Ending (
The Congress) - 04:53
14
Max Richter - Infra 5 (
Infra) - 05:17
15
Max Richter - When She Came Back (
Sarah's Key) - 03:35
16
Max Richter - Die Wilde Farm Title (
Die wilde Farm) - 03:59
17
Max Richter - Luminous (
Perfect Sense) - 05:06
18
Max Richter - Summa (
La Marque des anges - Miserere) - 07:10
19
Max Richter - Flowers For Yulia (
Songs From Before) - 06:51
20
Max Richter - Summer 3 (
Recomposed by Max Richter: Vivaldi - The Four Seasons) - 05:02
21
Max Richter - Dinner And The Ship Of Dreams (
Henry May Long) - 05:27
22
Max Richter - Confrontation (
Disconnect) - 11:01
SOUNDTRACK ADVENTURES #122 with MAX RICHTER @ Radio ZuSa by Dirk Hoffmann on Mixcloud